ZIVILER UNGEHORSAM

»Der Schwarze Block ist gefährlich«

Herr Gysi, gehört Zorn zu Ihrem politischen Gefühlshaushalt?

Zornig werde ich eigentlich sehr selten. Aber fast zornig werde ich bei Fremdenfeindlichkeit, Rassismus, Antisemitismus, beim gefährlichen Spiel mit dem Frieden und bei Arroganz von Besser- und Bestverdienenden gegenüber den weniger Verdienenden.

Der Zorn wütete in der Geschichte, er zerschlug, er lehrte das Fürchten; er gab sich selbst, seit Homer mit ihm die »Ilias« eröffnete, schillernde Namen. Der vielleicht schillerndste Name: Revolution. »Aber was letztlich zur Welt kam, war nicht der neue Gott, sondern eine kriminelle Fehlgeburt; zu allem Überfluss erweist sich das große Geld als revolutionärer denn alle, die glaubten, sie besäßen den Schlüssel zu dessen Kritik.« Das schrieb der Philosoph Peter Sloterdijk.

Bisschen zu viel Fabulierkunst an unserem Wurststand … Lassen Sie es mich einfacher sagen: Man muss das Dumme dumm nennen und das Gefährliche gefährlich und das Böse böse. Man muss es benennen, weil man sonst schon vorher aufgegeben hat.

Das nennt man Klassenkampf?

Auch.

Was hat sich in den letzten Jahren in unserer Gesellschaft am stärksten verändert?

Dass die Menschen immer stärker das politische Establishment ablehnen, das politische Establishment es aber kaum merkt und so weitermacht wie bisher. Man muss immer wieder daran erinnern: Andrea Nahles, als sie noch SPD-Chefin war, trug doch tatsächlich den absurden Vorschlag mit, den untragbar gewordenen Chef des Verfassungsschutzes durch Beförderung loszuwerden. Und Kanzlerin Merkel fragte in einer öffentlichen Runde eine Putzfrau, die ihre mageren Renten-, also Altersaussichten beklagte, ob sie denn nicht privat vorgesorgt hätte. Ich bitte Sie! Wie werden denn noch Realitäten zur Kenntnis genommen?

Und irgendwann wundern sie sich, dass einer von außen gewählt wird, irgendein Trump.

Ich will aber keinen Trump! Eine Roulettekugel war im Vergleich zu diesem Präsidenten exakter berechenbar.

Die Demokratie und ihr parlamentarischer Betrieb haben an Glaubwürdigkeit verloren.

Ja.

Gewinnt unter diesen Bedingungen alles Außerparlamentarische nicht an Gewicht, bis hin zum zivilen Ungehorsam?

Organisationen, Bewegungen bilden sich letztlich auch zu dem Zweck, selbst Lobbyarbeit zu betreiben. Das muss man ja nicht nur negativ sehen. Wenn eben zum Beispiel die Umweltfrage stark vernachlässigt ist im gesellschaftlichen Bewusstsein, in der Öffentlichkeit, erst recht in der Politik, dann bilden sich Organisationen, Kollektive, die versuchen, mit auffälligen Aktionen die Umweltproblematik wieder ins Bewusstsein zu rücken – damit werden sie zu einer Lobby für die Umwelt. Und je stärker sie öffentlich wahrgenommen werden, desto stärker werden sie auch von der Politik wahrgenommen, und desto größer ist die Chance, dass sie das eine oder andere auch erreichen und durchsetzen.

Außerparlamentarische Arbeit schön und gut. Wer demonstriert, endet an den Gittern der Bannmeile.

Stimmt. Das ist ein Problem. Gewerkschaften, Kirchen, Arbeitgeberverbände – die sitzen ständig bei den Herrschenden und betreiben dort ihre Lobbyarbeit. Aber diejenigen, die das nicht können und darauf angewiesen sind, es mittels einer Kundgebung zu tun, die schickt man aus der Bannmeile heraus und sagt: Das könnt ihr sonst wo machen, aber bitte nicht in unserer Nähe, das sei unzulässig. Das fand ich schon immer absurd, in Anbetracht der Realitäten in der politischen Landschaft. Andererseits darf die Erstürmung eines Parlaments – wie in den USA geschehen – natürlich auch nicht zugelassen werden.

Veränderungen setzen leider zu oft eine Art Skandal oder Erschütterung voraus.

Leider ja.

Und leider geistert der Zorn wie verloren durch die Zeit. Er ist der verlassene, verstoßene Partner jener Träume, die an den Schlaf der Welt zu rühren gedachten. In Schulen, in denen fürs Leben gelernt werden soll, läuft der Zorn nur noch Amok – wider diese scheinbar endgültige Pädagogik: Fürs Leben lernt man nur, was man gegen das Leben lernt.

Das klingt wie einstudierter Zynismus.

So wie Ihre Reden manchmal etwas altbacken klingen.

Warum so barsch? Habe ich Sie beleidigt?

Nein, natürlich nicht.

Aber?

Radikalität ist ein Grundproblem linkspolitischer Existenz.

Aber?

Kein aber.

Links sein bedeutet rebellisch sein.

Nun doch ein »aber«. Rebellion ist ein Begriff geworden, bei dem man misstrauisch wird.

Wieso?

Rebellion, Radikalität, das klingt natürlich besser als Bürokratie. Aber wo findet das noch statt? Bürokratie findet sehr wohl statt. Ist aber elend langweilig – und das Vorherrschende.

Die Frage lautet, wie man Dinge radikal ändert, ohne immer gleich die Grundfeste zu zerstören. Es ist eine Prüfung für die Demokratie: Was wagt sie, welche Risiken geht sie ein, ohne sich zu gefährden.

Radikal bedeutet nicht automatisch: extremistisch?

Nein, aber es bedeutet durchaus, an Wurzeln zu gehen, wie Marx es ausdrückt, an die Grenzen des Bestehenden – um sie zu sprengen.

Wie nun kann unter Demokraten ein politisches Empfinden entwickelt und bestärkt werden, dass das gegenwärtig Bestehende nun wahrlich nicht das Beste, Endgültige ist?

Es gehört Mut dazu, sehr weit zu gehen, ohne die Gefahr heraufzubeschwören, zu weit zu gehen. Demokratie ist nicht das Ende der Radikalität. Der Radikalität des Denkens nämlich. Wir denken oft zu brav. Wir nutzen den Parlamentarismus viel zu wenig für die Pflege der originellen Idee.

Wir sind zu sehr Getriebene, immer kurz vor Ladenschluss.

Der Betriebsgeist der Dinge fesselt uns.

Verstehen Sie den sogenannten Schwarzen Block, der nichts davon hält, mit roten Pappnasen an schwer gepanzerten Polizeikordons entlangzulaufen?

Diejenigen, die zum Schwarzen Block gehen, sind meist ziemlich radikalisiert, und einige von ihnen sind auch gewalttätig. Das ist schon deshalb gefährlich, weil die Gegengewalt meist größer ist.

Ist Ungehorsam, also Störung der Ordnung – angesichts der Sturheit der Herrschenden – nicht wirksamer als eine Lichterkette?

Da bin ich mir nicht sicher. Wenn es eine sehr, sehr lange Lichterkette der Menschen gibt, kann das Politikerinnen und Politiker schon deshalb nachdenklich machen, weil es sich ja um friedliche Bürgerinnen und Bürger handelt, die da etwas erreichen wollen. Wenn allerdings gezündelt wird, werden Regierende auf die kriminelle Seite hinweisen und noch betonen, dass sie sich nicht nach »Kriminellen« richten werden.

Und damit lenken sie vom Problem ab.

Ja.

Wie weit darf ziviler Ungehorsam gehen?

Es hängt von der Situation und dem Anliegen ab. Je bedeutender der Konflikt ist, der angesprochen werden soll, desto weiter darf auch der zivile Ungehorsam gehen.

Geben Sie zu: Die Deutschen sind langweilige Demonstranten.

Selbstverständlich gebe ich das so absolut nicht zu, schon deshalb nicht, weil ich ja selbst auch zu Kundgebungen und Demonstrationen aufrufe und gehe. Aber ich räume ein, dass zum Beispiel Französinnen und Franzosen mehr Widerstandsgeist haben als wir.

Wann, wobei haben Sie – im politischen Einsatz – je die Fassung verloren?

Habe ich das? Vielleicht habe ich es vergessen oder verdrängt. Allerdings weiß ich, dass ich 2005 bei der Ablehnung von Lothar Bisky als Vizepräsident des Deutschen Bundestages ungeheuer wütend war. Als fassungslos würde ich mich in diesem Zusammenhang allerdings nicht bezeichnen. Im Gegenteil: Ich hatte zwar einen zornigen, aber klaren Kopf, als mir Ulrich Wickert in den »Tagesthemen« sagte, naja, vielleicht gebe es in Lothar Biskys Biographie eben doch ein paar Punkte, die zur Ablehnung geführt hätten. Ja, erwiderte ich, das stimmt, aber man könne da nichts mehr machen. Leider sei Bisky nicht, wie Kiesinger, in der NSDAP gewesen, und leider habe er im Hitlerstaat auch keine höhere Funktion in einem Reichsministerium gehabt, um nun in der Bundesrepublik höchst demokratisch und sofort gewählt zu werden.

Ihr jüngster Wutanfall?

Wut ist privat. Geht Sie also nichts an.