ELTERN

»Prüfungen, Zerreißproben«

Herr Gysi, waren die Gysis eine kultivierte Familie?

Na klar. Klingt das jetzt überheblich?

Stellen Sie’s richtig.

Da gibt es nichts richtigzustellen. Meine Eltern empfand ich als Weltbürger. Sie beherrschten Fremdsprachen, kannten viele Länder, und sie waren Büchermenschen.

Viel Streit?

In unserer Familie gab es keine falsche Harmonie. Man schaute einander in die Augen und legte los. Bestimmte Gepflogenheiten, die vielleicht mit Stil zu tun hatten, die waren bei uns überhaupt kein Gegensatz zur Direktheit, mit der wir miteinander umgingen.

Was überhaupt ist Stil?

Der kommt von innen, nicht von Äußerlichkeiten.

Worüber wurde daheim gestritten?

Politik, Kunst und Kultur, menschliche Beziehungen. Meine Mutter war wählerischer mit ihren Freundschaften, mein Vater hatte eine Grundfreundlichkeit gegenüber jedem. Er war verspielter.

Kindheit schmiegt sich an, Jugend lehnt sich auf. Wie war das bei Ihnen?

Der Abstand zu den eigenen Eltern gehört ab einem bestimmten Punkt zum Erwachsenwerden. Aber zum Beispiel mit dem Systemwechsel 1989/90 ist bei meiner Schwester und mir das Verhältnis zu unseren Eltern in keine Zerreißprobe geraten. In Prüfungen geriet es oft, ja, aber nicht in Zerreißproben.

Der Theologe Paul Oestreicher hat über Ihren Vater gesagt: »Klaus Gysi konnte gut mit Klaus Gysi leben.«

Es ist ein großes Glück, wenn ein Mensch einverstanden ist mit sich selbst. Mein Vater war im guten Sinne ein Schlawiner.

Sind Sie eigentlich einverstanden mit sich?

Diese Frage jetzt? Ich denke, das hier soll ein Gespräch über meine Eltern sein.

Kein Ausweichen, bitte! Sind Sie einverstanden mit sich?

Im Großen und Ganzen ja.

Sind Sie auch ein Schlawiner?

Im Großen und Ganzen jein.

Sie sind ein Scheidungskind.

Meine Mutter hätte ganz gerne die Trennung rückgängig gemacht und hoffte dabei auf uns Kinder. Ich erinnere mich noch, wie wir mit ihr im Kino waren. Das war vielleicht ein Jahr nach der Scheidung, 1959. Es lief ein italienischer Film, »Ferien auf Ischia«. Da hat ein kleines Mädchen organisiert, dass seine Eltern wieder zusammenkommen. Und da sagte unsere Mutter hinterher zu uns: »So etwas erwarte ich auch von euch, ein bisschen mehr von dem Mädchen könntet ihr schon haben.«

Wie war die Trennung verlaufen?

Eigentlich, etwas überspitzt gesagt, nahm mein Vater nur die Zahnbürste mit. Alles andere blieb, vor allem eben die Verbundenheit. Trotz der Scheidung, die eine traurige Sache war, blieb etwas Haltbares zwischen unseren Eltern. Es gab eine große Hochachtung voreinander. Da war eine Tiefe der Beziehung entstanden, die sie nie aufgegeben haben.

Und Sie, die Kinder?

Als sich unsere Eltern scheiden ließen, war Gabriele zwölf, ich zehn. Bis dahin hatte es natürlich immer gemeinsame Urlaube gegeben, zum Beispiel auf Hiddensee, das änderte sich fortan. Kinder entwickeln in schwierigen Situationen ihren eigenen Pragmatismus. Wir wussten, dass unser Vater, wenn wir mit ihm zusammen waren, sich nun immer wieder was ausdenken musste. Das haben wir natürlich genossen: Friedrichstadt-Palast, Zirkus, Kino, Restaurants …

Bestimmt noble Restaurants.

Ja, zum Beispiel das Ganymed am Schiffbauerdamm. Wäre mein Vater bei uns geblieben, hätte er mit uns wahrscheinlich weit weniger unternommen. So gesehen, hat die Scheidung das Leben von uns Kindern auch bereichert. Wie es meist im Leben ist: Etwas Negatives hat auch eine kleine positive Seite und umgekehrt.

Nichts ist ohne sein Gegenteil wahr, sagt Martin Walser.

Ja, alles hat eine Ausnahme, alles hat Kehrseiten, und die sind nicht nur dunkel und trübe.

Warum trennten sich Ihre Eltern?

Es ist ein Problem, wenn Stärke auf Stärke trifft. Als mein Vater in den fünfziger Jahren wegen seiner Westemigration Schwierigkeiten mit der Partei bekam und für eine Weile arbeitslos wurde, meine Mutter jedoch nicht, fühlte er sich zurückgesetzt. Das erzeugte wohl die ersten Risse.

Wie ändert sich mit den Jahren die Erinnerung an die Eltern?

Das ist interessant. Man denkt nicht mehr nur an die letzten Lebensphasen, die ja mit Bedrückung und Sorge, mit Krankheit und Pflege und zunehmender Hinfälligkeit zu tun haben. Längst denke ich wieder an die kraftvollen Jahre meiner Eltern. Ihr Bild in meinem Gedächtnis hat sich geändert. Und noch etwas: Je älter man wird und sich an die Eltern erinnert, desto mehr denkt man die eigene Vergänglichkeit mit. Weil man mit der Zeit selber in das Alter kommt, in dem die Abschiede zunehmen.

Das beunruhigt?

Ich denke eher an den beruhigenden Aspekt. Man wird im Nachhinein verständnisvoller, versteht die Eltern besser und ärgert sich über manche eigene Ungehörigkeit. Ich bilde mir ein (lacht): So, wie ich an meine Eltern denke, so werden meine Kinder über mich denken. Das macht Hoffnung. Das tut gut, auch wenn ich das selber ja nicht mitbekommen werde (lacht).

Hatten Ihre Eltern mit dem Ende der DDR das Gefühl, ihr politischer Einsatz, ihr politisches Leben sei letztlich sinnlos gewesen?

Wenn ein System scheitert, darf nicht automatisch geschlussfolgert werden, auch jedes Leben sei gescheitert, das in diesem System stattfand.

Es ist ja nach wie vor die Frage nach dem Knacks, unter dem diese Generation des unerbittlichen Kampfes auf Leben und Tod litt und der das System letztlich in die Stagnation trieb.

Als ihr Leben in der DDR begann, sagten unsere Eltern mit Recht, das Schlimmste hätten sie schon hinter sich. Viele Menschen dieser Generation haben wahrscheinlich gedacht: Solange eine Situation nicht mehr lebensgefährlich ist, du nicht mehr geschlagen wirst, du keinen Hunger hast, nicht erfrierst, nicht verfolgt wirst, so lange lässt sich das Leben – endlich! – genießen. Ertragen sowieso.

Die Hoffnung dieser Generation war: Die Jüngeren begreifen, womöglich ohne große Mühe, was sie an diesem Staat haben. Ein großer Irrtum.

Honecker dachte, die Menschen wachen morgens auf und denken: sicherer Arbeitsplatz, billiges Brot, sehr günstige Mieten! Und Kohl dachte, speziell die Ostdeutschen wachen morgens auf und jubeln: Reisefreiheit, Bild-Zeitung, endlich richtige Autos! Aber die Menschen, wo auch immer, wachen morgens ganz anders auf: Mist, wieder ein langer Arbeitstag, die Kinder krank, und das Wetter kannste auch vergessen!

Heiner Müller sagte: Wenn die Ostdeutschen alle ihren Mercedes oder VW haben, wollen sie auch ihren Erich Honecker wiederhaben. … Herr Gysi, Sie lachen.

Wahrheit und Witz passen gut zusammen. Diese Dialektik haben auch meine Eltern ganz gut gelebt.