MUT, ANGST

»Wäre ich kriminell geworden?«

Herr Gysi, waren Sie mal in Lebensgefahr?

Jeder Mensch ist jeden Tag in Lebensgefahr. Zum Beispiel kann es einen tödlichen Unfall geben. Aber einmal war ich tatsächlich in einer besonderen Gefahr.

Wann, wieso?

Als Junge. Ich fiel auf der Straße hin, lag quer über den Schienen, und es kam die Straßenbahn. Ich hörte ein Quietschen, zum Glück hat mich jemand von den Gleisen gezogen.

Welches war Ihre erste Mutprobe?

Weiß ich nicht mehr.

Und Ihre größte Mutprobe?

Weiß ich auch nicht mehr. Vielleicht mein erster Alleinflug, um den Pilotenschein zu erwerben. Das war zu meiner Zeit als Parteivorsitzender.

Sie sind auch mit dem Fallschirm abgesprungen.

Das war vorher. Angst hatte ich da überhaupt nicht, weil ich ja an einen Könner »angeschmiedet« war.

Angeschmiedet?

Na ja, angebunden. 1990 hatte sich eine Sportvereinigung an mich gewandt, es ging um den ersten Tandemsprung in der DDR mit einem Fallschirm, das war bis dahin untersagt. Ich sagte zu.

Bedenkenlos?

Ich bin bei so etwas kaum fähig, im Voraus über Gefahren nachzudenken. Ich erkenne in dem, was mich lockt, niemals gleich das, was mich abschrecken müsste. Der erfahrene Fallschirmspringer erklärte mir, wie ich mich verhalten solle, und damit war’s in Ordnung. Das ganze Zeug umschnallen, einsteigen, aufsteigen mit der Maschine, ich blieb ungerührt. Erst als er weit oben die Klappe des Flugzeugs öffnete und mich der Luftzug sehr heftig anwehte, beschlich mich ein leichtes Unwohlsein.

War Ihr Flugpartner zufrieden mit Ihnen?

Er sagte hinterher, ich sei – gegen die Norm – absolut unverkrampft gewesen, ich hätte keinen starren Hals gehabt, sondern mich im freien Fall umgesehen. Daran habe er gemerkt, dass ich keine Angst hatte. Das konnte ich ihm erklären: Ich habe gedacht, wenn schon mein letztes Stündlein schlägt, dann gucke ich mir alles noch einmal an.

Bezeichnen Sie sich als mutigen Menschen?

Eher nicht, ich bin nur ein Zweckoptimist, ich besitze einen Schuss Naivität und glaube deshalb nicht, dass mir etwas passiert. Das unterscheidet sich aber von Mut.

Erinnern Sie sich bitte an einen Moment allergrößter Angst.

Wozu soll ich mich an einen solchen Moment erinnern? Da bekäme ich ja gleich wieder Angst. Erschüttert war ich, als ein Neonazi auf einen Buchhändler in meinem Berliner Wahlkreisbüro schoss. Der Täter wurde zur Verantwortung gezogen. Solche Ereignisse verdeutlichen auf schreckliche Weise die Dünnhäutigkeit des Lebens und die gewachsene Unberechenbarkeit beim Zusammenprall unterschiedlicher politischer und weltanschaulicher Sichten.

Körperliche Kraft – war die Ihnen im Leben je wichtig?

Na klar, vor allen Dingen als Jugendlicher. Ich wollte ja gegenüber den Mädchen auch diesbezüglich etwas darstellen.

Sie waren als junger Mensch Judoka – wieso musste es ein Kampfsport sein?

Ich wollte einfach lernen, auch bei einer Auseinandersetzung mit einem Stärkeren gut standhalten zu können. Aber generell sind körperliche Auseinandersetzungen nicht mein Ding. Wäre ich geeignet und daran interessiert, Konflikte auch auf diese Weise zu lösen, hätte ich einen anderen Beruf ergriffen.

Was sagen Sie zum Satz, der Mensch benötige eine gewisse Grundhärte im Leben?

Von welcher Welt, von welcher Gesellschaft reden Sie?

Von unserer.

Die Notwendigkeit einer gewissen Grundhärte ergibt sich daraus, dass Menschen ohne diese Härte stets mehr leiden als andere. Sie sind bestimmten Situationen nicht gewachsen. Härte heißt auch Abhärtung. Aber man kann sich das nicht aussuchen. Der eine hat eine gewisse Grundhärte, der andere nicht. Es gibt Hartgesottene und Weichgesottene.

Das klingt nach allgemeiner menschlicher Natur.

Ich kämpfe entschieden gegen eine Gesellschaft, die die Grundhärte zur sozialen Tugend für alle erklärt. Meine Sozialisation hat mich davor bewahrt, Grundhärte ausbilden zu müssen. Wer weiß: Hätte die mich kriminell werden lassen? Deshalb kämpfe ich leidenschaftlich für die Abschaffung sozialer Diskriminierungen und Barrieren.

Gleichheit für alle?

Nein, das Ziel ist eine Gesellschaft, die Armut ebenso ausschließt wie jenen grenzenlosen Reichtum, der zwingend zur Armut führt.

Nun werden die Menschen in höchst unterschiedliche Verhältnisse hineingeboren.

In einem Staat und einer Gesellschaft ist von großer Bedeutung, wie ein Ausgleich gefunden wird – zwischen denen, die es weit schwerer haben und denen, die es leichter haben. Es gibt Strukturen, die das in vielfacher Hinsicht erleichtern, und solche, die es in jeder Hinsicht erschweren. Die Chancengleichheit erfordert Gleichstellung, sie gilt für alle Menschen, unabhängig von ihrer Nationalität, Religion oder Religionslosigkeit, unabhängig von ihrem Geschlecht, ihrer psychischen oder physischen Verfasstheit, ihrer Hautfarbe und sexuellen Orientierung. Chancengleichheit muss es vor allem beim Zugang zu Bildung, Ausbildung, Kunst, Kultur und Sport geben.

Deshalb sind Sie links.

Genau. Und dann gab und gibt es für mich noch einen ganz zentralen Grund, links zu sein. Das ist der Internationalismus.

Das scheint im Moment schwer vermittelbar zu sein.

Dadurch, dass er nicht sofort und leicht vermittelbar ist, wird der Internationalismus nicht falsch. Das ist ja gerade der Kern politischer Kommunikation: die eigenen Ideen in die Öffentlichkeit zu tragen, auch bei Menschen, die diesen Ideen kritisch gegenüberstehen.

Alles, was Sie als Arbeit und Aufgabe der Linken bezeichnen, kann man unter ein Fazit stellen: Es ist sehr mühselig.

Ich bin nicht Linker geworden, um es einfach und bequem zu haben.

Jeder ist seines Glückes Schmied.

Aber der Zugang zur Schmiede darf kein Privileg für Leute sein, die aufgrund ihrer Besitz- und Geldverhältnisse ohnehin schon viele Eisen im Feuer haben.

Mut ragt heraus. Anpassung versteckt sich. Haben Sie Verständnis für Anpassung?

Selbstverständlich. Die meisten Menschen tragen Verantwortung für Kinder, für eine Partnerin oder einen Partner, wollen im Leben zurechtkommen, nicht im Gefängnis enden, keine Zeit mit Streit und Konflikt vertrödeln. Insofern verstehe ich Anpassung. Diejenigen, die sich nicht anpassen, sind stets Wenige, aber jede Gesellschaft braucht sie.

Das Chamäleon passt sich am perfektesten an, es ist darin so etwas wie unser Meister.

Vorsicht mit solchen Vergleichen. Dass man nicht weglaufen soll, darf man nicht den Rehen auf der Autobahn erzählen. Und auch diese Wahrheit ist bekannt: Das Chamäleon wechselt nur die Farbe, nicht den Charakter.

Drei Gewalttätige in der U‑Bahn greifen jemanden an. Was tun Sie?

Das weiß ich nicht, da ich mich noch nie in einer solchen Situation befand. Ich könnte Ihnen also nur sagen, was ich hoffe, in einer solchen Situation zu tun. Das aber haben Sie mich nicht gefragt.

Gab es eine Situation, in der Sie so feige waren, dass es Sie noch heute bewegt?

Selbst wenn es diesen Moment gegeben hätte, erzählte ich es Ihnen bestimmt nicht. Außerdem hätte ich auch die Situation längst vergessen, weil ich mich selbst nicht gern daran erinnerte. Ich bin schnell im Vergessen, das ist ein Fluch. Ich bin schnell im Vergessen, das ist ein Segen. Übrigens: Etwas sehr Schönes zum Thema …

Mut oder Angst?

Mut. Etwas sehr Schönes zum Thema sagte DDR-Kosmonaut Sigmund Jähn. Als erster Deutscher im All 1978 wurde er nach seiner Landung in Kasachstan von Journalisten bestürmt und mit Superlativen über seinen Mut überhäuft. Er hörte sich das alles geduldig an. Und dann antwortete er. »Mut? Ach, wissen Sie, die Sache ist doch ganz einfach: Die Rakete nimmt Sie mit, ob Sie nun besonders mutig sind oder nicht.« Immerhin: Reingesetzt hat er sich. Es gibt eben Berufe, Leidenschaften, Sportarten, die auch deshalb eine besondere Besessenheit abfordern, weil sie sich zwangsläufig in der Nähe des Todes erfüllen.

Woran denken Sie da, Sie klingen plötzlich so nachdenklich.

Der Fallschirmspringer vom Tandemsprung, von dem ich Ihnen erzählte, ein anerkannter Routinier, der mir im wahren Sinn des Wortes einen neuen Horizont eröffnete, er ist gar nicht so lange danach bei einem Fallschirmsprung tödlich verunglückt.