KRIMINALITÄT

»Gier macht einsam«

Herr Gysi, sind Sie in Ihrem Leben schon mal kriminell geworden?

Na ja, auf jeden Fall hat mich ein Gericht beim Hungerstreik der PDS-Führung 1994 – wir haben darüber gesprochen – zusammen mit anderen wegen Landfriedensbruch verurteilt.

Haben Sie kriminelle Energie?

Hat wohl jeder. Es ist so vieles verborgen in uns. Aber die Energie, besagter krimineller Energie freien Lauf zu lassen, hatte ich nie.

Sie sind also materiell nicht verführbar.

Es gibt nichts, von dem ich sage, das muss ich noch unbedingt in meinem Leben haben, und dafür überspringe ich auch Grenzen. Wenn ich in Urlaub fahren will, kann ich mir das leisten, das muss ich mir als Politiker nicht von irgendwelchen Unternehmen finanzieren lassen.

Macht Sie das hart in der Beurteilung anderer?

Eher sanfter. Andere kommen vielleicht aus einer völlig anderen sozialen Situation als ich – das kann Einfluss haben auf Verlockungen, denen man ausgesetzt ist.

Da spricht der Verteidiger.

Ja, möglich.

Schon mal vom perfekten Mord geträumt?

Selbstverständlich nicht.

Sehen Sie gern Kriminalfilme?

Ich sehe Kriminalfilme gern. Sie animieren mich aber nicht zu Straftaten, eher zum Gegenteil, zu einem größeren Gefühl für Gerechtigkeit. Wenn ich Krimis sehe, erwarte ich spannende und unterhaltsame Charaktere, auf allen Seiten, und ich erwarte einen Fall, den zu lösen äußerst kompliziert ist.

Welchen Krimi mochten Sie besonders gern?

Früher mochte ich Edgar Wallace, vor allem aber imponierte mir der Film »Zeugin der Anklage« mit Marlene Dietrich und Charles Laughton.

Waren Sie schon mal Opfer einer Straftat?

Kaum. Beleidigungen zähle ich nicht.

Gibt es etwas, das Sie bereuen?

Ja, aber das erzähle ich Ihnen nicht.

Gibt es einen Verbrecher (in der Kunst!), den Sie bewundern?

In den meisten Opern zum Beispiel gibt es schwere Kriminalfälle. Aber wenn die Täter ausgezeichnet singen, mag ich sie schon deshalb.

In welcher Hinsicht haben Sie Schuldbewusstsein?

Mein Schuldbewusstsein hat mit Kriminalität nichts zu tun.

Leben heißt: schuldig werden.

Irgendetwas macht man immer falsch. Wenn ich an Schuldbewusstsein denke, geht es vor allem um die Vernachlässigung von Freundschaft, um den Mangel an Zeit für Angehörige. Das kann belasten.

Hat Strafe Sinn?

Es lässt sich nur schwer einschätzen, wie viel Kriminalität wir hätten, wenn es keine Strafen gäbe. Ich glaube schon, dass die Androhung von Strafe Kriminalität mindert. Es gibt aber auch Situationen, in denen es für den Täter auf die angedrohte Strafe überhaupt nicht ankommt, weil er sich zum Beispiel zu einer Tötung in extrem angespannter Situation entschließt, ohne in dem Moment über eine Strafe nachzudenken.

Haben Gefängnisse Zukunft?

Vielleicht entwickeln wir irgendwann andere Methoden, um bestimmte Verbrecherinnen und Verbrecher unterzubringen und die Bevölkerung vor ihnen zu schützen. Da kann vieles sinnvoller gestaltet werden als heute. Es muss ja darum gehen, die Betreffenden von einer bestimmten Kriminalitätsneigung abzubringen. Man braucht Medizin, Psychologie, Pädagogik und vieles andere. Der Schutz der Bevölkerung darf allerdings auch nicht vernachlässigt werden. Eine gewisse Verwahrung ist bei bestimmten Kriminellen also weiterhin erforderlich.

Waren Sie selber schon mal im Gefängnis?

Ja, während des Studiums, bei einem Praktikum, ich musste bei der Kriminalpolizei in Königs Wusterhausen hospitieren. Ein Leutnant fuhr mit mir zu einer Untersuchung auf ein Dorf. Unglaublich: Danach wurde in der Kneipe mit Leuten aus dem Ort mächtig gesoffen. Ich blieb natürlich nüchtern, denn zurück musste ich den »Wartburg« steuern. Es war inzwischen Nacht. Keine S‑Bahn fuhr mehr nach Berlin. Im Polizeirevier übernachtete ich notgedrungen in einer Zelle.

War das erlaubt?

Natürlich nicht. Der Wächter machte genau darauf aufmerksam. Der Leutnant fuhr ihn an: »Dann müssen wir beide eben schweigen!« Wie ein Luchs passte ich auf, dass die Zelle nicht abgeschlossen wurde. Am nächsten Morgen der erste Augenaufschlag: Ich sah die Gitter und erschrak.

Und das Frühstück?

Ich frühstückte gemeinsam mit einem Festgenommenen. Eine Scheibe dunkles Brot mit Marmelade, ohne Butter. Dazu gab es eine Tasse Muckefuck, eine Art Ersatzkaffee, der nach wenig Kaffee und nach viel Ersatz schmeckte.