Kapitel 6
Cole
Cole drehte den Schlüssel im Schloss, hob die Kiste hoch und schubste die Tür mit der Schulter auf. Nach ein paar Schritten blieb er stehen und stutzte. War er in der richtigen Bar? Eindeutig standen seine Möbel hier, allerdings wirkten sie viel heller und freundlicher, der Boden glänzte und die Staubflusen, die ihn sonst begrüßten, fehlten. Der Blick aus dem Fenster unterschied sich ebenfalls deutlich von dem von vor zwei Tagen, der Grauschleier war weg und Cole hatte einen glasklaren Blick auf seinen metallicblauen Pick-up Truck, der vor der Bar auf dem Parkplatz stand. Es war schon lange überfällig gewesen, die Bar gründlich zu putzen, doch wer hatte diese undankbare Aufgabe übernommen? Es konnte nur Delilah gewesen sein, denn seine anderen Mitarbeiter kannte Cole gut genug, um zu wissen, dass keiner von ihnen auf diese Idee gekommen wäre. Anerkennend blickte er sich um. Sie hatte ganze Arbeit geleistet, seine heruntergekommene Biker Bar wäre an diesem Abend auch die passende Umgebung für fine dining . Grinsend überlegte Cole, was Glen wohl dazu sagen würde, wenn er statt fettiger Pommes und Burger, Filet Mignon servieren sollte.
Gut gelaunt pfiff er die Melodie von Ghost Riders in the Sky von Johnny Cash, während er die Einkäufe einräumte und die Kaffeemaschine einschaltete. Er spülte die Schläuche durch und bereitete sich dann einen Espresso zu. Nachdenklich nippte er an der tiefschwarzen Flüssigkeit. Ganz zufrieden war er immer noch nicht. Vielleicht sollte er doch noch eine kleine Veränderung am Mahlwerk vornehmen. Er öffnete die Maschine und beugte sich über die Schrauben. Als er sich wieder umdrehte, stand Delilah im Raum. „Hi“, begrüßte er sie.
„Ich hoffe, dass war in Ordnung.“ Mit einer fahrigen Handbewegung zeigte sie durch den auf Hochglanz polierten Raum.
„Klar, das war dringend nötig. Danke! Du muss mir noch sagen, wie viele Stunden du gebraucht hast, damit ich dich dafür bezahlen kann.“
„Nein, auf keinen Fall.“
„Warum denn nicht?“
„Du hast mich nicht darum gebeten, das war mein Privatvergnügen.“
Cole zuckte mit den Schultern. „Seltsames Hobby, aber wenn du meinst. Möchtest du zumindest einen Kaffee oder einen Cappuccino?“
Zaghaft lächelte sie. „Einen Cappuccino nehme ich gerne.“
Mit der flachen Hand klopfte er auf das Holz des Tresens, das sich ausnahmsweise nicht klebrig anfühlte. „Setz dich zu mir.“ Er bereitete das Getränk zu, kramte nach der Packung Schokoladenkekse, die in einer Schublade lag und stellte beides vor Delilah ab, die auf einem Barhocker Platz genommen und ihre langen Beine übereinandergeschlagen hatte. Es verlangte Cole einiges an Selbstbeherrschung ab, den Blick von diesen wohlgeformten Accessoires abzuwenden. Wie sie sich wohl anfühlen würden? Weich oder doch etwas fester? Cole tippte darauf, dass die schlanken, sehnigen Muskelfasern unter der hellen Haut nicht so nachgiebig sein würden. Zu gern würde er seine Vermutung überprüfen, doch das stand ihm als Delilahs Arbeitgeber wohl kaum zu, zumal sie vor Berührungen zurückzuschrecken schien. „Und wie war dein Wochenende? Hast du noch etwas unternommen, außer das Liberty Roadhouse zu sanieren?“
„Nicht wirklich.“ Sie trank einen Schluck und Coles Blick hing an ihren schön geschwungenen Lippen, die sie mit einem roséfarbenen Lippenstift betont hatte. Wetten mit sich selbst musste Cole nicht abschließen, um sicher zu sein, dass diese Lippen weich sein würden, eine zarte Versuchung, die er nur zu gern mit seinen eigenen kosten würde. Er straffte die Schultern. Er musste sich zusammenreißen, sonst fing er noch an, auf den Tresen zu sabbern, wie die Bulldogge seines Onkels.
„Und wie war dein Wochenende?“, fragte Delilah und stellte die Tasse ab.
„Schön. Ich bin mit meiner Harley nach Banderas gefahren. Meine Cousine Brittany hat dort eine Ranch.“
„Eine Ranch?“ In Delilahs Stimme klang eine seltsame Mischung aus Wehmut und Beklemmung mit.
Neugierig musterte er sie. „Ja, sie hat sie von meinem Onkel und meiner Tante übernommen. Mein Pferd steht dort, es heißt Hailey.“
„Du hast ein Pferd?“ Jetzt war eindeutig Sehnsucht aus den wenigen Worten herauszuhören.
„Ja, ich versuche, mindestens einmal im Monat rauszufahren und reite mit ihr aus. Hailey ist eine sehr geduldige Stute, die es mir nicht übelnimmt, dass ich kein großer Reiter bin.“ Seine Schwester und seine Cousine waren ausgezeichnete Reiterinnen und machten sich gerne über seinen verkrampften Sitz lustig. Auf der Harley fühlte er sich sicherer, doch er hatte die langen, ruhigen Ausritte durch das Texas Hill Country zu lieben gelernt. Caroline hatte ihm Hailey geschenkt, als er zurück nach Texas gezogen war. Zuerst hatte er wenig mit der Stute anfangen können, doch mittlerweile freute er sich auf die Ausritte mit ihr.
Delilahs Blick schweifte in die Ferne, sie sah traurig aus. Was wohl dahinter steckte? Ob er eines Tages die Geschichte erfahren würde, die von dem unschuldig und ängstlich wirkenden Jungen David, der auf ihrem Pass abgebildet war, zu der wunderschönen und doch so unsicheren Delilah geführt hatte? „Reitest du auch?“, fragte er.
„Früher bin ich geritten.“ In dieser Vergangenheit schien sie sich gedanklich noch zu befinden und ihr Gesichtsausdruck spiegelte Schwermut und Melancholie wider.
„Dann magst du Pferde?“, bohrte Cole weiter nach.
Mit einem kleinen Seufzer kehrte sie zurück in die Gegenwart, trank den letzten Schluck Kaffee und stand auf. „Ja, Pferde mag ich sehr. Danke für den Cappuccino.“
Neugierig sah Cole ihr hinterher, als sie im Aufenthaltsraum verschwand. Er wollte unbedingt mehr über sie erfahren, doch ihm war klar, dass sie es ihm nicht leicht machen würde und dass er Geduld aufbringen musste. Das war nicht gerade seine Stärke.
In diesem Moment öffnete sich die Tür und Tilly kam herein. Wie immer hielt Cole einen Moment lang die Luft an, bis ihr Gesichtsausdruck ihm verriet, wie ihr Wochenende verlaufen war. Erleichtert atmete er aus, sie schien entspannt zu sein. „Hi, Tilly. Kaffee?“
„Klar, wie immer.“
„Sie lehnte sich gegen den Tresen und blickte sich im Gastraum um. „Was ist denn hier passiert? Hat dich der Putzteufel erwischt?“
„Das ist Delilahs Werk. Sie ist auch schon da.“ Mit dem Kinn wies er in Richtung des Aufenthaltsraumes.
„Krass!“ Sie schüttelte verständnislos den Kopf. „Mittlerweile weißt du schon Bescheid, oder?“, fragte sie im Flüsterton.
„Der Groschen ist gefallen.“
„Und? Ist es okay für dich?“
„Klar. Damit habe ich kein Problem.“ Es ging Tilly nichts an, dass Delilahs Besonderheit ihn sogar neugierig und scharf machte.
„Das ist gut.“ Tilly wirkte erleichtert. „Hätte ich von dir auch nicht anders erwartet.“
„Woran hast du es sofort erkannt?“ Diese Frage hatte Cole sich die ganze Zeit schon gestellt.
„Mein Cousin beziehungsweise meine Cousine ist auch transgender“, erklärte Tilly. „Sie bewegt sich genauso. Es ist verdammt hart, so zu sein und ich bin froh, dass du Delilah eine Chance gibst und sie akzeptierst, wie sie ist. Meine Cousine ist nach Los Angeles gezogen, weil sie hier nicht Fuß fassen konnte.“
Erneut öffnete sich die Tür und die ersten Gäste betraten die Bar. Wie üblich waren es Dan und seine Kumpane, die sich nach Feierabend mit einer Tasse Kaffee stärken wollten, bevor sie zu einer Spritztour mit ihren Harleys aufbrachen. Cole bereitete die gewünschten Getränke zu, unterhielt sich mit ihnen und zapfte Bier für die nächsten Gäste, die den Weg in die Bar gefunden hatten. Für einen Dienstag war viel los und Cole war froh, dass Stan seine Bronchitis auskuriert hatte und ihn wieder hinter dem Tresen unterstützen konnte.
Um drei Uhr nachts verspeisten sie die Spareribs, die Glen für sie zubereitet hatte und räumten auf.
„Ich geh schon mal.“ Tilly griff nach ihrer Tasche. „In ein paar Stunden muss ich schon wieder aufstehen, weil ich ein Gespräch mit Emmas Lehrerin habe.“
„Warum hast du nicht Bescheid gesagt, du hättest schon vor zwei Stunden gehen können.“ Verständnislos schüttelte Cole den Kopf.
„Ehrlich gesagt, habe ich es vergessen. Der Kalender in meinem Handy hat mich gerade daran erinnert.“
„Wenn du nach dem Gespräch nochmal schlafen möchtest, kannst du heute Abend später kommen. Ein paar Stunden kommt Delilah ohne dich zurecht, oder?“
Delilah nickte und fegte den Boden, der leider seinen Glanz schon wieder verloren hatte.
„Danke“, rief Tilly und eilte aus der Bar.
Nachdem alle gegangen waren, überprüfte Cole, ob er für die kommende Schicht noch etwas nachkaufen musste, und griff dann nach seinem Autoschlüssel. Er schloss die Bar ab und setzte sich in seinen Truck. Ein stotterndes Motorengeräusch erklang vom Parkplatz, auf dem nur noch ein einzelnes Auto stand. Cole startete den Motor, wendete und fuhr die paar Meter auf den Parkplatz. Die Scheinwerfer des RAM waren so stark wie eine Flutlichtanlage und blendeten Delilah, die in dem verbeulten alten Ford Escort Station Wagon saß. Cole ließ seine Scheibe heruntergleiten. „Springt er nicht an?“
„Er hat schon häufiger Probleme gemacht.“
„Dann lass ihn stehen. Ich fahre dich nach Hause und deinen Wagen bringen wir später zu Stans Schwager, der eine Werkstatt in der Nähe hat.“
„Nein, er springt schon an.“ Noch ein paarmal drehte Delilah den Schlüssel, doch das Stottern, das der Motor von sich gab, wurde immer zaghafter.
Cole lehnte sich über den Beifahrersitz und öffnete die Tür. „Jetzt spring schon rein.“
Nach einigen weiteren Versuchen, die der Batterie den letzten Saft aussaugten, gab Delilah auf, nahm ihre Handtasche und kletterte auf den Beifahrersitz. „Tut mir leid, dass du wegen mir jetzt so weit fahren musst.“
„Kein Problem.“
„Leider weiß ich auch nicht, wie ich später zur Arbeit kommen soll.“
„Ich hole dich ab.“
„Ich möchte dir nicht so viele Umstände machen.“
„Du hast die Bar sauber gemacht, daher bin ich dir ohnehin einen Gefallen schuldig.“
„Okay.“ Delilah wirkte erleichtert und Cole lächelte ihr aufmunternd zu. Insgeheim freute er sich über die Chance, ein wenig Zeit mit ihr zu verbringen. Vielleicht erfuhr er noch etwas über sie und ihre Vergangenheit.
„Gefällt es dir, in der Bar zu arbeiten?“, fragte er und lenkte den Wagen auf den Interstate 45.
„Ja, sehr.“
„Ist es dir nicht zu anstrengend?“
„Nein“, antwortete sie einsilbig.
„Wo hast du vorher gearbeitet?“
„In verschiedenen Cafés in der Innenstadt.“
„Hat es dir dort nicht gefallen?“
Sie zögerte einen Moment. „Doch“, antwortete sie mit leiser Stimme.
Cole sah sie kurz von der Seite an. Ihr Kiefer mahlte, während sie ihre Hände anstarrte. Er schluckte, als ihm klar wurde, was geschehen sein musste. Sicher hatte sie die Jobs jeweils verloren, als ihr Geheimnis ans Licht gekommen war. Aus diesem Grund hatte sie ihm vermutlich auch die Unterlagen und ihren Ausweis eine ganze Woche lang nicht vorgelegt. Wie typisch für das konservative Houston! Noch schlimmer konnte es vermutlich nur in Montana gewesen sein, von wo Delilah stammte. Sie hatte den Kopf gegen die Scheibe gelehnt und die Augen geschlossen. Cole wollte sie nicht mit weiteren Fragen belästigen und schwieg bis er in den Garden City Drive einbog. Eintönig reihten sich die schmucklosen Backsteingebäude aneinander, vereinzelte Fenster waren noch erleuchtet und die Dunkelheit betonte die Tristesse dieser armseligen Wohngegend nur noch. Eine Gruppe schwarzer junger Männer stand rauchend neben einem Auto und eine in einer Papiertüte verpackte Flasche machte die Runde. Coles Herz krampfte sich zusammen, als er daran dachte, dass die zarte, verletzliche Delilah in dieser Gegend wohnte. So war sie schon eine Zielscheibe für Spott und Gewalt, doch sollte jemand dahinterkommen, dass sie transgender war, musste sie um ihr Leben fürchten. Cole schwor sich, dass er sie aus Acres Homes herausholen würde. „In welchem Gebäude wohnst du?“
„Du kannst mich hier rauslassen.“
„Nein, du wirst mir sagen, wo genau du wohnst und ich bringe dich bis zu deiner Haustür.“
„Das ist lächerlich. Ich wohne seit einem Jahr hier und gehe immer allein von meinem Auto zur Wohnung.“ Delilah richtete sich im Beifahrersitz auf und starrte ihn mit zusammengezogenen Augenbrauen an.
„Heute Abend bin ich dafür verantwortlich, dass du in einem Stück ankommst.“
„Dafür bist du nicht verantwortlich.“
„Kannst du mir nicht einfach sagen, in welchem Haus du wohnst?“ Cole bemühte sich um einen sanften Tonfall, auch wenn ihre zickige Art ihn beinahe vergessen ließ, dass er sich große Sorgen um sie machte.
Mit einem Seufzer sackte sie in sich zusammen und zeigte auf eines der grauen Häuser. Cole parkte am Straßenrand, stieg aus und wäre beinahe in einen großen Hundehaufen getreten. Er folgte Delilah, die die Haustür aufschloss, einen miefigen Korridor entlangging und eine abgetretene Treppe ins erste Obergeschoss nahm. Vor einer Tür blieb sie stehen, steckte den Schlüssel ins Schloss und drehte sich um. „Ich möchte, dass du jetzt gehst. Es ist mir schon peinlich genug, dass du siehst, wie heruntergekommen hier alles ist. Meine armselige Bude musst du nicht auch noch in Augenschein nehmen. Steig wieder in dein Monster von einem Truck und fahr nach Hause.“
Betreten nickte Cole, drehte sich um und ging. Erst auf der Rückfahrt fiel ihm ein, dass er mit Delilah gar nicht vereinbart hatte, wann er sie abholen würde. Als er bereits im Bett lag, schickte er ihr eine Nachricht:
Ich hole dich um kurz nach vier Uhr ab. Okay?
Eine Antwort erhielt er nicht, sicher schlief sie bereits. Cole hingegen konnte nicht einschlafen, obwohl er hundemüde war. Erneut nahm er sich fest vor, Delilah aus dieser miesen Gegend herauszuholen. Allerdings musste er behutsam vorgehen. Sie schien sehr empfindlich zu sein, wenn man ihren Stolz verletzte.
Am darauffolgenden Tag bat Cole Stan, seinen Schwager anzurufen und ihn zu fragen, ob er sich um Delilahs Wagen kümmern konnte. Noch am selben Abend holte er den Ford ab und brachte ihn in die Werkstatt. Leider dauerte es nur zwei Tage, bis der Wagen repariert war und Delilah seine Dienste als Chauffeur nicht mehr benötigte. Cole hatte die Fahrten mit ihr genossen, obwohl sie nur wenig miteinander gesprochen hatten. Zumindest hatte er sie nochmal nach ihrer Liebe zu Pferden gefragt und sie hatte ihm erzählt, dass sie in Montana als Wrangler gearbeitet hatte.
„Oh, wow, dann kannst du sicher gut reiten.“
Sie zuckte nur mit den Schultern und schwieg.
„Meine Schwester reitet auch sehr gut, ich bin dagegen auf ein zuverlässiges Pferd angewiesen, dass mich sicher wieder nach Hause bringt.“ Ein leises Schnauben erklang, von dem Cole nicht sicher war, ob es belustigt oder abfällig gemeint war.
„Wohnt deine Schwester auch in Houston?“, fragte Delilah nach einer Weile.
„Nein, sie lebt in Deutschland.“
„In Deutschland?“
„Meine Mutter ist Deutsche und mein Vater Texaner. Als meine Schwester und ich noch klein waren, haben wir ein paar Jahre in Houston gelebt, sind dann aber nach Berlin gezogen. Vor drei Jahren bin ich wieder zurück in die Staaten gekommen und habe die Bar ein Jahr später übernommen.“
„Okay.“ Delilah nahm seine Aussage ohne weitere Fragen zur Kenntnis und blickte aus dem Fenster, als müsse sie das Gespräch krampfhaft beenden. Cole vermutete, dass sie damit weitere Fragen von seiner Seite verhindern wollte. Sie schien ungern über ihre Vergangenheit zu sprechen. Dementsprechend erfuhr er auf den Fahrten nur wenig über sie. Eines Morgens, als sie besonders spät aus der Bar kamen und die ersten Strahlen der Morgenröte die Hochhäuser der Innenstadt in ein zart schimmerndes Licht tauchten, erwähnte sie, dass das ein schönes Fotomotiv sei.
„Du fotografierst?“, hakte er nach.
„Nicht mehr“, hatte sie, einsilbig wie immer, erwidert.
Trotzdem Cole mit seinen Bemühungen, Delilah näher kennenzulernen, nicht wesentlich vorangekommen war, vermisste er die Fahrten mit ihr, nachdem Stans Schwager den Wagen zum Liberty Roadhouse gebracht und sich mit einem Burger und einem Bier aufs Haus gestärkt hatte. Cole mochte Delilahs ruhige Gegenwart und hätte nur zu gerne mehr Zeit mit ihr verbracht.
Ein paar Tage später fuhr Cole zu seiner Schicht im Liberty Roadhouse . Auf dem Weg zur Bar hatte er noch Besorgungen gemacht und lenkte den Pick-up gerade auf den Parkplatz, als das Handy in seiner Tasche vibrierte. Er zog es heraus, ohne das Display zu beachten. „Hi.“
„Ich bin es, Delilah. Leider kann ich heute nicht kommen, ich bin krank.“ Cole konnte kaum verstehen, was sie sagte. Es hörte sich an, als kaue sie auf einem Riesenkaugummi herum oder als sei ihre Zunge nicht mehr richtig steuerbar.
„Was hast du?“
„Nichts Schlimmes, in ein paar Tagen geht es wieder. Tut mir leid, euch im Stich zu lassen.“ Das klang gequält und bei Cole läuteten die Alarmglocken.
„Kannst du mir nicht sagen, was du hast?“
„Sorry, Cole.“ Sie legte auf, doch bevor der Ton weg war, hörte Cole einen erstickten Schluchzer. Irgendetwas stimmte da nicht. Unruhig schloss Cole auf, räumte die Einkäufe ein und bediente die ersten Gäste. Tilly und Stan erschienen pünktlich zur Arbeit und der Geruch, der aus der Küche in den Gastraum drang, zeigte ihm, dass Glen die Burger auf den Grill geworfen hatte. So gut er konnte, versuchte Cole, sich auf die Arbeit zu konzentrieren und Delilah aus seinen Gedanken zu verbannen.
„Cole, du stehst mir im Weg.“ Stan schubste ihn unsanft beiseite.
„Sorry.“
„Hast du die zwei Colas fertig?“
„Noch nicht.“ Cole griff nach den Gläsern und der Colaflasche.
„Das Eis fehlt.“ Tilly stand vor ihm und stemmte die Hände in die Hüften. „Darf ich fragen, was mit dir los ist?“
Einen Moment lang zögerte Cole, doch dann erzählte er Tilly und Stan, der ebenfalls neugierig die Ohren spitzte, dass er sich Sorgen um Delilah machte. „Sie klang so komisch, als könne sie nicht richtig sprechen.“
Tilly und Stan tauschten einen vielsagenden Blick aus, als wüssten sie, was los war. Tilly räusperte sich. „Das klingt, als sei sie verdroschen worden.“ Klar, Tilly hatte diesbezüglich auch die eine oder andere leidvolle Erfahrung gemacht.
Cole schluckte hart. „Was mache ich jetzt?“
„Keiner von uns ist blind, Cole. Seit sie hier arbeitet, starrst du ihr hinterher und dass, obwohl du weißt, was in ihrem Höschen steckt.“ Stan schüttelte sich, als bereite ihm die Vorstellung Unbehagen. „Das verstehe ich zwar nicht, aber ich muss auch nicht alles verstehen. Wenn sie dir etwas bedeutet, fahr hin und kümmere dich um sie.“
Tilly nickte zustimmend. „Wir kriegen das hier schon hin.“
„Danke.“ Erleichtert griff Cole nach seinem Autoschlüssel und fuhr so schnell es die Geschwindigkeitsbegrenzungen und der Verkehr erlaubten nach Acres Homes. Es war bereits dunkel, als er den trostlosen Appartementkomplex erreichte. Er stellte den Wagen direkt vor dem Haus ab, in dem Delilah wohnte und sprang eilig die Treppe hinauf. Er klopfte, doch nichts regte sich hinter der Tür. Angst kroch in Cole hoch. Er hatte gewusst, dass Delilah in dieser Gegend in Gefahr war und sich selbst versprochen, sie dort herauszuholen. Er hätte schneller handeln müssen. Was, wenn es jetzt schon zu spät war? Erneut klopfte er. „Delilah?“
Ein Rascheln erklang auf der anderen Seite der Tür. „Cole?
„Ja, ich bin es. Bitte mach die Tür auf.“
„Moment.“
Es dauerte noch eine ganze Weile, bis der Riegel zurückgeschoben und die Tür einen Spaltbreit geöffnet wurde. „Was machst du hier?“
Das Zimmer wurde nur von der einen nicht zerschlagenen Straßenlaterne schwach erleuchtet und dennoch konnte Cole erkennen, dass eines ihrer schönen Augen komplett zugeschwollen war. Erschrocken stieß er die Tür auf, trat ein und streckte die Hand aus, um ihr Gesicht zu berühren.
Panisch wich sie zurück, stieß einen Schmerzenslaut aus und krümmte sich.
Cole trat einen Schritt zurück und hob die Hände. „Delilah, ich will dir nur helfen.“
„Ich brauche keine Hilfe. Bitte geh. In ein paar Tagen bin ich wieder in der Bar.“
Langsam ließ Cole die Hände sinken und schüttelte den Kopf. „Das kannst du nicht von mir verlangen.“
Mühsam hob sie den Kopf und Cole stockte der Atem. Sie hatte Schürfwunden an der Stirn und am Kinn, das ganze Gesicht war deformiert und so, wie sie sich krümmte, hatte sie auch an anderen Stellen des Körpers Schmerzen.
„Ich bringe dich ins Krankenhaus.“
„Nein, das ist nicht nötig.“
„Delilah, bitte, lass mich dir helfen“, bat Cole.
„Am meisten hilfst du mir, wenn du verschwindest.“
Der Knall eines Schusses ließ Cole zusammenfahren. „Du kannst nicht hierbleiben“, stieß er hervor.
„Das ist nichts Besonderes“, murmelte Delilah. „Zwei oder dreimal in der Woche hört man hier nachts Schüsse.“
Cole schloss kurz die Augen, um sich zu sammeln. Dann straffte er die Schultern. „Du bleibst auf keinen Fall hier. Pack deine Sachen zusammen. Entweder bringe ich dich ins Krankenhaus oder du kommst mit zu mir.“
Delilah starrte ihn mit aufgerissenen Augen an. Zu Coles Überraschung leistete sie keinen Widerstand, sondern bewegte sich langsam in Richtung der Tür, die von dem Raum abging, in dem sie standen. Es war klar ersichtlich, dass ihr jeder Schritt starke Schmerzen bereitete. Cole vergaß alle Zurückhaltung, trat zu ihr und fasste vorsichtig um ihre Taille. „Ich tue dir nicht weh“, sagte er sanft, als sie zusammenzuckte. „Setz dich, ich packe zusammen.“ Er bugsierte sie auf ein Sofa. „Hast du eine Tasche?“
„Im Schlafzimmer.“
„Darf ich Licht anmachen?“
Sie nickte und ließ ergeben den Kopf hängen.
Cole schaltete das Licht an und betrat das winzige Schlafzimmer, in dem nur ein Bett stand. Eine Nische war mit einem Vorhang abgetrennt, dahinter befand sich eine Kleiderstange und ein Regal auf dem ordentlich zusammengefaltet Delilahs Kleidung lag. Eine Reisetasche stand unter dem Regal. Cole räumte alles in die Tasche, die danach noch nicht einmal halb voll war. Warum war ihm nie aufgefallen, dass Delilah immer die gleichen Sachen trug? Er versuchte, sich daran zu erinnern, doch vermutlich konnte sie die wenigen Röcke und Tops so geschickt kombinieren, dass es immer anders wirkte. Das Bett war zerwühlt, sicher hatte Delilah dort gelegen, als er geklopft hatte. Vom Schlafzimmer gelangte er in ein Badezimmer. Das Plastik der Duschwanne war verfärbt und rissig, auch das Waschbecken wies Risse auf und der Spiegel war blind. Doch alles war sauber und aufgeräumt. Rasch packte Cole alles, was im Bad stand, in die Tasche und ging zurück in das Zimmer, in dem Delilah noch immer zusammengesunken auf dem Sofa saß. Sie trug eine dunkelblaue Jogginghose und ein weißes T-Shirt. Nur die halblangen blonden Haare, die ihr verschandeltes Gesicht verbargen, erinnerten daran, dass sie Delilah und nicht David war. Auch in dem Wohnzimmer, in dem sich gleichzeitig die Küche und das Esszimmer befanden, war es aufgeräumt und sauber, wenn auch die Möbel ärmlich und abgenutzt wirkten. „Soll ich noch etwas einpacken?“
Delilah griff nach zwei gerahmten Bildern, die neben dem Sofa auf einem Hocker standen und reichte sie Cole. Auf einem Bild war eine Großfamilie zu sehen, problemlos erkannte Cole David, der ganz am Rand stand, unter den bereits erwachsenen Kindern. Er hätte sich das Bild gerne genauer angesehen, doch es war nicht der richtige Zeitpunkt. Auf dem anderen Bild war ein Pferd abgebildet, auf dem David saß und in die Kamera lächelte. Ein so entspanntes und fröhliches Lächeln hatte Cole bislang auf Delilahs Gesicht nicht gesehen und er wünschte sich, es eines Tages hervorzaubern zu können. Vorsichtig legte er die Bilder oben auf die Kleidungsstücke. „Können wir fahren?“
Delilah nickte, versuchte sich vom Sofa hochzustemmen und stieß ein unterdrücktes Stöhnen aus.
Cole legte ihr die Hand auf die Schulter. „Bleib sitzen. Ich bringe die Tasche nach unten, dann helfe ich dir.“ Eilig trug er die Tasche nach unten und stellte sie in den Truck. Als er wieder vor Delilah stand, griff er kurzerhand unter ihre Knie und Arme und wuchtete sie hoch. Sie war schwerer, als er gedacht hatte. Delilah stieß einen erschreckten, spitzen Schrei aus, doch dann legte sie mit einem Seufzer die Arme um seinen Hals und lehnte den Kopf gegen seine Schulter. Coles Brustkorb weitete sich und er schloss für einen Moment die Augen, als ihre Haare ihn kitzelten und ihr Geruch ihm in die Nase drang. Er wollte für sie sorgen und sie beschützen. In diese Wohnung musste sie nicht zurückkehren, darum würde er sich kümmern. Langsam trug er sie zu seinem Wagen und schaffte es, irgendwie die Beifahrertür zu öffnen. Vorsichtig setzte er sie ab, schnallte sie an und ging um den Truck herum. Erst als sie vom Garden City Drive abbogen, fragte er: „Hast du dich entschieden, ob ich dich ins Krankenhaus oder zu mir fahren soll?“
„Zu dir“, flüsterte sie leise.
Cole nickte und fuhr nach Norden über den Interstate 45, am Liberty Roadhouse vorbei, bis er die Woodlands erreichte, der Gegend, in der sich sein Haus befand. Selbst im Dunkeln stach der Gegensatz zu Acres Homes krass hervor. Gepflegte Vorgärten säumten die Straße und die luxuriösen Häuser standen locker verteilt auf großen Grundstücken. Die individuellen Baustile zeugten davon, dass jeder der Anwohner finanziell in der Lage war, sich seinen persönlichen Wohntraum zu verwirklichen. Es war Cole fast schon peinlich, als er in die Auffahrt zu seinem Haus fuhr, das im Blockhausstil gebaut und zugegebenermaßen für eine einzelne Person viel zu groß war. Er fuhr das elektrische Garagentor hoch und stellte den Truck neben seiner Harley ab. Stumm und mit weit aufgerissenen Augen blickte Delilah sich um.
„Ich bringe schon mal die Tasche rein und helfe dir dann“, meinte Cole und brachte ihre Habseligkeiten ins Haus. Als er zurückkam, war Delilah bereits aus dem Auto geklettert und um den Wagen gegangen. Cole stützte sie auf dem Weg nach oben ins Gästezimmer, wo er ihre Reisetasche abgestellt hatte. Das Bett war immer frisch bezogen, falls spontan jemand zu Besuch kommen sollte. In den vergangenen Monaten hatten Tilly und Emma immer mal wieder bei ihm übernachtet und da er keine Lust hatte, um vier Uhr nachts saubere Bettwäsche zu suchen, sorgte er dafür, dass immer alles bereit war. „Da drüben ist das Badezimmer. Ich mache dir einen Tee und komme dann nochmal, um nach dir zu sehen. Möchtest du etwas essen?“
Sie schüttelte den Kopf und bewegte sich gekrümmt in Richtung des Badezimmers.
Cole erhitzte in der Mikrowelle Wasser in einer Tasse und hängte einen Teebeutel hinein. War nicht noch eine Packung Schokoladenkekse im Schrank? Er griff danach und ging mit dem Tee wieder nach oben. Aus seinem eigenen Schlafzimmer holte er den Verbandskasten und eine Wundcreme. Delilah lag bereits mit geschlossenen Augen auf dem Bett. Er stellte die Tasse und die Kekse auf den Nachttisch und setzte sich auf die Bettkante. Erschrocken riss Delilah die Augen auf.
„Ich möchte wissen, was passiert ist.“ Nachdem Delilah in ihrer Wohnung auf den strengen Tonfall hin, den er angeschlagen hatte, widerstandslos seiner Bitte nachgekommen war, versuchte Cole es erneut mit Autorität in der Stimme.
„Ein paar Jungs haben mich heute Nachmittag zusammengeschlagen.“
„Warum?“
Sie zuckte mit den Schultern.
„War es, weil sie von David erfahren haben?“
Verunsichert sah sie ihn an. Sicher, weil er sie bislang noch nicht auf ihre Transsexualität angesprochen hatte. Sie nickte.
„Das ist dir nicht zum ersten Mal passiert, oder?“
„Nein.“
„Du wirst nicht mehr in diese Wohnung zurückkehren.“
„Wohin soll ich denn sonst?“
„Erst einmal bleibst du hier.“
Sie starrte ihn an und ihr Adamsapfel hüpfte.
„Möchtest du ein Schmerzmittel?“
„Nein, es geht schon.“
„Jetzt werde ich mir deine Verletzungen ansehen.“
Energisch schüttelte sie den Kopf. „Auf keinen Fall.“
„Entweder ich sehe sie mir an oder ich packe dich sofort wieder ins Auto und fahre ins Krankenhaus.“
„Du bist kein Arzt.“
„Das Krankenhaus oder ich. Deine Entscheidung.“ Cole musste ihr in der momentanen Situation nicht auf die Nase binden, dass er Rettungssanitäter war und außerdem sechs Semester Medizin studiert hatte. Wie sie richtig festgestellt hatte, machte ihn das nicht zum Arzt, doch er traute es sich zu, beurteilen zu können, wie schwerwiegend die Verletzungen waren. Im Zweifelsfall konnte er sie immer noch in die Notaufnahme bringen.
„Okay.“
Cole beugte sich vor, tastete ihren Kiefer ab und öffnete vorsichtig das zugeschwollene Auge. „Kannst du damit noch scharf sehen?“
Sie nickte.
Er gab etwas Desinfektionslösung auf einen Wattebausch und tupfte die Schürfwunden ab. Es fiel ihm schwer, sich darauf zu konzentrieren. Er wollte über ihre Wangen streicheln und die kurzen Bartstoppeln spüren, die sie in dieser Nacht nicht unter einer dicken Schicht Make-up versteckt hatte. Der Bartwuchs war nicht ausgeprägt, doch die goldbraunen Haarspitzen waren in dem hellen Licht, das er eingeschaltet hatte, um sie untersuchen zu können, deutlich sichtbar. Zu gern würde er sich über sie beugen, die fein geschwungenen Lippen küssen und das leichte Kratzen spüren.
„Ich habe die Wunden schon sauber gemacht“, murmelte sie.
Cole räusperte sich. „Gut. Und jetzt ziehe bitte dein T-Shirt aus.“
Sie zögerte einen Moment und begann dann, ihr T-Shirt hochzuziehen. Die Bewegung schien ihr Schmerzen zu bereiten.
„Ich helfe dir.“ Cole zog ihr das Shirt vorsichtig über den Kopf. Mal abgesehen von den blauen Flecken über den Rippen, enthüllte er damit den wunderschönen Oberkörper eines jungen Mannes, schlank und sehnig mit dezenten, aber deutlich sichtbaren Muskeln an Brustkorb und Bauch, die von körperlicher Arbeit zeugten. Vorsichtig tastete Cole die Rippen ab. „Werden die Schmerzen beim Einatmen schlimmer?“
„Nein.“
Cole half ihr, das T-Shirt wieder anzuziehen. Er war sich ziemlich sicher, dass nichts gebrochen war. „Jetzt die Hose.“
„Nein“, schrie Delilah panisch.
„Dann fahren wir zu einem Arzt.“ Er zeigte zwischen ihre Beine. „Ich weiß, dass du da große Schmerzen hast. Sie haben dich gezielt getreten, oder?“
„Ja, aber ich möchte nicht, dass du es siehst.“
„Du brauchst keine Angst zu haben. Ich möchte sichergehen, dass deine Verletzungen nicht so schlimm sind, dass sie versorgt werden müssen.“
„Ich schäme mich.“
Er griff nach ihrer Hand und drückte sie. „Es gibt nichts, wofür du dich schämen müsstest.“
Sie blickte ihn mit dem einen nicht zugeschwollenen Auge aus dem zerschundenen Gesicht so flehend an, dass er sie am liebsten in den Arm genommen und getröstet hätte. Doch er musste diese Untersuchung so professionell wie es ihm möglich war durchführen, um beruhigt schlafen zu können. Cole wusste, dass bei einem ausgedehnten Hämatom an Penis oder Hoden eine Drainage erforderlich war, um weitere Schäden am Gewebe zu vermeiden. Er musste auch sicher sein, dass keine Hautverletzungen genäht werden mussten und dass der Bluterguss im Verlauf nicht größer wurde. Sonst war es notwendig, eine Operation durchzuführen, um die blutenden Gefäße zu koagulieren.
Er fasste rechts und links ihrer Taille an den ausgeleierten Bund der Jogginghose. „Darf ich?“
Sie gab einen erstickten Laut von sich, der alles von Ja bis Nein bedeuten konnte und legte einen Unterarm über ihre Augen, als wolle sie sich selbst dort unten nicht betrachten. Cole zog die Jogginghose bis über die Hüftknochen und ließ sie dort. Auch den flachen Bauch zierten blaue Flecke. Vorsichtig tastete er ihn ab. „Warst du vorhin auf der Toilette?“
„Ja.“
„War der Urin blutig?“
„Nein.“
Als Cole die Hose ein Stück weiter nach unten zog, hob Delilah das Becken an und gab ihm somit die Genehmigung, sie weiter zu entblößen. Allein der Anblick der geschwollenen, blauen Hoden schmerzte Cole. So sanft er konnte, hob er erst den Penis und dann die Hoden an und untersuchte sie. Offene Wunden waren nicht zu sehen und die Blutergüsse schienen nicht so ausgedehnt zu sein, dass Cole eine operative Versorgung für notwendig hielt. „Ich hole Eis. Am besten lässt du die Hose aus.“ Er streifte ihr die Hose komplett ab und deckte Delilah mit der Daunendecke zu. Aus dem Eisfach holte er Kompressen, wickelte weiche Frotteetücher darum und kehrte zurück ins Gästezimmer, wo Delilah noch immer die Augen mit dem Unterarm bedeckte.
„Eine Kompresse kannst du auf dein Auge legen, die andere ist für unten.“ Cole schlug die Decke zurück, schob ihre Schenkel ein Stück auseinander, bettete die Hoden vorsichtig auf die kühlende, weiche Unterlage und deckte Delilah wieder zu. Mit sanfter Gewalt nahm er ihr den Unterarm vom Gesicht, legte die Kompresse auf das geschwollene Auge und streichelte über ihre Wange. „Ich bin nebenan, wenn du etwas brauchst.“
„Danke.“ Sichtlich unangenehm berührt wandte sie den Blick ab. Schweren Herzens verließ Cole das Gästezimmer. So gerne würde er Delilah in den Arm nehmen, sie streicheln und küssen und ihr versichern, dass er sie wunderschön und aufregend fand, mit allem, was zu ihr gehörte. Doch es war definitiv nicht der richtige Zeitpunkt, um Delilah mit seiner Zuneigung und seinen Besitzansprüchen zu konfrontieren. Zum ersten Mal hatte Cole an diesem Abend den David gesehen, der ein Teil von ihr war und Cole wollte auch ihn kennenlernen. Er wollte alles über David und Delilah wissen und begehrte sie beide. Außerdem war er wütend darüber, was man ihr angetan hatte und das texanische Erbe in ihm brüllte danach, ein Gewehr zu schultern und auf die Jagd zu gehen, um diejenigen zur Strecke zu bringen, die seine Delilah verletzt hatten. Ja, er betrachtete sie als sein, obwohl das lächerlich war, er ihr gegenüber noch nicht einmal angedeutet hatte, dass er an ihr interessiert war und er auch keine Ahnung hatte, ob sie etwas für ihn empfand. Doch diese Nebensächlichkeiten hinderten Cole nicht daran, so überschäumende Gefühle für Delilah aufzubringen, wie er sie von sich überhaupt nicht kannte. Bislang hatte er noch nie so ein Verlangen nach jemandem empfunden. Sex war ein netter Zeitvertreib für ihn gewesen, doch er hatte nicht das Bedürfnis gehabt, mit jemandem zusammen zu sein. Sein Beschützerinstinkt war schon immer ausgeprägt gewesen, doch bislang war sein Bedürfnis, sich um jemanden zu kümmern und körperliche Anziehungskraft noch nie auf eine einzelne Person gefallen. Diese Kombination und die Tatsache, dass er die Fragmente, die er bislang von ihrer Persönlichkeit kennengelernt hatte, unglaublich interessant fand und sich sicher war, dass es noch zahlreiche Facetten gab, mit denen sie ihn überraschen konnte, machten Delilah unwiderstehlich für ihn.
Hellwach und nachdenklich starrte Cole an die Decke. War Delilah am Ende diejenige, die ihn fesseln konnte? Caroline hatte schon vor Jahren den Mann gefunden, mit dem sie den Rest ihres Lebens verbringen wollte und hatte Cole prophezeit, dass er eines Tages die eine Person kennenlernen würde, die auf all seine Bedürfnisse zugeschnitten war und ihn ergänzte.
„Wer soll das sein?“, hatte Cole gefragt. „Du bist der Mensch, der mich am besten kennt und die Einzige, die akzeptiert, wie unstet ich bin. Nichts kann mich lange fesseln, weder beruflich noch privat.“
Caroline hatte wissend gelächelt. „Du wirst jemanden finden, der dich genau deshalb fesselt, weil er wandelbar ist und dich immer wieder überrascht. Ich bin mir sicher, dass es irgendwo da draußen genau diese eine Person gibt, die du nie ganz erfassen wirst, weshalb du dich an sie binden möchtest.“
Cole hatte Caroline nicht ernst genommen und gedacht, aus ihr spreche die Liebe zu ihrem eigenen Mann. Allerdings war Caroline seine engste Vertraute und der einzige Mensch, der ihn bei seinen sprunghaften Entscheidungen immer unterstützt hatte, auch gegenüber ihren Eltern, die wenig Verständnis für ihn gehabt hatten. Das war nicht immer so gewesen. Als kleine Kinder hatten sie sich ständig gestritten und Cole konnte sich noch gut an die Wut erinnern, die er bei den Auseinandersetzungen mit seiner Schwester in sich gehabt hatte. Sie waren so unterschiedlich wie Tag und Nacht, hatten kaum gemeinsame Interessen und ihr Zwillingsdasein ließ sie zu erbitterten Konkurrenten um jede Kleinigkeit werden, auch wenn sie in Wohlstand und Reichtum aufwuchsen. Caroline fiel das Lernen in der Schule schwer, sie brauchte lange, um die Dinge zu verstehen und zu behalten und litt darunter, dass ihm alles zuzufliegen schien. Ohne Mühe und Anstrengung erhielt er die besten Zensuren, während sie mühsam darum kämpfte, das Klassenziel zu erreichen. Außerdem trug sie eine Brille und hatte einen viel zu schmalen Kiefer, weshalb ihre Zähne schief standen und sie sehr früh eine feste Zahnspange tragen musste. Dadurch und durch ihr angeschlagenes Selbstbewusstsein geriet sie in eine Außenseiterrolle. Cole dagegen war schon in der Grundschule der Schwarm der Mädchen gewesen und suhlte sich in der Anerkennung und Zuneigung seiner Mitschüler.
Cole konnte den Tag benennen, an dem sich alles verändert hatte. Sie waren in der vierten Klasse und Cole beobachtete, wie ein paar Jungs seine Schwester hänselten und herumschubsten. Caroline fing an zu weinen und hob die Arme schützend vor ihr Gesicht, so ähnlich, wie Delilah wie es vorhin getan hatte. In diesem Moment schlug in Cole etwas um. Es wurde ihm bewusst, dass Caroline seine Schwester war, er für sie Verantwortung trug und sie beschützen wollte und musste. Wie ein wütender Stier ging er auf die Jungs los und prügelte sich mit ihnen. Am Ende landete er mit einer gebrochenen Nase, einem gebrochenen Arm und zahlreichen Platz- und Schürfwunden im Krankenhaus, doch von diesem Tag an änderte sich das Verhältnis zwischen Caroline und ihm grundlegend. Er half ihr bei den Hausaufgaben und nahm sie mit, wenn er sich mit Freunden traf. Es dauerte auch nicht lange, da akzeptierten seine Freunde Caroline, die freundlich und humorvoll war. Als sie in der Schule besser wurde und Freunde fand, wurde sie auch selbstbewusster und traute sich mehr zu. Im Laufe der Jahre wurden sie unzertrennlich.
Auf dem Nachttisch stand ein Foto von Caroline und ihm, als sie gerade ihren achtzehnten Geburtstag gefeiert hatten. Er nahm es in die Hand und betrachtete es lächelnd. Zu diesem Zeitpunkt war aus dem hässlichen Entlein bereits der stolze Schwan geworden, der sie jetzt war. Mit einem strahlenden Lächeln, gleichmäßigen Zähnen und ihrer dunklen, wallenden Mähne war sie zu ungeahnter Schönheit erblüht. Damals hatte sie Kontaktlinsen getragen, heute war sie selbstbewusst genug, ihre Brille als Accessoire in Szene zu setzen, um damit ihre Autorität als Chefin einer Klinik zu unterstreichen. Ja, im Gegensatz zu ihm hatte Caroline mit Ausdauer und Fleiß einen guten Schulabschluss geschafft, dass Medizinstudium abgeschlossen und war Fachärztin für Neurologie geworden. Gemeinsam mit ihrem Mann kümmerte sie sich um die Rehabilitationsklinik, die ihre Großeltern und Eltern aufgebaut und ihnen beiden überlassen hatten. Er war Miteigentümer, kümmerte sich um nichts und Caroline hatte ihm noch nie einen Vorwurf gemacht, dass er stattdessen seinen wechselnden Beschäftigungen nachging. Schon mehrfach hatte er ihr angeboten, auf seinen Anteil der Ausschüttungen zu verzichten, die die Klinik jedes Jahr abwarf, doch Caroline hatte nichts davon wissen wollen. Jetzt war sie es, die sich darum kümmerte, dass er in einem schönen Haus leben, einen RAM und eine Harley fahren und den jeweiligen beruflichen Spielereien nachgehen konnte, die er sich aussuchte. Mit einem wehmütigen Lächeln dachte er an seine geliebte Zwillingsschwester. Sobald er seine Gedanken ein wenig sortiert hatte, würde er sie anrufen und ihr von Delilah erzählen.