Kapitel 13
Delilah
Erleichtert atmete Delilah aus und leerte den Putzeimer. Sie hatten es gerade noch geschafft, das Liberty Roadhouse
wieder einsatzfähig zu machen, bevor die ersten schweren Maschinen auf den Parkplatz rollten. Der Sturm hatte deutliche Spuren hinterlassen und trotz der Holzverschalung, die Cole angebracht hatte, war schlammiges Wasser in die Bar gelaufen. Mit vereinten Kräften hatten sie drei Stunden lang geputzt und aufgeräumt. Vorerst musste die Küche noch kalt bleiben. Cole versuchte seit Stunden einen Elektriker aufzutreiben, außerdem mussten Schäden an der Fassade behoben und einige Stühle und Tische ausgetauscht werden. Doch sie konnten die Gäste mit Getränken und Sandwiches versorgen, die Glen in der Küche zubereitete. Nachdem sie die Lappen zum Trocknen aufgehängt hatte, wusch sie sich die Hände und zog sich rasch um.
Besorgt warf sie einen Blick ins Büro, wo Tilly bei Cole saß. Emma war bei Glen in der Küche. Beide sahen blass und erschöpft aus. Außerdem verdeckte eine dicke Schicht Make-up nur unzureichend den blauen Fleck an Tillys Schläfe.
„Es geht nicht mehr, Cole“, hörte Delilah Tillys dünne Stimme. „Die letzten Tage waren unerträglich. Außerdem ist das Haus praktisch unbewohnbar und wir haben kein Geld, um es reparieren zu lassen. Tom ist außer sich und gibt mir die Schuld.“
„Mein Haus steht euch jederzeit offen“, bot Cole an.
„Delilah wohnt doch jetzt bei dir.“
„Wir haben noch genug Platz für euch beide.“ Sicher war genug Platz in Coles Haus und Delilah schlief auch schon lange nicht mehr im Gästezimmer, sondern in Coles Armen. Sie wusste, dass Tilly und Emma in der Vergangenheit häufiger bei
Cole übernachtet hatten. Am liebsten wäre Delilah in Coles Büro geplatzt und hätte Tilly versichert, dass sie wegen ihr auf keinen Fall Coles Angebot ausschlagen solle, doch sie wollte Tilly nicht in Verlegenheit bringen. Schließlich sprach sie mit Cole und nicht mit ihr.
Tilly schluchzte leise. „Ich kann das nicht annehmen.“
„Natürlich kannst du das. Aber du musst eine Entscheidung treffen.“
„Ich habe mich entschieden.“ Ihr Flüstern war kaum zu hören.
„Weiß Tom es schon?“
„Nein, aber ich sage es ihm.“
„Geh nicht allein zu ihm.“
„Glen begleitet mich.“
„Das ist gut.“
„Er hat mir auch angeboten, dass wir zu ihm ziehen können.“
„Das ist sehr nett von ihm und bei ihm seid ihr sicher auch gut aufgehoben. Allerdings ist seine Wohnung winzig und sein Bruder lebt auch noch dort.“
„Ich weiß.“
„Was immer du für richtig hältst, Tilly. Und du weißt, ich bin für dich da.“ Die Stühle quietschten auf dem Holzboden und Delilah beeilte sich, in den Gastraum zu kommen. Wie fast jeden Tag, waren Dan und seine Kumpels die ersten Gäste. Stan hatte bereits Kaffee zubereitet und unterhielt sich mit ihnen über den Sturm. Das Unwetter würde in der ganzen Stadt noch einige Zeit lang Gesprächsthema bleiben.
Eigentlich hatte Delilah gedacht, dass so kurz nach dem Sturm nicht viele Gäste in die Bar kommen würden, doch das Gegenteil war der Fall. Alle Tische waren voll besetzt und es waren auch einige Gäste da, die sie noch nie gesehen hatte.
„Nur wenige Bars und Restaurants haben schon wieder geöffnet. Es hat sich herumgesprochen, dass man im Liberty
Roadhouse
ein kühles Bier und Sandwiches bekommen kann“, erklärte Stan, als sie sich bei ihm erkundigte, ob er eine Ahnung habe, warum so viel los war.
„Deshalb so viele neue Gesichter.“
„Ja, die Leute wollen raus, nachdem sie tagelang eingesperrt waren.“ Mit zusammengekniffenen Augen blickte er durch den Gastraum. „Leider sind auch ein paar Typen aufgekreuzt, die Cole schon vor die Tür gesetzt hat. Das riecht nach Ärger.“
„Cole hat sie vor die Tür gesetzt?“
Vor sich hin grinsend schob Stan die Biergläser über den Tresen. „Das Rausschmeißen übernimmt im Zweifelsfall Glen, wenn er einmal knurrt, verlassen die meisten Störenfriede freiwillig die Bar. Am Anfang hat Cole hier aufgeräumt. Gäste, die sich nicht benommen haben, bekamen Hausverbot. Es war ihm egal, wenn die Bar dann leer war. Erst habe ich nicht verstanden, warum er das tut, aber auf lange Sicht hat er auf diese Weise einen guten Kundenstamm aufgebaut und muss nicht alle zwei Wochen die Polizei rufen, weil es eine Schlägerei gibt und auch nicht ständig das Mobiliar ersetzen.“
Mit einem mulmigen Gefühl im Bauch nahm Delilah die Gläser und brachte sie den Gästen, die sie bestellt hatten. Es war ihr bereits aufgefallen, dass die Stimmung in der Bar aggressiver war als sonst, sie hatte es jedoch auf den Sturm und seine Folgen geschoben. Vorsichtig balancierte sie die Gläser zwischen den Gästen hindurch, in dieser Nacht hatte sie schon mehrfach einen Ellbogen in die Rippen bekommen.
„Hey, Tussi, wo bleibt mein Bier? Beweg deinen lahmen Arsch endlich mal, bevor ich ausgetrocknet bin.“
„Kommt sofort“, murmelte Delilah und versuchte jeden Augenkontakt mit dem grobschlächtigen Mann, der in Lederhose und Achselshirt breitbeinig auf einem Stuhl saß und ihr einen verächtlichen Blick zuwarf, zu vermeiden.“ Sie lief zurück zu Stan, der ihr zwei Biergläser zuschob.
„Nimm dich vor dem in acht“, warnte er sie. „Er nennt sich großspurig Ironfist, ist dumm wie Brot und gemeingefährlich. Glen hat sich im Knast schon mit ihm angelegt.“
Sie nickte und trug die Gläser mit klopfendem Herzen zu dem Tisch, stellte sie so schnell wie möglich ab und eilte weiter. Die anzüglichen Kommentare, die ihr hinterhergerufen wurden, versuchte sie zu ignorieren. Am nächsten Tisch beschwerten sich die Gäste darüber, dass sie keinen Burger bestellen konnten. Delilah versuchte, sie zu beschwichtigen, doch der steigende Blutalkoholpegel der Gäste half nicht dabei, dass ihre Erklärungen akzeptiert wurden. Sie wischte sich den Schweiß von der Stirn und hoffte darauf, dass die Nacht bald vorüber war. Tilly bewegte sich deutlich langsamer als sonst, sie schien Schmerzen zu haben und Delilah bemühte sich, sie zu entlasten, wo immer sie konnte. Eigentlich sollte Tilly gar nicht arbeiten, doch ohne ihre Unterstützung wäre Delilah in dieser Nacht nicht zurechtgekommen.
Erneut öffnete sich die Tür und vier junge Männer betraten die Bar. Das waren definitiv keine Biker. In ihren Jeans und Jacketts sahen sie eher aus wie Juppies, die in den Büros der Innenstadt arbeiteten und üblicherweise ihr Wochenende in einer der schicken Cocktailbars einläuteten. Sie besetzten den letzten freien Tisch und als Delilah ihre Bestellungen entgegennahm, erkannte sie mit Entsetzen Clive unter ihnen. Warum musste er ausgerechnet in Coles Bar auftauchen? Houston war so weitläufig und hatte eine riesige Auswahl an Kneipen.
„Wir haben gehört, dass der Kaffee hier ausgezeichnet sein soll“, meinte einer der Männer.
„Wollt ihr Café Crema, Cappuccino oder Latte macchiato? Der Chef macht auch Kaffeespezialitäten mit Alkohol, wahlweise mit Rum, Cognac oder einem Sahnelikör.“
„Ausgezeichnet, dann nehme ich eine Spezialität mit Cognac.“ Seine Begleiter schlossen sich der Bestellung an.
Als sie den Männern die Heißgetränke brachte, fixierte Clive sie mit zusammengezogenen Augenbrauen. „Kennen wir uns? Du kommst mir so bekannt vor.“
„Nicht, dass ich wüsste.“ Sie lächelte Clive krampfhaft an und war froh, als der Nachbartisch sie zu sich winkte.
Wenig später schallte Ironfists donnernde Stimme durch die Bar. „Hier kommt wohl kein Schwanz mehr vorbei, um uns zu bedienen. In diesen miesen Schuppen setze ich keinen Fuß mehr.“ Seine Tischgenossen quittierten den unflätigen Kommentar mit beifälligem Lachen.
Gegen einen erheblichen inneren Widerstand bewegte Delilah sich zu Ironfists Tisch. „Wwwas kkkkann ich für euch tun?“ So ein Mist! Jetzt fing sie auch noch an zu stottern.
„Bring uns noch ne Runde Bier, aber sonst tust du gefälligst nichts für uns, sondern hältst dich so weit von uns weg wie möglich, du Tunte.“
Delilahs Knie fühlten sich bedenklich weich an. „Bier kommt sofort“, presste sie heraus und hastete zur Theke. War das nur eine allgemeine Beleidigung gewesen oder wusste Ironfist, dass sie transgender war? Wenn er es wusste, dann würden es bald alle Gäste erfahren. Konnte sie dann noch im Liberty Roadhouse
arbeiten, ohne Cole in Verlegenheit zu bringen? Vermutlich würden einige Gäste wegbleiben, weil sie sich nicht von einer transsexuellen Kellnerin bedienen lassen wollten.
„Was ist passiert?“, fragte Stan und musterte sie kritisch. „Du bist totenblass unter deinem Make-up und deine Hände zittern so, dass ich dir nicht zutraue, das Bier zum Tisch zu bringen.“
„Nichts, alles klar“, log sie und griff nach den Gläsern. Den Gang zu Ironfists Tisch wollte sie so schnell wie möglich hinter sich bringen. Vorsichtig, denn ihre Hände zitterten in der Tat
wie Espenlaub, stellte sie die Gläser auf den Tisch und wandte sich zum Gehen ab. Doch noch bevor sie sich umdrehen konnte, spürte sie Ironfists harten Griff um ihren Oberarm.
„Meine Kumpels glauben mir nicht, was für eine Laus Cole sich da in den Pelz gesetzt hat.“ Dreckig grinste er sie an. „Ich habe um die nächste Runde gewettet, dass ich recht habe.“ Bevor Delilah wusste, wie ihr geschah, hatten sich Ironfists schmierige Finger in ihren Schritt gebohrt und quetschten ihre Eier. Panisch schrie sie auf.
„Wusste ich es doch.“ Sein hämisches Lachen schmerzte fast so sehr wie der Griff um ihre Eier, der immer fester wurde.
„Lass sie sofort los!“ Cole ballte die Faust und ging drohend auf Ironfist zu, der weiter lachte und den Druck noch verstärkte.
Wimmernd krümmte Delilah sich, zum Schreien hatte sie keine Luft mehr.
„Loslassen, sofort!“ Glens Stimme donnerte durch den Raum.
„Schon gut, nur nicht gleich ausflippen.“ Ironfist ließ Delilah los, hob beschwichtigend die Hände und grinste bösartig.
Keuchend sank Delilah zu Boden, Sterne tanzten vor ihren Augen.
„Süße, steh auf, ich bringe dich hier weg.“ Cole legte den Arm um sie und half ihr auf.
„Für ne richtige Frau hat es wohl nicht gereicht?“ Ironfist stand auf und blickte in die Menge. In der Bar war es totenstill geworden, fasziniert beobachteten die Gäste das Geschehen. „Habt ihr gewusst, dass das ne Transe ist? Wollt ihr das so etwas eure Burger antatscht?“
Cole richtete sich auf und straffte die Schultern. „Verschwinde hier, Ironfist. In meiner Bar will ich dich nie wieder sehen.“
„Keine Sorge, du kannst schon mal rosa Deckchen auf die Tische legen. Richtige Männer kommen sowieso nicht mehr in deine Bar.“
In der Zwischenzeit hatten sich Stan, Dan und seine Kumpels neben Cole und Glen aufgebaut. „Richtige Männer behandeln eine Dame anständig“, meinte Dan und legte Delilah die Hand auf die Schulter. „Wir sind heilfroh, wenn ihr hier nicht mehr auftaucht, denn der Einzige, den ich nicht in der Nähe meines Burgers haben möchte, bist du mit deinen Handlangern.“
Ironfist zog einen Schein aus der Hosentasche und warf ihn auf den Tisch. „Nichts wie raus hier.“ Beifall heischend blickte er in die Runde. „Kommt, Männer, wir suchen uns eine Bar, die nicht so tuntig ist.“ Seine Kumpane und die Gäste zweier weiterer Tische erhoben sich und folgten ihm.
„Es tut mir so leid, Cole“, flüsterte Delilah. „Jetzt verlierst du wegen mir noch deine Kunden.“
„Du hast nur effektiv aufgeräumt. Diese Typen will ich hier sowieso nicht haben.“
Dan klopfte ihr auf die Schulter. „Mach dir nichts draus, Mädchen. Gegen Intoleranz und Dummheit ist leider noch kein Kraut gewachsen.“
„Danke, Dan.“ Erleichtert nickte sie ihm zu und war dankbar, dass es auch Gäste gab, die sich nicht von ihr abgestoßen fühlten.
„Möchtest du nach Hause?“, fragte Cole. „Ich kann dich schnell fahren.“
„Nur, wenn du mich nicht mehr hier arbeiten lassen möchtest, jetzt, wo es alle wissen.“
„Das ist doch Blödsinn. Wer damit ein Problem hat, kann gerne gehen.“
„Dann arbeite ich weiter. Tilly ist diejenige, die nach Hause müsste.“
Cole nickte. „Ich weiß. Allerdings hat sie kein Zuhause mehr.“ Cole beugte sich vor und küsste sie auf den Mund. Bei der Arbeit hatte er das noch nie getan und Delilah sah sich erschrocken um. Doch die verbleibenden Gäste schienen kein Problem mit ihr zu
haben und waren wieder in ihre Gespräche vertieft. Nur Dan grinste sie an. „Damit habe ich die Wette gewonnen.“ Er deutete auf seine Freunde. „Die beiden Trottel haben mir nicht geglaubt, dass ihr ein Paar seid. Jetzt muss ich eine Woche lang meine Getränke nicht bezahlen.“
„Herzlichen Glückwunsch“, gratulierte Cole ihm trocken und nahm seinen Platz hinter dem Tresen ein. Auch Delilah ging wieder an die Arbeit. Der eine oder andere musterte sie mit Neugier oder Skepsis, doch die meisten Gäste lächelten sie freundlich an und versicherten ihr, dass sich für sie nichts geändert habe.
Allmählich wurde es ruhiger. Delilah stützte sich am Tresen ab und ließ die Schultern knacksen.
„Ganz schön anstrengend heute.“ Stan schob ihr ein Glas Wasser zu. „Für dich. Du hast noch gar nichts getrunken.“
Dankbar leerte sie das Glas in großen Zügen. Es war so viel los gewesen, dass sie keine Zeit gefunden hatte, in den Aufenthaltsraum zu gehen, um etwas zu trinken.
„Ich wusste doch, dass ich dich kenne.“
Erschrocken fuhr Delilah herum. Clive stand neben ihr und musterte sie mit gerunzelter Stirn. „Du bist David aus Billings.“
„Jetzt heiße ich Delilah.“
Missbilligend schüttelte Clive den Kopf. „Das kann ich kaum glauben. Du warst so ein hübscher Junge, aber in dieser Aufmachung …“
Seine Worte schmerzten Delilah fast so sehr wie Ironfists Griff in ihre Weichteile. Sogar Clive, der als homosexueller Mann sicher nicht nur auf Verständnis und Wohlwollen gestoßen war, verstand nicht, dass es sich bei Delilah nicht um eine „Aufmachung“ handelte, sondern darum, sein zu können, wer sie war.
„Wirklich ein Jammer“, fügte Clive noch hinzu und Delilah war im Nachhinein froh, dass sie nicht den Mut aufgebracht
hatte, Clive anzurufen, nachdem sie nach Houston gezogen war. Er war der Grund gewesen, warum sie die Stadt angesteuert hatte, und sie hatte gedacht, sie sei in ihn verliebt. Dankbar blickte sie zu Cole, der dabei war, das Bierfass auszutauschen. Damals hatte sie noch nicht gewusst, wie sich Liebe anfühlte.
Clive folgte ihrem Blick. „Dein Freund ist allerdings der Hammer, das muss ich schon zugeben.“
„Ja, und er liebt mich genau so, wie ich bin.“ Woher hatte sie nur den Mut zu diesem Satz aufgebracht? Und entsprach er überhaupt der Wahrheit?
Überrascht sah Clive sie an. „Na, von dem schüchternen, unsicheren David ist anscheinend wirklich nicht mehr viel übrig. Du scheinst herausgefunden zu haben, wer du bist und was du willst.“
Hatte sie das? Ja, sie wusste, dass sie sich ein Leben mit Cole wünschte. Doch hatte sie definieren können, wer sie war? Die Zweifel an ihrem Dasein waren noch immer präsent und damit auch die Unsicherheit, ob Cole zu ihr stehen und sie lieben konnte. Er hatte sie gefragt, ob sie eine Hormonbehandlung machen und sich operieren lassen wolle. Wollte sie das? Der Gedanke daran ängstigte sie. Wollte Cole es? Wäre es leichter für Cole, wenn sie eine richtige Frau werden würde?
Delilah war froh, als die letzten Gäste aus der Bar torkelten. Erschöpft ließ sie sich auf einen Stuhl fallen, nachdem sie die Tische gewischt und den Boden gefegt hatte.
„Hier sind noch ein paar Sandwiches.“ Glen stellte einen Teller auf den Tisch. „Emma ist aufgewacht und weint. Ich bringe sie und Tilly nach Hause.“
„Danke, dass du dich um sie kümmerst.“ Cole klopfte ihm auf die Schulter. „Und lasse sie bloß nicht allein zu Tom, diesem Arsch.“
„Er wird ihr kein Haar mehr krümmen“, knurrte Glen.
„Lass die Finger von ihm. Tilly hat nichts davon, wenn du wieder einsitzt, und ich kann es mir nicht leisten, den Koch zu verlieren.“
Glen schnaubte und stapfte in den Aufenthaltsraum. Wenig später kam er mit Emma, die schluchzend am Arm ihrer Mutter hing, zurück.
„Bis später“, rief Cole ihnen hinterher.
Stan brachte die Getränke und sank mit einem Seufzer auf den Stuhl neben Delilah. „Du hast dich heute wacker geschlagen. Dass du nach dem Zwischenfall mit Ironfist einfach weitergearbeitet hast, war stark“, meinte er anerkennend.
„Danke“, murmelte Delilah verlegen. Ihr gegenüber hatte Stan sich bislang höflich, aber distanziert verhalten. Das Lob von seiner Seite kam unerwartet.
„Wer war eigentlich der Mann, der dich an der Bar angesprochen hat?“, wollte Cole wissen.
„Clive ist der Neffe eines Bekannten meines Vaters, den ich vor ein paar Jahren bei einem Rodeo in Billings kennengelernt habe. Dank der Aktion von Ironfist hat er mich erkannt.“
Cole runzelte die Stirn. „Ist das ein Problem?“
„Ich denke nicht. Er lebt in Houston und ich glaube nicht, dass er viel Kontakt zu seinem Onkel hat“, beruhigte Delilah ihn und hoffte, dass dem auch so war.
„Hoffentlich hält Tilly diesmal durch“, murmelte Stan mit einem besorgten Gesichtsausdruck. „Vor drei Jahren hat sie sich schon einmal von Tom getrennt, hat sich aber von ihm weichklopfen lassen, als er angekrochen kam und versprochen hat, sich zu bessern. Ein paar Wochen später war alles wieder beim Alten.“
„Das hoffe ich auch.“ Cole stand auf und räumte die Teller in die Küche. Sie verließen die Bar und fuhren nach Hause.
„Macht es dir wirklich nichts aus, dass deine Kunden jetzt Bescheid wissen?“, vergewisserte Delilah sich, als sie in die Einfahrt einbogen.
„Muss ich dir diese Frage wirklich beantworten?“
„Ja, ich möchte es aus deinem Mund hören, sonst kann ich es nicht glauben. Stört es dich nicht, wenn die Leute sich das Maul darüber zerreißen, dass du mit einer Transsexuellen zusammen bist? So wie Ironfist denken viele Menschen.“
„Was andere denken, hat mich noch nie interessiert. Du bist perfekt, so wie du bist.“
Einen Moment lang zögerte Delilah. „Möchtest du, dass ich mich operieren lasse?“
„Dein Körper gefällt mir wie er ist. Aber wenn du dich mit Brüsten und einer Scheide wohler fühlst, dann wirst du mir auch gefallen.“
„Ich weiß nicht …“
„Dann lasse nichts machen. Bevor du so einen Schritt gehst, musst du dir ganz sicher sein.“
In Gedanken versunken putzte Delilah sich die Zähne und stellte sich unter die Dusche. Sie seifte sich ein, wusch sich und strich über ihren Oberkörper, den Bauch und den Schamhügel. Sie griff nach dem Rasierer und entfernte die Stoppeln, die sich im Laufe der Nacht gebildet hatten. Glatt und weich fühlte sich die Haut unter ihren Fingern an. Nachdem sie sich abgetrocknet hatte, stellte sie sich vor den Spiegel und betrachtete sich. So schlecht sah sie gar nicht aus, wenn man außer Acht ließ, dass sie den gängigen Vorstellungen nicht entsprach. Ihr schmaler Körperbau, über den sich ihr Vater und die Brüder immer lustig gemacht hatten, war irgendwo zwischen männlich und weiblich angesiedelt, doch wenn man die Einteilung in Geschlechter beiseiteließ, bot er ein harmonisches Bild. Die langen Beine hatten eine gefällige Form, die Hüften waren schmal und der Bauch flach. Ihre Schultern hatten eine schöne Rundung und
wenn sie sich bewegte, sah man die Ansätze der flachen, aber schön definierten Muskeln an den Schultern und den Rippen spielen. Konnte es sein, dass Cole über die Grenzen der konventionellen Betrachtungsweise hinausblickte und sie schön fand? War er so frei, dass er die Kategorien, in die Menschen eingeteilt wurden, ignorieren und sie unvoreingenommen annehmen konnte? Sie selbst war es nicht, ihre eigene strenge und schmerzhafte Erziehung erlaubte es ihr nicht, die Mauern zu sprengen. Doch wenn Cole sie berührte, wenn er ihrem Körper huldigte und ihr Empfindungen schenkte, von deren Intensität sie überwältigt war, dann hörte sie es knacken. Vielleicht bekamen die Wände des Verlieses, in dem sie sich befand, doch noch Risse.
Nackt schlüpfte sie zu Cole unter die Decke. Im Halbschlaf grunzte er und zog sie an sich. Seine Hand wanderte zwischen ihre Beine, wo er mit trägen Bewegungen ihre Eier kraulte. Immer zögerlicher bewegten sich seine Finger, bis seine Hand schließlich zum Stillstand kam. Ihr Geschlecht lag locker in Coles Handfläche und er schnarchte ihr leise ins Ohr. So oft schon war er mit seiner Hand zwischen ihren Beinen eingeschlafen. Warum? Mochte er ihren Penis und ihre Hoden? Waren sie für ihn nicht nur störende Anhängsel? Beschützend lag seine Hand um die Weichteile, als wolle er sie vor Ironfists Anfeindungen und vielleicht sogar vor einem Skalpell bewahren.