Kapitel 20
Delilah
Alles war so schnell gegangen, sie konnte es kaum fassen. Ihr Koffer stand gepackt im Schlafzimmer und das Ticket für den Flug lag in einem Umschlag darauf. Schon morgen war es so weit! Cole heizte den Grill vor, die Getränke standen bereit und jeden Moment würden Tilly, Emma und Glen mit ihren Taschen vor der Tür stehen, um Coles Villa zu beziehen.
Vor ein paar Wochen hatte Cole ihr den Vorschlag gemacht, mit ihm in Berlin zu leben. Die Vorstellung, mit Cole den Atlantik zu überqueren und in ein fremdes Land zu ziehen, war aufregend und beängstigend zugleich. Sie war noch nie geflogen, sprach kein Wort Deutsch und hatte keine Ahnung, was auf sie zukam. Die Ängste und freudige Erwartung wechselten sich ab. Ihr ganzes Leben lang hatte sie davon geträumt, zu reisen und die Welt zu erkunden. Das Abenteuer stand vor der Tür und die Verlockung war größer als alle Bedenken.
„Was ist mit deiner Bar?“, hatte sie Cole gefragt.
„Vielleicht wollen Stan, Tilly und Glen sie übernehmen.“
Zweifelnd hatte Delilah die Stirn zusammengezogen. Die drei lebten von der Hand in den Mund und hatten sicher nicht die nötigen Ersparnisse, um Cole die Bar abzukaufen.
Ein paar Tage Bedenkzeit hatte sie benötigt, doch dann hatte sie Cole gesagt, dass sie mit ihm nach Deutschland übersiedeln würde. Delilah schwirrte noch immer der Kopf, wenn sie daran dachte, in welcher Geschwindigkeit Cole anschließend alles geregelt hatte. Stan, Tilly und Glen hatten Cole die Bar zu einem lächerlich niedrigen Preis abgekauft. Erst hatten sie sein großzügiges Angebot nicht annehmen wollen, doch Cole hatte darauf bestanden und ihnen gesagt, dass sie ihm damit einen Gefallen erweisen würden, weil er die Bar bei ihnen in guten Händen wüsste. Außerdem hatte er Tilly angeboten mit Emma und Glen in sein Haus zu ziehen. „Dann muss ich es nicht verkaufen oder vermieten. Wenn ihr darin wohnt, weiß ich, dass ihr euch um alles kümmert und mit dem Haus und den Möbeln gut umgeht. Und wenn Delilah und ich zu Besuch kommen, haben wir immer einen Platz zum Schlafen.“
Natürlich war das nur eine Ausrede. Delilah wusste, dass Cole seine Freunde versorgt wissen wollte und seine Großzügigkeit schien grenzenlos zu sein. Die Türglocke läutete und Delilah eilte durch den Flur, um ihre Freunde einzulassen. Glen trug zwei große Koffer, Tilly hielt eine Schüssel mit Salat in den Händen und Emma ein frisch gebackenes Maisbrot. „Kommt rein.“
Tilly stellte die Schüssel ab und fiel ihr um den Hals. „Ich kann es immer noch nicht glauben, dass ihr wegzieht. Wir werden euch vermissen.“ Tränen kullerten über ihre Wangen.
„Wir besuchen euch“, versprach Cole, der den Grill im Stich gelassen hatte, um Glen mit den Koffern zu helfen. Tilly und Emma bezogen das Gästezimmer und nach ihrer Abreise bekam Glen Coles Schlafzimmer. Eine Nacht würde er auf dem Sofa schlafen. Cole versorgte alle mit Getränken und Steaks. Gerade als sie begonnen hatten, klingelte Stan. Er umarmte Cole und klopfte ihm auf die Schulter. „Danke nochmal, für alles. Von einer eigenen Bar träume ich schon lange, hätte aber nie gedacht, dass dieser Wunsch in Erfüllung gehen würde. Wir werden das Liberty Roadhouse in deinem Sinne weiterführen und uns gut um alles kümmern.“
„Das weiß ich. Und ich bin froh, dass ihr die Bar übernommen habt.“ Sichtlich gerührt hob Cole seine Bierflasche und prostete Stan zu.
„Werdet ihr in Berlin auch eine Bar eröffnen?“ Tilly reichte Stan die Salatschüssel.
„Nein, keine Bar.“
„Was macht ihr dann?“
Grinsend griff Cole nach der Grillzange und wendete die Würstchen. „Ich habe eine Idee, aber die ist noch in Entwicklung.“
Delilah horchte auf. Natürlich hatte sie sich schon die Frage gestellt, wovon sie in Berlin leben sollten und war davon ausgegangen, dass sie sich erst einmal einen Job suchen würden. Leicht würde das nicht werden, zu ihrem Problem, transgender zu sein, gesellten sich die mangelnden Sprachkenntnisse. Seit sie beschlossen hatten, nach Deutschland zu ziehen, paukte sie in jeder freien Minute Vokabeln, um zumindest ein paar Worte verstehen zu können, doch weit gekommen war sie noch nicht. Was hatte Cole vor? Sobald sie unter sich waren, würde sie ihn löchern.
„Habt ihr schon eine Wohnung in Berlin?“, wollte Glen wissen.
Cole nickte. „Ein Freund hat eine schöne Wohnung gefunden, sie wird gerade renoviert.“
„Was ist mit Möbeln?“ Tilly angelte nach einem Würstchen und legte es auf Emmas Teller. „Willst du die schönen Möbel wirklich alle hierlassen oder sollen wir wenigstens einen Teil verschiffen lassen?“
„Einige Möbel habe ich noch. Sie stehen bei meiner Schwester und wir können sie holen, wenn die Wohnung fertig ist. Den Rest mache ich nach und nach. Ich freue mich schon darauf, wieder neue Möbel zu tischlern.“ Im Gegensatz zu der Sache mit ihrer beruflichen Zukunft hatte Cole sie darüber informiert. Coles ehemaliger Mitbewohner Gregor hatte eine Wohnung gefunden und ihnen Fotos geschickt. Sie war heruntergekommen, hatte aber einen schönen, großzügigen Schnitt und Cole hatte zufrieden gemeint, sie liege im richtigen Kiez, was auch immer das bedeutete. Coles Schwester hatte die Wohnung besichtigt, gekauft und einen Generalunternehmer mit der Sanierung beauftragt. Dass sie einfach so eine Wohnung erwerben konnte, war Delilah surreal vorgekommen. Auch Coles unglaubliche Freigiebigkeit und die Leichtigkeit, mit der er alles, was er hatte, zurückließ, waren für Delilah schwer nachzuvollziehen. Coles Villa, sein Auto und die Harley ließen keinen Zweifel daran, dass er wohlhabend war. Doch war er so reich, dass er die Bar verschenken konnte? Das Auto, die Harley und die Maschinen aus der Schreinerei hatte er verkauft und die Villa gehörte noch ihm, wenn er auch Tilly, Emma und Glen kostenfrei darin wohnen ließ. Innerlich schüttelte Delilah den Kopf. Sie freute sich über Coles Großzügigkeit und darüber, dass er für seine Freunde sorgte, hatte aber Schwierigkeiten damit, seine Entscheidungen nachzuvollziehen. Sie selbst war in einem Haushalt groß geworden, in dem jeder Cent zweimal umgedreht wurde, bevor man ihn ausgab. Vielleicht waren auch die unterschwellig lauernden Existenzängste, in denen seine Eltern schon immer lebten, ein Grund für ihre Härte und Intoleranz. Vielleicht bedurfte es finanzieller Sicherheit, um ein so freies Leben zu führen wie Cole.
„Wo wohnt ihr, bis die Wohnung fertig ist?“ Tilly schenkte Glen Bier nach und er bedankte sich bei ihr, indem er ihr Knie tätschelte und seine Hand dann dort parkte. Innerlich musste Delilah grinsen, als sie den Blick auffing, den Tilly ihm daraufhin zuwarf. In der Küche der Bar hatte sie die beiden auch schon beim Küssen erwischt. Lange würde Glen in Coles Schlafzimmer nicht allein bleiben.
„Bei meinen Eltern“, antwortete Cole. Davor hatte Delilah am meisten Sorgen. Wie würden Coles Eltern sie aufnehmen? Er hatte ihnen erzählt, dass sie transgender war und auf ihre Frage, wie sie darauf reagiert hätten, meinte Cole nur, sie solle sich keine Gedanken machen. Doch natürlich grübelte sie darüber nach und stellte sich vor, wie sein Vater sie mit einem verächtlichen Blick taxieren würde. Vor Coles Schwester Caroline hatte sie keine Angst. Mir ihr hatte sie bereits mittels Videoanrufen geplaudert, sie war entspannt und freundlich.
Stan griff nach seinem Bier, lehnte sich entspannt zurück und ließ den Blick durch den Garten schweifen. „Wirklich schön hier.“
„Zieh doch auch ein“, schlug Tilly vor. „Platz ist genug, wenn wir umräumen und aus Coles Büro noch ein Schlafzimmer machen. Dir hat er es genauso angeboten wie uns.“
Stan schüttelte den Kopf. „So sehr ich euch auch liebe, ab und zu brauche ich eine Pause von euch.“
Tilly lachte. „Kann ich verstehen.“
Delilah räumte die Teller zusammen. „Möchte jemand noch einen Nachtisch? Emma, ein Eis?“ Am Vortag hatte Delilah eingekauft und die Vorräte aufgestockt. Dabei hatte sie auch Süßigkeiten für Emma besorgt.
„Hast du Regenbogeneis?“
„Klar.“ Delilah wusste, wie sehr Emma das quietschbunte und nach künstlichen Aromen schmeckende Eis liebte.
Sie ließen den Abend gemütlich ausklingen und als Delilah sich später in Coles Umarmung kuschelte, flüsterte sie ihm zu: „Morgen geht das große Abenteuer los.“
Coles leises Lachen vibrierte zwischen ihnen. „Erwarte nicht zu viel. Wir ziehen nur in eine andere Stadt.“
„Du tust das wegen mir, oder?“ Seit Cole sie gefragt hatte, ob sie mit ihm nach Berlin ziehen wolle, hatte sie diese Vermutung gehabt. Immer wieder einmal hatte Cole erwähnt, dass Berlin eine große Schwulenszene habe und dort auch viele Transsexuelle lebten. Berlin sei ein Magnet für alle, die sich nicht an die gängigen Normen anpassen wollten, weil man vergleichsweise frei und unbehelligt seine Besonderheiten ausleben könne.
Coles Brummen war Antwort genug.
„Danke“, flüsterte sie und kuschelte sich noch tiefer in seine Umarmung. Sie konnte es kaum glauben, dass Cole alles aufgab, was er sich in Houston aufgebaut hatte, um ihr ein besseres Leben zu ermöglichen. „Was ist das für eine Idee, die du Tilly gegenüber erwähnt hast? Mir hast du davon gar nichts erzählt.“
„Das bleibt noch mein Geheimnis.“
„Jetzt machst du mich aber neugierig. Kannst du es mir nicht verraten?“
„Nein“, antwortete Cole bestimmt.
„Bist du sicher, dass ich dich nicht überreden kann?“ Delilah ließ ihre Hand zwischen Coles Beine wandern.
Grinsend spreizte Cole die Beine. „Du kannst dich gerne da unten vergnügen. Ich habe schon den ganzen Tag so einen Druck. Verraten werde ich allerdings nichts.“
„Ich versuche es trotzdem.“ Sie rutschte zwischen seine Beine und sog Coles unvergleichlichen Duft ein. Sie liebte es, ihn zu verwöhnen, ihn zu riechen, zu schmecken und die Laute seiner Erregung zu hören. Voller Hingabe spielte sie mit seiner Lust und brachte ihn zum Erbeben. Sein Geheimnis behielt er für sich, doch das war in Ordnung. Sie würde es schon noch erfahren. Es wunderte Delilah, wie wenig Wehmut sie darüber empfand, den Kontinent zu verlassen, auf dem sie geboren worden war, und mit welcher Zuversicht sie in die Zukunft blickte. Solange Cole bei ihr war, fühlte sie sich stark genug, alle Herausforderungen zu meistern.
Am darauffolgenden Nachmittag fuhr Glen sie zum Flughafen, nachdem Tilly sich tränenreich von ihnen verabschiedet hatte. Delilah konnte vor Aufregung kaum noch klar denken und blickte ständig auf die Uhr, weil sie befürchtete, sie könnten den Flieger verpassen. Erleichtert atmete sie tief durch, als sie endlich ihren Platz in der Maschine eingenommen hatten. Als die Maschine abhob, drückte sie Coles Hand so fest, dass er sich beschwerte. Was für ein unglaubliches Gefühl, von der Erde abzuheben! Gebannt starrte sie auf die kleiner werdenden Häuser, bis die Wolkenkratzer der Innenstadt nur noch wie Bauklötzchen wirkten. Sie konnte kaum die Augen vom Fenster abwenden, als sie eine Wolkendecke durchquerten, die Sicht erst trüb wurde und sie anschließend die weißen Wattebäusche von oben bewundern konnte. Später schimmerte das Blau des Atlantiks unter ihnen, während sie nach Osten flogen. Rasend schnell vergingen die zehn Stunden, bis der Pilot zum Landeanflug auf Frankfurt ansetzte. Cole hatte eine Weile geschlafen, doch Delilah war viel zu aufgewühlt gewesen. Immer wieder hatte sie sich in den Arm kneifen müssen, um sicherzugehen, dass sie nicht träumte.
Nach einem kurzen Aufenthalt in Frankfurt stiegen sie in die Maschine nach Berlin, wo sie von Coles Schwester und seinen Eltern empfangen wurden. Delilah war überrascht über den großen Bahnhof und die entspannte Freundlichkeit, mit der nicht nur Caroline, sondern auch Coles Eltern sie empfingen. Dieser Begegnung hatte sie mit Sorge entgegengeblickt. Auch wenn Cole sich nicht um die Meinung anderer zu kümmern schien, und es ihm niemals peinlich oder unangenehm zu sein schien, dass sie transgender war, so wollte sie doch nicht, dass seine Eltern ihre Beziehung verurteilten. Delilah hatte zwar akzeptiert, dass ihre eigenen Eltern niemals gutheißen würden, wie sie lebte, doch es zu akzeptieren, bedeutete nicht, dass sie nicht darunter litt. Und Cole sollte nicht auch noch leiden.
„Willkommen in eurem vorübergehenden Zuhause“, meinte Coles Mutter, als sie vor einem futuristischen Bau anhielten, der aus mehreren übereinandergestapelten Quadern auf einem Sockel zu bestehen schien.
Eingeschüchtert betrachtete Delilah die riesigen Glasfronten und die Balkone, die von durchgehenden Glasgeländern eingefasst waren. Das Gebäude wirkte nicht wie ein Einfamilienhaus, sondern wie ein Museum für Moderne Kunst. Auch im Inneren des Hauses kam sie sich vor wie in einer Ausstellung. Das Erdgeschoß war ein einziger riesiger Raum mit hohen Decken, großformatigen modernen Gemälden an den Wänden und einer freistehenden Treppe, die nach oben führte. Der Boden bestand aus poliertem Beton und die kühle Nüchternheit, die er ausstrahlte, wurde nur durch hochflorige Teppiche unterbrochen, die in einzelnen Bereichen ausgelegt waren.
„Ich habe einen Auflauf vorbereitet, den ich nur noch in den Ofen schieben muss“, erklärte Coles Mutter, der Coles Schwester Caroline wie aus dem Gesicht geschnitten war.
Coles Vater, der gemeinsam mit ihm die Koffer aus dem Wagen geholt hatte, wies auf die Treppe. „Ihr könnt euch oben frisch machen und euch einrichten, bis das Essen fertig ist“, schlug er mit seinem breiten texanischen Akzent vor. Wie Cole ihr erzählt hatte, hatten seine Eltern sich in Houston am MD Anderson Cancer Center in der Neuroonkologie kennengelernt, wo seine Mutter ein Jahr lang gearbeitete hatte. Die beiden hatten sich ineinander verliebt und gemeinsam an verschiedenen Kliniken in Deutschland und in den USA gearbeitet, bevor sie die Rehabilitationsklinik übernahmen, die Coles Großvater aufgebaut hatte.
„Wir brauchen nur den grauen Koffer“, meinte Cole und griff nach dem Schalenkoffer, in den sie gepackt hatten, was sie für den Aufenthalt bei Coles Eltern benötigten. „Die anderen bringe ich nachher in den Keller.“ Delilah folgte ihm über die ausladende Treppe nach oben in ein großes, helles Zimmer mit einem breiten Bett. „Bis ich mit Gregor zusammengezogen bin, habe ich hier gewohnt“, erklärte Cole und zeigte auf eine Tür, die von dem Zimmer abging. „Da ist das Bad.“
Delilah packte die wenigen Habseligkeiten aus, die sie eingepackt hatte und stellte sich unter die Dusche. Alles war noch edler und hochwertiger als in Coles Haus in Houston. So wohlhabend war Cole aufgewachsen! Sie fühlte sich schäbig und wertlos, als sie in ihre billigen Kleider vom Discounter schlüpfte. Doch dann zog Cole sie in die Arme und küsste sie. „Willkommen in Berlin, mein Schatz. Ich freue mich so darauf, mit dir hier ein neues Leben zu beginnen.“ Sein Blick war voller Liebe und Wärme und sie spürte, dass ihre Kleider und ihre Herkunft Cole gleichgültig waren. Er sah etwas anderes in ihr, etwas Wertvolles, das sie selbst nicht entdecken konnte.