Kapitel 22
Delilah
Sie zog die Perücke aus und betrachtete das Elend auf ihrem Kopf. Trotzdem Cole sie im Big Bend Nationalpark glattrasiert hatte, waren die Haare ungleichmäßig nachgewachsen. Vorn hingen ihr die mittelbraunen Strähnen schon in die Augen, an den Seiten und hinten sah sie aus wie ein zerrupftes Huhn.
Cole trat aus der Dusche und fing ihren Blick im Spiegel ein. „Was hältst du von einem Friseurtermin?“
„Was soll er denn aus diesem Chaos machen?“
„Mach doch einen Termin bei Silvio aus und lasse dich beraten.“
Zweifelnd fuhr sie mit den Fingern durch die Strähnen. Sie musste etwas mit den Haaren machen lassen, so sah es einfach nur furchtbar aus. Außerdem war die Länge so ungünstig, dass es schwierig wurde, sie unter der Perücke zu verstecken. „Versuchen kann ich es ja mal.“
„Den Termin bei Dr. Rieger musst du auch vereinbaren.“
Verärgert drehte sie sich um. „Ich habe dir doch gesagt, dass ich nicht mit einem Psychiater reden möchte.“
„Gib der Sache eine Chance. Ich habe Dr. Rivera versprochen, mich darum zu kümmern, dass du eine Therapie machst.“
„Das will ich aber nicht.“
„Den Täter-Opfer-Ausgleich mit deiner Familie wolltest du auch nicht, doch im Nachhinein war es gut, dass Dr. Rivera dich dazu überredet hat.“
Seufzend setzte Delilah die Perücke wieder auf. Sie musste zugeben, dass sie froh war, diesem Treffen zugestimmt zu haben. Der Gedanke daran, dass ihr Vater ihr ins Gesicht sehen, sie bei ihrem Namen nennen und sich entschuldigen musste, erfüllte sie mit Genugtuung. Es hatte ihr geholfen, Stärke aus dem Vorfall zu ziehen und zurück zu Delilah zu finden. „Also gut. Einmal treffe ich mich mit ihm und dann sehe ich weiter.“
„Ich gebe dir den Zettel, auf den Gregor die Telefonnummer der Praxis und auch die des Friseurs aufgeschrieben hat.“
Sie nickte und legte in Gedanken bereits die Worte zurecht, die sie am Telefon benötigen würde, um die Termine zu vereinbaren. Es überraschte sie selbst, wie gut sie zurechtkam. Sie nutzte jede Gelegenheit, Deutschvokabeln zu pauken und die meisten Leute verstanden genug Englisch, um ihr zu helfen, wenn sie in ihre Muttersprache wechseln musste. Sicherlich war ihre Grammatik grauenhaft, doch sie war fest entschlossen, Deutsch zu lernen. Sie wollte dieses neue Leben mit Cole und würde alles dafür tun. „Kommst du mit in die Praxis?“
„Ich muss an den Möbeln arbeiten und außerdem denke ich, es ist besser, wenn du das allein machst.“
„Kann sein.“ Nach ihrer Entführung war Cole in Houston sehr protektiv gewesen und hatte sie kaum einen Schritt allein gehen lassen. Doch in Berlin war er entspannt und ließ die Leine locker. Manchmal bedauerte Delilah es, denn Coles Fürsorge bei jedem Schritt zu spüren, fehlte ihr. Doch auf diese Weise lernte sie schneller, sich in dem fremden Land, das zu ihrer neuen Heimat werden sollte, zu behaupten. Und wenn sie es geschafft hatte, sich durchzubeißen, erfüllte sie das mit Stolz und Zufriedenheit.
Silvio, der Friseur, den Gregor Cole empfohlen hatte, gab ihr noch für denselben Nachmittag einen Termin. Er begrüßte sie mit einem freundlichen Nicken und führte sie durch den schmalen, sehr stylisch in den Farben Schwarz, Weiß und Pink eingerichteten Laden. Einzig eine bunte Decke auf dem Boden in einer Nische, auf der ein Husky lag, durchbrach die harmonische Farbwahl. Der Husky hob den Kopf, als Delilah vorbeiging. Ein Anflug von Heimweh durchzuckte sie. Die Pferde und Hunde der Ranch fehlten ihr. Sie ging in die Hocke und ließ den Hund an ihrer Hand schnuppern. Silvio drehte sich um und lächelte. „Das ist Spike.“
„Hallo, Spike“, flüsterte Delilah und kraulte ihn hinter den Ohren. Am liebsten wäre sie einfach bei Spike hockengeblieben. Ihr grauste es davor, die Perücke auszuziehen. Bislang war Cole der Einzige, der sie so zerrupft gesehen hatte. Doch sie konnte Silvio nicht so lange warten lassen, sicher hatte er viel zu tun. Er betrachtete sie mit einem nachdenklichen Gesichtsausdruck, als sie sich mit einem leisen Seufzer erhob und ihn ansah.
„Oben ist noch ein Zimmer, das ich eigentlich zum Enthaaren nutze. Dort habe ich einen zusätzlichen Platz zum Schneiden und wir wären ungestört.“
„Danke“, hauchte sie erleichtert.
Eine schmale Wendeltreppe führte in den ersten Stock. Delilah folgte Silvio und bewunderte sein Hinterteil, das er mit einer knallengen gestreiften Hose spektakulär in Szene gesetzt hatte. Dazu trug er ein luftiges, ärmelloses Oberteil in Zartrosa. Ein mutiges Outfit, das Delilah ausgesprochen gut gefiel. Es spielte raffiniert mit männlichen und weiblichen Elementen und sprach sie genau an. Sie hatte wieder zu Delilah zurückgefunden, doch manchmal hatte sie das Bedürfnis, David Raum zu geben. Nur wenn sie mit Cole intim war, fühlte sie sich vollkommen und einig in dem, was sie war. Seine Art, sie zu berühren und die Erregung in seinen Augen, wenn er ihren Körper mit allem, was dazugehörte, betrachtete, gaben ihr das Gefühl, dass alles an ihr zusammenpasste.
„Setz dich.“ Silvio rückte ihr einen Friseurstuhl zurecht, der schon ziemlich abgewetzt und lange nicht so stylisch war, wie die Stühle unten. „Das war der erste Stuhl, den ich für meinen Laden gekauft habe. Es ist reine Nostalgie, dass er hier noch steht.“
Sie nahm Platz, starrte ihr Spiegelbild an und konnte ihre Hände nicht dazu überreden, die Perücke abzunehmen.
„Darf ich sie dir ausziehen?“, fragte Silvio mit sanfter Stimme. Sicher war ihm nicht verborgen geblieben, wie nervös sie war.
„Okay“, wisperte sie.
Vorsichtig fuhr Silvio mit den Fingern unter den Filmansatz und nahm die Perücke ab. Er fuhr durch die Haare und strich über die Narben auf der Kopfhaut. „Wie sollen die Haare langfristig aussehen?“, fragte er und suchte ihren Blick im Spiegel.
Delilah zuckte mit den Schultern. Wenn sie dieses Gestrüpp auf ihrem Kopf betrachtete, hatte sie keine Ahnung, was Silvio daraus machen sollte.
„Wie waren sie vorher?“ Vorsichtig berührte er die Narben und signalisierte ihr damit, dass er sich ein ungefähres Bild davon machen konnte, was ihr widerfahren war.
„So ähnlich wie die Perücke.“
„Möchtest du sie wieder blond färben und schulterlang wachsen lassen?“
„Ich bin mir nicht sicher.“
Silvio knetete die kurzen braunen Haare, nahm ihren Kopf zwischen die Hände und drehte sie ins Profil. Er räusperte sich. „Darf ich ein paar sehr persönliche Fragen stellen?“
Verwirrt zog sie die Augenbrauen zusammen.
„Ich möchte nur verstehen, was du brauchst. Wenn dir die Fragen zu weit gehen, dann antworte nicht darauf.“
„In Ordnung.“ Ihre Unruhe wuchs. Was wollte er wissen? Es war nur ihr Friseur. Wie sollte es erst werden, wenn der Psychiater sie ausquetschte.
„Einige meiner Kunden sind transident, manche sehen sich aber auch als nicht-binär oder genderfluid“, begann Silvio, während er ihre Haare mal zur einen mal zur anderen Seite kämmte und sie dabei kritisch im Spiegel betrachtete. Natürlich hatte Delilah die Definitionen für diese Begriffe im Internet gelesen und sich gewundert, wo diese Menschen waren, dass man ihnen überhaupt Raum für die Einordnungen gab. Sie hatte noch niemanden kennengelernt, der empfand wie sie, und fühlte sich allein. „Du lebst als Delilah, nimmst aber keine Hormone, oder?“
Sie schüttelte den Kopf.
„Deine Barthaare sind auch nicht gelasert.“ Er strich über ihr Kinn, wo er die Stoppeln unter dem Make-up sicher fühlen konnte. „Und ich gehe davon aus, dass du auch keine angleichende Operation hattest.“
„Nein“, bestätigte sie mit krächzender Stimme.
„Bist du ganz Frau oder hast du auch eine männliche Seite?“
So herum war sie das noch nie gefragt worden und da sie als Delilah manchmal Sehnsucht nach David verspürte, hatte sie wohl auch eine männliche Seite. „Ich bin noch dabei, herauszufinden, was ich genau bin.“
„Vielleicht lässt sich das nicht auf einen Punkt bringen, weil es variiert. Das mag zwar anstrengend sein, gibt dir aber auch eine Menge Spielraum zum Experimentieren. Wenn du die Grenze zwischen Mann und Frau als fließend betrachtest, kannst du dir aus beiden Geschlechtern herauspicken, was dir gefällt und was zu dir passt.“
Delilah starrte ihn an. Bislang hatte nur Cole ihr den Vorschlag gemacht, sich nicht festzulegen, was ihr abwegig und nicht durchführbar erschienen war. Aus Silvios Mund klang es so mühelos und unkompliziert.
Erneut ließ Silvio seine Finger durch ihre Haare gleiten. „Ein schönes Braun. Es unterstreicht die ungewöhnliche Farbe deiner Augen.“ Er beugte sich vor. „Sie glänzen wie ein Smaragd. Ich könnte dir einen Schnitt machen, den du als Frau und als Mann tragen kannst. Wenn ich sie vorn stehen lasse und hinten kurz schneide, kannst du sie einfach so tragen, zurückgelen oder ganz neckisch einen Teil der Haare wegstecken.“
„Okay.“ Fasziniert beobachtete Delilah, wie Silvio die Schere schwang und mit geübten Bewegungen Form in das Chaos auf ihrem Kopf brachte. Immer wieder legte er den Kopf schräg, kniff die Augen zusammen und betrachtete sie kritisch von allen Seiten. Als er fertig war, erkannte Delilah sich kaum wieder. Ein schöner, fransig geschnittener Pony fiel ihr ins Gesicht und an den Seiten und hinten waren die Haare kurz geschnitten. Es sah modern, schick und frech aus.
„So bringst du deine schöne Kopfform richtig zur Geltung und auch dein Nacken wird zum echten Hingucker.“ Er griff nach einem Döschen. „Ich zeige dir noch ein paar Variationen, die du mit dem Haarschnitt zaubern kannst.“ Er knetete ein wenig Wachs in die Haare, kämmte sie zu einem schrägen Scheitel und steckte sie fest. Dadurch wirkte der Schnitt mit einem Mal sehr weiblich. „Das ist eine Möglichkeit.“ Zufrieden betrachtete er sie im Spiegel und machte sich dann erneut an den Haaren zu schaffen. Mit einer größeren Portion Gel kämmte er die Haare komplett aus dem Gesicht und strich sie wellig über den Kopf nach hinten. Auch dieses Styling mit den dunkel glänzenden Haaren im Wetlook gab ihrem Gesicht einen komplett neuen Ausdruck, selbstbewusst und modisch. „Mit der jeweils passenden Kleidung kannst du das noch unterstreichen“, meinte Silvio. „Hierzu könnte ich mir eine Lederjacke super vorstellen oder ganz raffiniert eine schwarze Bluse mit Spitze.“
„Das sieht klasse aus“, meinte Delilah und betrachtete sich bewundernd im Spiegel.
„Natürlich kannst du auch immer noch die Perücke tragen. Sie ist hochwertig und steht dir gut. Dir stehen so viele Möglichkeiten offen, dich auszudrücken.“
Sie spürte ein aufgeregtes Pochen im Brustkorb. Konnte sie beides sein und mit ihrer Frisur und den Kleidern ihre weibliche und ihre männliche Seite gleichzeitig unterstreichen? Sie dachte an Edgar, der ungeniert im Stringtanga die Treppen wischte, und an das bunte Treiben auf den Straßen Berlins. Vermutlich würde sie keine Aufmerksamkeit erregen, die Menschen waren an Vielfalt gewöhnt. Wie würde es sich anfühlen, nichts mehr verstecken zu müssen? Die Freiheit, von der sie schon immer geträumt hatte, rückte in greifbare Nähe.