Kapitel 23
Delilah
Nervös rutschte Delilah auf dem Polster hin und her. Ihr schräg gegenüber saß Dr. Rieger und musterte sie freundlich. Wenn Cole doch nur bei ihr wäre! Gerade ging es ihr so gut, das Café nahm Formen an, der Boden war verlegt, sie hatten die Farbe für die Wände ausgesucht, die Küche wurde eingebaut und die Theke würde in der kommenden Woche geliefert werden. Cole hatte auch die ersten Tische und Stühle fertiggestellt und Delilah hatte schon genau vor Augen, wie alles aussehen würde, wenn es fertig war. Sie freute sich so darauf und auch darauf, ihre gemeinsame Wohnung zu beziehen, die ebenfalls fast fertig renoviert war. Einige Möbel hatte Cole bei seiner Schwester untergestellt und die anderen würde er nach und nach anfertigen. Sie war glücklich und hatte alles, was im vergangenen Herbst geschehen war, in die hinterste Ecke ihres Bewusstseins geschoben. Nur gelegentlich wachte sie morgens noch schweißgebadet auf und bekam erst wieder Luft, nachdem sie sich vergewissert hatte, dass Cole neben ihr lag und sie nicht mehr im Schuppen ihres Vaters war. Warum musste sie die schrecklichen Dinge herauskramen und damit nochmals alles durchleben, was ihr widerfahren war? Sie hatte Cole zugesagt, mit Dr. Rieger zu sprechen, doch ihr grauste so sehr davor, dass sie am liebsten davongerannt wäre.
„Delilah ist ein ungewöhnlicher, klangvoller Name. Haben Sie sich diesen Namen ausgesucht?“
Sie hörte auf ihre Hände zu kneten und blickte auf. „Ja, als ich etwa zwölf Jahre alt war, habe ich den Song Hey There Delilah von den Plain White T‘s im Radio gehört und mich in den Namen verliebt. Ich habe davon geträumt, dass es mein Name wäre und als ich vor knapp zwei Jahren begann, als Frau zu leben, war es klar für mich, dass ich so heiße.“
Dr. Rieger nickte. „Ein wirklich schöner Name. Sie wurden in Montana als David geboren, haben etwa anderthalb Jahre in Houston als Delilah gelebt und seit Weihnachten leben Sie mit Ihrem Partner Cole in Berlin. Gefällt es Ihnen hier?“
„Ja, sehr. Mit der Sprache habe ich zwar noch Schwierigkeiten, aber ich fühle mich viel freier und wohler in meiner Haut.“
„In Houston haben Sie mit Cole in einer Bar gearbeitet?“, fragte Dr. Rieger.
„Ja, es war Coles Bar. Er hat mich eingestellt, obwohl er anfangs nicht gerade begeistert von mir war. Er dachte, ich sei nicht hart genug für den Job als Kellnerin in seiner Biker Bar.“ Unwillkürlich musste Delilah lächeln, als sie an ihre erste Begegnung dachte. Nie hätte sie damals auch nur im Traum daran gedacht, dass sie gemeinsam mit Cole nach Deutschland ziehen würde. „Mir zuliebe hat Cole in Houston alles aufgegeben“, erklärte sie Dr. Rieger.
„Warum?“, hakte er nach.
Sie zögerte. Nun kam der Teil, vor dem sie sich seit Tagen fürchtete. „Er wollte mir die Möglichkeit geben, ein neues Leben zu beginnen, und mich vor meiner Familie schützen.“
„Ihre Familie hat sie entführt und gefoltert, weil sie nicht akzeptieren konnten, dass sie transgender sind.“
Sie nickte. Vor dem Termin hatte sie gemeinsam mit Cole einen Fragebogen ausgefüllt. Ihre Daten anzugeben, war nicht schwer gewesen, doch den Grund, warum sie Dr. Rieger konsultieren wollte, hatte sie nicht angeben können. Diesen Teil hatte Cole ausgefüllt und außerdem hatte sie Dr. Rieger den Arztbrief gegeben, den Dr. Rivera nach ihrem Aufenthalt im Krankenhaus in Billings geschrieben hatte. Daher war Dr. Rieger im Bilde darüber, was sie durchgemacht hatte. Doch nun war es wohl an der Zeit, dass sie ihre Gefühle vor ihm ausbreiten sollte. Allein der Gedanke daran, bereitete ihr Übelkeit.
„Das war sicher eine schreckliche Erfahrung, über die Sie nicht sprechen möchten“, fasste Dr. Rieger in Worte, was sie empfand.
Erneut nickte sie.
„Wenn es Ihnen recht ist, dann reden wir erst einmal nicht über die Vergangenheit, sondern beschäftigen uns mit Ihrer Zukunft.“
Ungläubig starrte sie ihn an. „Ist das Ihr Ernst?“
„Vielleicht ergibt es sich im Laufe der Zeit, dass wir darüber sprechen. Ansonsten sollen Ihnen die Sitzungen bei mir helfen, weiterzumachen und Ihr Leben zu bewältigen. Manchmal hilft es, die Vergangenheit aufzuarbeiten, manchmal aber auch nicht. Wir werden noch feststellen, wie Sie am besten zurechtkommen.“
Erleichtert seufzte Delilah. Ein Felsbrocken fiel von ihr ab. Sie wollte gerne über ihre Zukunft reden, auf die sie sich zwar freute, zu der es aber auch noch viele Fragezeichen gab. Vielleicht konnte Dr. Rieger ihr diesbezüglich helfen.
„Haben Sie schon berufliche Pläne?“
„Ja, Cole hat mich mit einem umwerfenden Plan überrascht.“ Sie konnte nicht anders und strahlte Dr. Rieger an. Jedes Mal, wenn sie an das Café dachte, hüpfte ihr Herz und sie sah sich bereits zwischen den Gästen herumwuseln, während Cole die Kaffeespezialitäten zubereitete. Neben Getränken würden sie eine Tagessuppe, belegte Bagels und Kuchen anbieten. An die orangefarbenen Wände würde sie vergrößerte Aufnahmen hängen, die sie in Texas mit Coles Kamera gemacht hatte. Fotos von Banderas, den Pferden und den Canyons des Big Bend Nationalparks würden den Gästen einen Eindruck von der Weite des Landes vermitteln und einen Hauch Fernweh und Reiselust wecken. Die Theke und die Tische würde sie mit Orchideen schmücken und auf einer Schiefertafel würden die Angebote des Tages stehen. Atemlos erzählte sie Dr. Rieger von ihren Plänen.
„Nicht so schnell, bitte“, unterbrach Dr. Rieger sie lächelnd. „Mein Englisch ist nicht so gut.“
„Oh, entschuldigen Sie.“ Delilah hatte gar nicht bemerkt, dass sie in ihre Muttersprache gewechselt hatte.
„Das wird bestimmt ein schönes Café.“
„Sie müssen unbedingt zur Eröffnungsfeier kommen. Wenn Sie gerne Kaffee trinken, werden Sie nicht enttäuscht sein. Cole ist fast schon besessen davon, perfekten Kaffee und Espresso zuzubereiten.“
Schmunzelnd nickte Dr. Rieger. „Dann werde ich mir diese Gelegenheit nicht entgehen lassen. Danke für die Einladung.“
„Sobald der Termin für die Eröffnung feststeht, gebe ich Ihnen Bescheid.“
„Bezüglich des Cafés haben Sie schon genaue Vorstellungen, wie Ihre Zukunft aussehen soll. Wie sieht es in anderen Bereichen aus? Wollen Sie offen damit umgehen, transgender zu sein?“
Nachdenklich kaute Delilah auf ihrer Unterlippe. Zielsicher hatte Dr. Rieger in das Wespennest gestochen und die wirren Gedanken und Empfindungen, die sie nicht einsortieren konnte, schwirrten in ihrem Kopf herum. „Ich weiß es nicht.“
„Möchten Sie Ihren Namen ändern und ganz als Delilah leben? Haben Sie sich Gedanken gemacht, wie sie zu einer Hormontherapie und zu geschlechtsangleichenden Operationen stehen?“
Sie seufzte. Wie sollte sie Dr. Rieger erklären, dass sie sich zwar als Frau fühlte, aber manchmal Sehnsucht nach David hatte? „Früher, als ich noch David war, hatte ich keinen sehnlicheren Wunsch, als eine Frau zu sein. Jetzt lebe ich als Frau und fühle mich trotzdem zerrissen.“
Dr. Rieger nickte verständnisvoll.
„Ich fühle mich schon weiblich, habe aber nicht den Mut dazu, mich komplett zu verwandeln.“
Nachdenklich legte Dr. Rieger den Kopf schief. „Möglicherweise erfordert es mehr Mut, sich nicht auf ein Geschlecht festzulegen.“
„In Houston hätte ich die Option, mich nicht festzulegen, für unmöglich gehalten. In Berlin scheint es nicht mehr ganz so abwegig. Kurz nach der Entführung, als ich völlig verwirrt war, hat Cole es mir zum ersten Mal vorgeschlagen und vor ein paar Tagen hat mein Friseur meine Haare so geschnitten, dass ich sie als Frau und als Mann tragen kann.“ Sie zog die Perücke vom Kopf und fuhr mit den Fingern durch die Fransen, die ihr seitlich in die Stirn fielen. „Er meinte, es gäbe so viele Möglichkeiten zu experimentieren.“
Dr. Rieger lachte leise. „Die Frisur steht ihnen fantastisch und ich bin mir sicher, sie lässt sich auf vielfältige Weise abwandeln. Heißt der Haarkünstler, der sie beraten hat, zufällig Silvio?“
Überrascht zog sie die Augenbrauen hoch. „Ja, kennen Sie ihn?“
„Ich gehe auch zu Silvio. Er ist nicht nur ein fantastischer Friseur, sondern auch sehr nett und einfühlsam.“
„Das ist er. Mit der neuen Frisur fühle ich mich so frei wie noch nie. Vielleicht bin ich wirklich ein Mensch ohne eindeutige Zuordnung zu einem Geschlecht.“
„Damit wären Sie nicht allein. Es gibt Menschen, die nicht-binär oder genderfluid sind.“
Delilah nickte. Silvio hatte erzählt, dass er Kunden habe, die so empfanden wie sie.
„Ein Leben ohne Zuordnung ist nicht leicht. In der Gesellschaft ist die klassische Geschlechterzuordnung fest etabliert und man eckt überall an, wenn man aus diesem Schema ausbricht. Man muss stark sein und Mut haben, um sich von den Erwartungen der Gesellschaft zu befreien.“
„Aber hier in Berlin könnte ich so leben.“
Dr. Rieger lächelte. „In Berlin ist es sicher leichter als in vielen anderen Städten auf der Welt. Vielleicht ist Cole aus diesem Grund mit Ihnen hergezogen.“
„Cole ist …“ Sie stockte. Ihr fehlten die Worte, ihn zu beschreiben. „Er tut alles für mich. Ich weiß gar nicht, womit ich das verdient habe.“
„Er liebt Sie und Liebe kann man sich nicht verdienen.“
„Ich liebe ihn auch“, flüsterte sie. „So sehr, dass es weh tut.“
„Wie steht er dazu, wenn Sie sich nicht auf ein Geschlecht festlegen? Da er es Ihnen vorgeschlagen hat, gehe ich davon aus, dass es für ihn in Ordnung ist, oder haben Sie einen anderen Eindruck?“
„Mit Cole habe ich mich von Anfang an vollständig gefühlt. Er nimmt mich an, wie ich bin und er ist unglaublich selbstbewusst. Was andere Menschen denken, ist ihm gleichgültig.“ Bei aller Unsicherheit, die sie quälte, bezüglich Coles Empfindungen war sie sich sicher. Sie konnte zwar nicht verstehen warum, doch er liebte sie.
„Wenn Ihr Partner Sie auf diesem Weg unterstützt, haben Sie gute Voraussetzungen, alle Hürden zu meistern, die sich Ihnen in den Weg stellen werden.“ Dr. Rieger erhob sich. „Tun Sie, was Silvio Ihnen vorgeschlagen hat: Experimentieren Sie ein wenig und beim nächsten Mal berichten Sie mir, wie Sie sich dabei gefühlt haben.“
Delilah lächelte und erhob sich ebenfalls. „Das werde ich.“ Mit wesentlich leichterem Herzen, als noch vor einer Stunde, verließ sie die Praxis. Wie immer hatte Cole recht behalten. Dr. Rieger hatte ihr geholfen und sie würde weiterhin zu ihm gehen. Beschwingt sprang sie die Treppen nach unten, um die U-Bahn noch zu erreichen. Während der Fahrt musterte sie die Fahrgäste, die ein- und ausstiegen. Im Gegensatz zu Houston gab es hier viele Menschen, die auffällige Kleidung trugen und ihr Aussehen dazu nutzten, sich zu positionieren, sei es politisch oder um ihre Zugehörigkeiten oder Vorlieben auszudrücken. Was würde zu ihr passen? Cole hatte ihr vorgeschlagen, neue Kleider einzukaufen, da sie nur sehr wenig besessen hatte. Sie würde sein Angebot annehmen und sich neu einkleiden. Das musste nicht unbedingt furchtbar teuer sein. Wie sie bereits festgestellt hatte, gab es in Berlin viele Secondhandläden, die ausgefallene Stücke zu erschwinglichen Preisen anboten. Sie freute sich darauf, zu experimentieren und war schon gespannt, wie Cole reagieren würde.