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Seit Tagen hockt sie immer um die gleiche Uhrzeit auf dem Boden. Vor sich hat sie ein aufgerissenes Fischernetz liegen, das sie mit einer großen Nadel flickt. Manchmal hebt sie den Kopf und blickt hinaus auf den Atlantik. Vor der Küste von Asturien peitscht das Wasser wütend an die Felsen. Ständig weht ihr ein scharfer Wind die blonden Haare ins Gesicht. Neben ihr auf dem Beton liegt ein Hund mit gestromtem Fell und einem halb abgerissenen Ohr. Der Hund ist taub und beobachtet sie aufmerksam. Hinter ihrem Rücken ragt eine Felswand nach oben. Sie ist über und über mit Löchern durchsetzt und sieht wie ein pockennarbiges Gesicht aus. Rostige Eisenleitern und eingeknickte Förderbänder führen zu den Löchern hinauf. Neben einer vom Salzwasser halb zerfressenen Wellblechhütte steht ein weißer VW-Bus. In ihm wohnt sie bereits ihr halbes Leben.
»Warum bist du in dieser unwirtlichen Gegend gestrandet, Targa Hendricks?«, hört sie die raue Stimme eines alten Mannes. Er kommt gerade aus der Wellblechhütte. Sein Gesicht ist von Wind und Wetter zerfurcht. Es sieht aus wie gegerbtes Leder. »Ein junges Mädchen wie du muss doch hinaus in die Welt und unter Leute.«
»Ich bin kein junges Mädchen mehr. Ich bin dreißig Jahre, drei Monate und vier Tage alt. Und im Augenblick ist das hier meine Welt«, antwortet Targa abweisend und flickt weiter das große Loch in dem Fischernetz. »Weshalb sollte ich weg von hier, Jorge?« Sie blickt dem Fischer direkt ins Gesicht.
»Ich meine ja nur. Dieser Ort ist so gottverlassen, dass niemand freiwillig hierherkommt. Ja, früher war das mal ein stark frequentierter Hafen. Überall in den Bergen wurde das Erz abgebaut und auf die Schiffe verladen.« Der Alte seufzt. »Aber der Bergbau ist schon seit Jahrzehnten unrentabel. Deshalb wurden die Fabriken und Anlagen nach und nach geschlossen. Ohne die Fische könnte ich nicht überleben.«
»Warum bist du dann noch hier?«, gibt Targa die Frage an Jorge zurück.
»Weil es für mich keinen anderen Platz mehr gibt«, entgegnet er müde.
»Mir geht es ähnlich«, murmelt Targa. »Ich muss so lange bleiben, bis ich weiß, ob ich einen Menschen erschossen habe oder nicht.«
»Hast du jemanden getötet?«, fragt Jorge überrascht. »Wie ist das denn passiert?«
»Ich kann mich nicht an viel erinnern. In meinem Kopf gibt es immer nur das eine Bild: Ich ziele mit einer Pistole auf einen Mann. Dann ist alles schwarz. Als ich erwache, sitzt er erschossen an seinem Schreibtisch.« Targa erinnert sich an die Schreie einer Frau: »Was hast du nur getan!« Und daran, dass sie auf dem Boden lag und noch immer die Waffe in der Hand hielt.
»Wer war der Mann, den du angeblich getötet hast?« Jorge hockt sich neben Targa. Mit seinen schwieligen Fingern greift er nach dem Netz.
»Mein Vater«, antwortet sie knapp und fasst ihre langen blonden Haare mit einem Gummiband zusammen. Ist Ole Bergstein wirklich mein Vater gewesen? Damals war sie sich so sicher. Jetzt zweifelt sie daran. Und sie kann sich nicht erklären, warum.
»Wolltest du deinen Vater denn töten?«
»Ja.«
Targa steht langsam auf. Sie wischt sich die Hände an ihrer Jeanslatzhose ab.
»Und warum kannst du dich an nichts erinnern?«, fragt Jorge. »Oder willst du es einfach nicht?«
»Natürlich will ich wissen, was sich vor drei Monaten in Berlin zugetragen hat. Aber die Erinnerung kommt erst langsam wieder zurück.« Unwillkürlich streicht sie sich mit der Hand über den Hinterkopf. Dort hatte sie eine Beule. Die Verletzung stamme vom Sturz, meinte die Polizei. Vermutlich war sie nach dem Schuss ohnmächtig geworden.
»Manchmal ist es gut, wenn man die Vergangenheit ruhen lässt«, brummt Jorge.
»Das ist nicht so einfach. Die Polizei sucht mich.« Targa dreht sich zum Meer. Hält ihr Gesicht in den Wind.
»Hier findet dich keiner«, beruhigt Jorge sie. »Niemand wird dich an diesem unwirtlichen Ort vermuten.«
»Einer weiß immer, wo ich bin.« Targa denkt an Volker Lundt, den Leiter der Sonderabteilung K2, ihren Vorgesetzten. Ein einziges Mal hat sie von der nahen Tankstelle aus mit ihm telefoniert. Das war riskant. Aber sie musste wissen, ob das Ergebnis des DNA-Tests schon eingetroffen war. Damit sie endlich Gewissheit bekam. Damit sie endlich erfuhr, ob Ole ihr Vater war. Aber Lundt konnte ihr nichts Neues berichten. Außer dass man diskret nach ihr fahndet. Er hat ihr geraten, sich zu verstecken. So lange, bis der Fall aufgeklärt ist.
»Das verstehe ich nicht.« Jorge schüttelt den Kopf. »Du versteckst dich hier und verrätst doch jemandem deinen Aufenthaltsort. Pass bloß auf dich auf. Du bist hier ganz auf dich gestellt.«
»Ich bin nicht allein.« Targa denkt an ihre Schwester Yella, die immer bei ihr ist. Und an Carlos, ihren Beschützer, in der Urne. Auch ihn hat sie auf diese Reise im VW-Bus mitgenommen. Nein, sie ist nicht allein. Und natürlich hat sie Hund.
»Du bist eine besondere Frau. Du redest keinen Blödsinn. Das gefällt mir.« Jorge steht ächzend auf. Er betrachtet das geflickte Netz. »Außerdem bist du sehr geschickt«, murmelt er anerkennend und sieht Targa an. »Aus dir wird noch eine richtig gute Fischerin.«
»Körperliche Arbeit beruhigt mich. Dann schlafen meine Gedanken.«
»Auch das Fischen ist beruhigend«, meint Jorge. »Lass das Netz jetzt liegen. Fahr mit mir hinaus aufs Meer.«
Jorge dreht sich um und geht über den betonierten Platz. An der abbröckelnden Mole liegt sein Fischerboot.
Mit den Händen in den Taschen ihrer Latzhose sieht ihm Targa hinterher. Interessant, überlegt sie, immer lerne ich Männer kennen, die gerne fischen. Hund stupst sie mit seiner feuchten Schnauze an. Für Targa ist es eine Aufforderung, dass sie mitfahren soll. Sie lässt sich noch einen Moment Zeit und blickt aufs Meer. Tief in ihrem Inneren spürt sie eine Unruhe, die sie nur zu gut kennt. Auch wenn die Ablenkung ihr guttut, macht die erzwungene geistige Untätigkeit sie nervös. Sie braucht wieder eine Aufgabe, eine Herausforderung. Lundt hat ihr befohlen zu warten, bis sie von ihm hört. Er hat die Telefonnummer der nahen Tankstelle. Doch er hat sich noch nicht gemeldet.
»Ich nehme Hund mit!«, ruft sie und gibt dem Tier mit der Hand ein Zeichen. Targa nennt ihn Hund, weil sie sich Namen nicht besonders gut merken kann. Für sie ist es logisch, einen Hund einfach Hund zu nennen.
»Heute ist es stürmisch. Aber ein kluger Hund fällt nicht so einfach ins Wasser«, meint Jorge.
»Dann muss ich mir keine Sorgen machen.« Targa krault Hund hinter den Ohren. Er kennt das Boot, und er vertraut Jorge. Trotzdem lässt er sich von ihm nicht kraulen. Das darf nur Targa.
Targa klettert über die Reling. Hund ist aufgeregt und leckt ihre Hände. Als das Boot aus der schützenden Bucht nach draußen tuckert, wird es sofort von den Wellen hin und her geworfen. Die Herbststürme haben bereits eingesetzt. Auf dem offenen Meer ist es unangenehm kühl. Targa schlüpft in einen grob gestrickten Pullover und kurbelt gemeinsam mit Jorge das große Fangnetz hinunter ins Wasser. Ganz langsam steuert Jorge das Boot über die wogende See.
Nach einiger Zeit überprüft er die Gewichte, die an dem Netz hängen. »Das genügt für heute!«, ruft er und stellt den Motor ab. »Wir müssen die Fische an Bord bringen, ehe der Sturm losbricht.«
»Du glaubst, es kommt ein Unwetter auf?« Targa sieht sich um. Das Meer ist jetzt bleigrau und der Himmel düster. Die Küste mit der stillgelegten Fabrikanlage ist nur noch ein schmaler Streifen am Horizont. Dunkle Wolken drücken die Landschaft nieder.
Während Targa und Jorge das schwere Netz einholen, nimmt der Wind an Intensität zu. In den engen Maschen zappeln silbrige Fische, die wie Diamanten glitzern.
Es macht keinen Unterschied, ob sie groß oder klein, hässlich oder schön sind. In der Stunde des Todes sind alle gleich, denkt Targa. Sie ist dem Tod schon oft begegnet. Er macht ihr keine Angst.
»Los, beeil dich«, drängt Jorge. Er läuft nach vorne in das winzige Steuerhaus und startet den Motor. »Wir müssen sofort zurück.«
Der Wellengang wird stärker. Salzwasser spritzt Targa ins Gesicht. An Deck wird es gefährlich. Sie schiebt eine Luke auf, um nach unten in den Laderaum zu klettern. Plötzlich hört sie Hund jaulen.
»Wo ist Hund?« Sie blickt hektisch umher. »Wo ist er?«, ruft sie nach vorne in Richtung des Steuerhauses. Jorge umklammert mit beiden Händen das Steuerrad, um die schweren Brecher auszutarieren.
»Hund ist sicher in dem Verschlag im Heck«, ruft Jorge ihr zu. »Bleib du, wo du bist!«
»Ich muss zu ihm! Muss ihn beruhigen. Er hat Angst.«
»Geh sofort unter Deck! Die Wellen sind zu gefährlich!«
»Ich lasse Hund nicht allein!«
Mit einem Ruck schiebt Targa die Luke wieder zu. Sie tappt schwankend auf den nassen Planken nach hinten. Ein Brecher fegt über das Deck. Sie krallt sich an der Reling fest, ist bis auf die Knochen durchnässt. Hund liegt zitternd auf dem Boden im Heck des Schiffes. Er hebt den Kopf, als er sie sieht.
Nur noch wenige Schritte, dann ist sie bei ihm. Sie lässt die Reling los. Streckt die Hand nach Hund aus. Ist für einen Augenblick unachtsam. Eine haushohe Welle fegt über das Boot und spült Targa von Bord.