13
Gebannt starrt Freya durch das Fernrohr. Das Hochhaus-Plateau mit den beiden Leichen ist zu weit entfernt, um etwas Genaues zu erkennen. Der Regen verwischt alle Details, und sie kann nur erahnen, dass zwei Personen ratlos vor ihrem Kunstwerk stehen. Trotzdem ist es ein zusätzlicher Kick zu wissen, dass die Polizei verzweifeln wird.
»Freya, Liebes, was kostet denn nun dieses Bild?«, reißt eine Stimme sie aus ihren Gedanken. Freya steht in ihrem Schlafzimmer. Sie trägt einen dünnen Seidenkimono, den sie nachlässig gebunden hat. Darunter ist sie nackt, denn sie kann sich nicht entscheiden, was sie anziehen soll. Ihre Haut, die sie zuvor mit einem Spezialöl eingesalbt hat, glänzt metallen in dem gedimmten Licht. In der Mitte des Raumes steht ein breites Bett auf einem Betonsockel, der die Form einer versteinerten Muschel hat. Daneben stehen eine Lampe aus Stahl und ein betoniertes Sideboard mit Gläsern. Auch die Wände sind aus unverputztem Beton und bis auf einen Spiegel mit eisernem Rahmen schmucklos. Die Längsseite des Schlafzimmers ist aus Glas. Von dort hat Freya einen atemberaubenden Blick über Berlin. Hier steht auch das Fernrohr, mit dem sie zuvor das Treiben auf der Plattform beobachtet hat. Die beiden Toten dort wirken durch das Objektiv merkwürdig entrückt. Es wird nicht mehr lange dauern, dann wird die Polizei das Bild »Der Todeskuss der Mutigen« im Online-Katalog der Galerie entdecken. Sie werden Freya verhören. Doch sie hat ein Alibi.
»Bist du eine Mörderin?«, fragt sie die schwarzhaarige Frau, die ihr im Spiegel entgegensieht. In dem diffusen Licht wirkt sie vollkommen, doch sie ist unperfekt. Da kann sie trainieren, so viel sie will. Das Blut, das durch ihre Adern rinnt, zerstört alles. Nie wird sie rein sein. Nie wird sie Vergebung erlangen. Nachdenklich schiebt Freya die Türen des Wandschranks auf. Sie blickt auf elf blonde Perücken, die auf bemalten Schaufensterpuppenköpfen sitzen. Große Mangaaugen starren sie an. Noch nie hat sie es gewagt, eine dieser Perücken aufzusetzen. Es würde ihr wie eine Schändung vorkommen. Zögernd streicht sie mit der Hand über künstliches blondes Haar. Es knistert elektrisch, und Freya zuckt zurück, als hätte sie einen Stromstoß erhalten. Hastig schließt sie den Schrank wieder, verbannt die Perücken aus ihren Gedanken.
»Wo bist du?«, hallt wieder diese Stimme aus dem Wohnzimmer. »Soll ich dich suchen?«
»Es dauert nicht mehr lange. Ich komme gleich«, ruft Freya in die Dunkelheit hinein. Sie bückt sich und öffnet die Tür eines kleinen Kühlschranks, der in dem Betonsockel verborgen ist. Vorsichtig nimmt sie einen Behälter mit Phiolen heraus. Die schlanken Glasgefäße sind alle beschriftet. Unschlüssig kreist Freyas Hand darüber.
»Ludmilla«, sagt sie schließlich und öffnet die entsprechende Phiole. Sie nimmt ein Glas und lässt die rote Flüssigkeit hineinrinnen. Dann gibt sie noch etwas Tomatensaft und einige Spritzer Gin dazu. Sie leert alles in einen Shaker. Zählt die Sekunden, bis sich das Blut gut vermischt hat, und leert den Drink wieder zurück in das Glas. Zuletzt streut sie noch eine Prise Currypulver darüber. Für das innere Feuer.
»Hier bin ich.« Mit wehendem Kimono und dem Glas in der Hand geht sie barfuß ins Wohnzimmer. Eine rothaarige Frau sitzt mit dem Rücken zu Freya auf einem Designersofa. Ihr gegenüber hängt ein Gemälde an der Wand: Es zeigt zwei Mädchen und einen Jungen, die in einem weiß gekachelten Schlachthaus über einem See aus Blut hängen. Ihre Körper wirken blutleer. Sie sind umringt von Männern, die Kuhmasken tragen.
»Hier ist dein Drink, Diana«, flüstert Freya. Die Frau dreht sich überrascht um, als sie sie in den Nacken küsst. Für einen Moment lässt Freya es zu, dass Dianas Hände über ihre kleinen festen Brüste streichen. Diana ist eine der einsamen Millionärswitwen, die glauben, sich mit Geld alles kaufen zu können, aber sie ist attraktiv und sehr leidenschaftlich. Seit Freya verdächtigt wird, eine Mörderin zu sein, ist Diana fasziniert von Freyas Kunstwerken.
»Das genügt.« Sie drückt ihr das Glas in die Hand. Mit unbewegter Miene wartet sie, bis Diana von dem Drink genippt hat. Dann stellt sie sich zwischen Diana und das Bild.
»Wie schmeckt dir dein Drink?«, fragt sie.
»Wer ist es diesmal?«
»Es ist Ludmilla.« Freya deutet auf das Bild. »Sie ist das Mädchen links. Der Drink wird dich verjüngen.«
»Gut, dass du von dem Bild sprichst. Deswegen bin ich auch gekommen.« Diana trinkt das Glas leer und schüttelt ihre kupferroten Haare. »Blut ist das Geheimnis ewiger Jugend«, sagt sie träumerisch, setzt aber sofort wieder eine geschäftliche Miene auf. »Ich will dieses Bild kaufen. Nenne mir einfach einen Preis.«
»Zac hat dir doch bereits am Telefon gesagt, dass es unverkäuflich ist.«
»Das stimmt so nicht. Zac meinte, ich soll mit dir über den Preis verhandeln«, erwidert Diana.
»Warum willst du genau dieses Bild? Du kannst dir doch alle Bilder dieser Welt kaufen.« Mit einer raschen Handbewegung zieht Freya den Kimono vorne zusammen. Plötzlich beginnt sie zu frösteln. Sie ahnt, warum Diana das Bild will. Zwei Mädchen und ein Junge wurden ermordet und wie auf dem Bild in einem Schlachthaus zur Schau gestellt. Die Ähnlichkeit mit Freyas Bild war verblüffend, und das Gemälde ging durch die Presse. Der Preis stieg ins Astronomische. Kunstinteressierte Beobachter und auch die Polizei stellten sich die Frage, ob es mehr als ein Zufall ist. Aber es fehlten ein paar entscheidende Details auf dem Gemälde.
»Weil du berüchtigt bist und ich es einfach besitzen will«, antwortet Diana unverblümt.
»Das Bild ist unverkäuflich. Basta!«
»Alles hat seinen Preis.« Dianas Stimme zittert leicht. Sie ist gewohnt zu bekommen, was sie sich in den Kopf setzt. In ihren Aktiendepots vermehrt sich das Geld automatisch, ohne dass sie einen Finger rühren muss.
»Dieses Gemälde ist nichts für dich.« Ein kurzes Lächeln huscht über Freyas Gesicht. »Es ist zu perfekt für dich.«
In ihrem Kopf knallen plötzlich die Hacken von Stiefeln zusammen. Sie sind aus schwarzem Leder und glänzen. Großvater putzte sie täglich, auch lange nach dem Krieg noch. Er führte ein strenges Regiment. Oft hat er nach seiner Peitsche gegriffen, wenn sie nicht perfekt war.
»Hast du diese drei Menschen getötet?«, fragt Diana plötzlich.
»Was denkst du?«, antwortet Freya mit einer Gegenfrage.
»In der Zeitung steht, dass die Opfer keinen Tropfen Blut mehr in sich hatten.«
»Journalisten übertreiben gerne«, meint Freya achsel-
zuckend.
»Trinke ich das Blutserum von einem toten Mädchen?«
»Ludmilla war auf einem meiner Mut-Events. Von dort habe ich auch das Blut.« Das stimmt doch so, oder?, fragt sich Freya selbst. Sie erinnert sich an das Mädchen. Zart und blond, so wie alle. Das Blut, das aus ihrer Vene quoll, war dick und rubinrot. Ludmilla war leicht für eine Performance zu verführen. Natürlich wusste die Kleine nicht, dass fremdes Blut sie vergiftete. Deswegen musste sie auch gereinigt werden.
»Irgendwann wird dich die Polizei überführen. Dann brauchst du viel Geld für deine Verteidigung. Also verkauf mir das Bild.«
»Nein.« Freya schüttelt hochmütig den Kopf. »Wozu soll ich mich verteidigen? Ich bin unschuldig.«
»Ich zahle zehn Millionen Euro. In bar. Steuerfrei«, fügt Diana noch schnell hinzu. »Und ich sage auch niemandem, dass du das Blut einer der Toten bei dir hast.«
»Es ist besser, du gehst jetzt, sonst werde ich böse«, antwortet Freya kühl. Ohne ein weiteres Wort begleitet sie Diana zu ihrem privaten Lift und wartet, bis sich die Türen hinter ihr schließen. Dann geht sie mit einem leisen Seufzer zurück in ihr Schlafzimmer und öffnet die Schranktür. Sie nimmt eine blonde Perücke heraus. Damit versucht sie, die schwarzen Löcher in ihrem Gedächtnis zu füllen. Wieder muss sie an ihren Großvater denken. Sie fühlte sich glücklich, wenn sie gemeinsam ein Tier töteten. Und sie erinnert sich an seine Worte:
»Immer wenn du tötest, bin ich bei dir.«