20
»Mein Großvater hat mich manchmal nachts aus dem Bett geholt. Dann hat er mit seinem Springmesser in mein Handgelenk geritzt und mich gezwungen, das austretende Blut zu betrachten. Mit einem Finger hat er auf die Blutstropfen getippt und dann die Fingerkuppe abgeschleckt. ›Böses Blut‹, hat Großvater gesagt und ein Pflaster auf meine Wunde geklebt.«
Freya von Rittberg spricht, wie so oft, zu ihrem Spiegelbild. In ihrem Schlafzimmer trainiert sie ihre Armmuskeln mit Hanteln. In einem zweiten Spiegel sieht sie ihre eingeölte Rückenpartie, die in der Morgendämmerung wie Stahl glänzt. Durch das harte Training hat sie sich einen neuen Körper erschaffen, doch ihr Blut ist dasselbe geblieben.
Ächzend legt sie die Hanteln zurück auf die Halterung und streckt ihre Wirbelsäule durch. Solange sie denken kann, hat sie ein zerstörtes Leben geführt. Freya sieht die schwarzen Bilder. Sie erinnert sich an eisige Nächte, die sie allein im Freien verbringen musste. »Du musst dich abhärten«, hatte ihr Großvater gesagt. »Nur so wird unsere Rasse überleben.« Damals verstand sie den Sinn seiner Worte nicht. Jetzt versteht sie. Jetzt denkt sie wie er. Jetzt tötet sie nicht nur in Gedanken.
Sie erinnert sich zurück an die Performance vor einigen Tagen. Als der Vater der jungen Johanna versuchte, sie zu töten.
»Das ist ein Vater, der seine Tochter beschützen wollte«, sagt sie in die Stille des Schlafzimmers hinein. »Ich hatte niemanden, der mich vor meinem Großvater beschützt hat.«
Sie verstummt. Wischt sich eine Träne von der Wange und spannt die Muskeln an. Freya ist jetzt wieder stark, zeigt keine Schwäche. In Gedanken versunken schlüpft sie in ihre schwarzen Jeans und zieht das Tanktop über. Sie duscht nie nach dem Training. Der Geruch von Schweiß hat für sie etwas Erotisch-Animalisches.
»Wir müssen los!« Zac klopft an ihre Tür.
»Ich bin gleich fertig!«, ruft Freya zurück. »Ist Targa schon hier?«
»Deine neue Personenschützerin ist soeben mit ihrem Retro-VW-Bus in die Tiefgarage gefahren«, antwortet Zac mit einem ironischen Unterton. Er kommt in das Schlafzimmer. »Ich habe sie durch die Überwachungskameras beobachtet.«
»Lass mich mal sehen.«
»Hier.« Zac aktiviert sein iPad.
Freya sieht eine junge Frau mit blonden Zöpfen, die aus der Tiefgarage in das Foyer tritt. Sie macht heute einen ganz anderen Eindruck, denkt Freya. Sie wirkt viel härter und zielgerichteter. Jetzt hebt Targa den Kopf zur Überwachungskamera, und Freya sieht ihr Gesicht. Die hellen Augen wirken eisig. Sie stehen in einem starken Kontrast zu den aufgeworfenen Lippen, die Targas Zügen eine sinnliche Komponente verleihen und die sie so anziehen. Die Lifttüren öffnen sich, und Targa verschwindet aus dem Blickfeld.
»Wie findest du sie?«, fragt Freya Zac.
»Ich mag sie nicht«, antwortet Zac geradeheraus. »Ihre Referenzen sind zwar perfekt, und nichts spricht gegen sie als Bodyguard. Trotzdem traue ich ihr nicht über den Weg.«
»Bist du etwa eifersüchtig?« Freya wirkt amüsiert.
»Weil sie dir gefällt?«
»Sie hat schnell reagiert, das ist alles. Und sie ist furchtlos. Der Messerstich hätte sie auch töten können«, wiegelt Freya ab.
»Vielleicht hast du recht.« Zac gibt sich geschlagen. »Möglich, dass ich nur überreagiere. Deine ständigen Verhöre bei der Polizei machen mich langsam nervös.«
»Die Polizei hat mich im Fadenkreuz ihrer Ermittlungen. Aber keine Sorge, sie haben nichts gegen mich in der Hand. Es wird mir nie etwas passieren.«
Freya deutet auf das iPad. Die Kamera beim Eingang zum Penthouse hat Targa erfasst, die gerade mit der Hand auf das Display neben der Stahltür drückt.
Wenige Sekunden später geht die Tür auf. Targa steht in dem großen Wohnzimmer mit den verglasten Wänden.
»Da bin ich. Was gibt es zu tun?«
Die Reaktion von Targa verwundert Freya. In Targas Mimik deutet nichts darauf hin, dass sie von der Dimension des Raums oder der Aussicht beeindruckt ist. Jeder andere Besucher war bisher von dem spektakulären Blick über Berlin begeistert.
»Was macht deine Verletzung?« Freya deutet auf Targas Arm.
»Wie ich schon sagte. Es ist bloß eine kleine Schürfwunde.«
»Schön, dass du für mich arbeitest. Du begleitest mich heute zu einer Mut-Challenge. Wir fahren mit dem Jeep.«
»Ich nehme meinen eigenen Wagen«, sagt Targa.
»Als Bodyguard solltest du aber im selben Wagen wie Freya fahren«, wirft Zac ein.
»Nein, das mache ich nicht! Ich warte, bis ihr losgefahren seid, dann folge ich euch.«
»Was? Mit dem alten VW-Bus willst du uns hinterherfahren?«, regt sich Zac auf.
»Fahr einfach langsamer, dann schonst du die Umwelt«, meint Targa lapidar und wirft einen Blick auf Freya.
»Targa hat recht. Du fährst immer zu schnell, Zac«, bekräftigt Freya. »Wie gefällt dir die Aussicht?« Sie stellt sich neben Targa, während sie ihren Umhang überwirft.
»Der Ausblick ist beeindruckend. Aber auch etwas verwirrend. Ich bevorzuge kleinere, intimere Räume.«
»So wie deinen VW-Bus?«, fragt Freya. »Vermittelt dir der Bus ein Gefühl der Geborgenheit?«
»Ich brauche keine Geborgenheit. Ich will nur alles überschaubar haben.«
»Du liebst also Kontrolle?« Freya lächelt. »Da sind wir uns ja ziemlich ähnlich. Auch ich brauche die Kontrolle über mein Leben.«
»Mir geht es weniger um Kontrolle, sondern mehr um Ordnung.«
»Ist das nicht dasselbe?«
»Nein. Kontrolle ist Macht, Ordnung ist Sicherheit«, antwortet Targa gelassen. »Wohin fahren wir jetzt genau?«
»Nach Brandenburg, Richtung polnische Grenze«, antwortet Freya. Zac blickt sie fragend an.
»Was ist eigentlich eine Mut-Challenge?«
»Lass dich überraschen, und du dich auch, Zac«, antwortet Freya. Sie stehen im Foyer und warten auf den privaten Aufzug, der sie direkt in die Tiefgarage bringt. In den glänzenden Lifttüren sieht sie ihr Spiegelbild und das ihrer neuen Personenschützerin. Targa steht im Hintergrund, aber ihr Schatten überlagert Freyas Gestalt.
»Heißt das, die Teilnehmer nehmen dafür auch Verletzungen in Kauf?«, fragt Targa weiter.
»Nicht nur das«, antwortet Freya. »Manche sind mutig bis in den Tod.«