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Thorwald von Rittberg kann das Wiedersehen mit seiner Enkelin kaum erwarten. Er sitzt in einem Rollstuhl im Fond des Krankenwagens. Ungeduldig trommelt er mit seinem Stock auf den Metallboden. Das Päckchen auf seinen Oberschenkeln schaukelt bedenklich.
»Geht das nicht schneller?«, drängt er den Krankenpfleger, der vorn am Steuer sitzt.
»Es schneit, Herr Kraft. Die Straße ist extrem rutschig. Da kann ich nur langsam fahren. Dieses Jahr beginnt der Winter ja schon sehr früh.«
Rittberg antwortet nicht, sondern starrt aus dem Fenster. Sie fahren an der Fischfabrik vorbei. Der Gestank dringt sofort in den Wagen und hüllt das Innere ein. Wie er diesen Fischgestank hasst. Viele Jahre lang musste er diesen Geruch ertragen. Überall setzt er sich fest. Manchmal kommt es ihm vor, als wären die Bewohner von Hammerfest selbst glitschige Fische.
Es ist das letzte Mal, dass ich zum Leuchtturm fahre
, denkt er. Niemals ist jemand aufgetaucht, um nach dem angeblich toten Kriegsverbrecher Thorwald von Rittberg zu suchen. Niemand hat seinen Tod angezweifelt.
»Ich bin bereit«, flüstert er. Er will es nicht zugeben, aber er ist neugierig auf das Geschenk seiner Enkelin.
»Gleich haben wir es geschafft, Herr Kraft«, sagt der Pfleger beruhigend. »Haben Sie das Handy dabei, damit Sie das Sanatorium anrufen können, wenn Sie Hilfe benötigen? Das ist nur für alle Fälle.«
»Ich weiß«, murmelt Rittberg. »Aber meine Enkelin bringt mich zurück.«
»Ein merkwürdiger Treffpunkt, den Sie da vereinbart haben, ich muss schon sagen«, redet der Pfleger weiter. »Bei diesem Wetter ein Picknick oben auf den Klippen zu veranstalten … Warum wollte Ihre Enkelin denn nicht in das Sanatorium kommen?«
»Sie ist eine exzentrische Künstlerin und macht einen großen Bogen um Institutionen wie diese«, antwortet Rittberg.
»Ich hoffe, der Kuchen wird ihr schmecken.« Der Pfleger dreht den Kopf nach hinten und deutet auf das Päckchen. »Das Küchenpersonal war ganz nervös, weil es so schwierig war, um diese Jahreszeit frische Orangen und Feigen aufzutreiben.«
»Tja, meine Enkelin liebt diesen gegensätzlichen Geschmack. Das hängt mit ihrem zwiespältigen Wesen zusammen.«
Der Pfleger nickt wissend und fährt sich durch sein schwarzes Haar. In dem bleiernen Licht wirkt seine Haut noch dunkler als sonst und hat einen bläulichen Stich.
»Wir sind da.« Der Pfleger bremst den Krankenwagen so abrupt ab, dass sein Heck zu schlingern beginnt. »Setzen Sie sich auf die Rückbank, ich hole inzwischen den Rollstuhl heraus.«
»Ich will meiner Enkelin aufrecht gegenübertreten. Haben Sie mir besorgt, worum ich Sie gebeten habe?« Rittberg erhebt sich ächzend. Er greift nach seinem Gehstock und steigt aus dem Krankenwagen. Auf dem Parkplatz vor dem Denkmal steht ein alter klappriger VW-Bus. Weit vorne bei den Klippen
heult ein großer gestromter Hund, der mit einem Seil an einem Baumstrunk festgebunden ist.
»Ja, aber es ist teurer geworden als angenommen.«
»Das dachte ich mir.«
»Hier!« Der Pfleger greift unter den Fahrersitz und zieht eine Pappschachtel hervor. »Eine Luger Modell 08 Parabellum aus dem Jahr 1942«, sagt er. Er öffnet den Deckel der Schachtel und nimmt die Pistole heraus. »Ich habe auch die passende Munition dafür.«
»Laden Sie die Waffe. An die Luger 08 kann ich mich noch gut erinnern«, meint Rittberg versonnen und sieht zu, wie der Pfleger das Magazin auffüllt. »Damit habe ich die Feinde des Reichs liquidiert. Bei einem Kopfschuss mit der Luger gibt es weniger Sauerei. Ich sammle nur saubere Waffen«, setzt er hinzu und lächelt den Pfleger an, während er die Pistole in der Manteltasche verschwinden lässt.
»Interessanter Aspekt für eine Waffensammlung«, murmelt der Pfleger verlegen.
»Ich brauche Sie nicht mehr.« Rittberg kramt in den Taschen seines Kaschmirmantels und zieht ein Bündel Geldscheine hervor. »Das ist für Sie. Jetzt können Sie zurückfahren.«
Rittberg wartet, bis der Krankenwagen außer Sichtweite ist, dann geht er langsam zu dem VW-Bus. Zwischen dem Fahrzeug und der Klippe sieht er einen Campingtisch, um den drei rostige Stühle gruppiert sind. Auf einem der Stühle sitzt eine Frau mit blonden Zöpfen mit dem Rücken zu ihm. Links und rechts von ihren Armen hat sich der Schnee blutrot gefärbt.
»Warum hast du nie auf meine Briefe geantwortet?«, hört er plötzlich die flehentliche Stimme seiner Enkelin hinter sich. Langsam dreht er sich um. Zum ersten Mal seit vielen langen Jahren sieht er Freya wieder. Ihr Haar ist schwärzer, als er es in Erinnerung hat, und ihre Augen sind glühende Kohlen.
»Setz dich an den Tisch, Opa. So wie früher. Ich habe uns Kaffee gemacht.« Freya spricht wie ein kleines Mädchen. Wie sein kleines Mädchen.
»Ich habe den Kuchen mitgebracht.« Rittbergs Stimme ist kratzig. Er beißt sich auf die Lippen, um nicht sentimental zu werden. Nicht vor Freya, seiner Enkelin, in deren Adern das böse Blut fließt. Ächzend lässt er sich auf einen Klappstuhl fallen. Die blonde Frau sitzt ihm gegenüber. Ihr Gesicht ist ebenmäßig, und ihre hellen Augen erinnern ihn an gefrorenes Eis. Eine nordische Schönheit
, denkt Rittberg. Erst jetzt bemerkt er, dass sie mit Handschellen an den Stuhl gefesselt ist. Noch immer tropft das Blut aus ihren Handgelenken. Sie wirkt benommen. Dann dreht er sich zu Freya. Er räuspert sich und hat sich wieder unter Kontrolle.
»Warum hast du nie auf meine Briefe geantwortet?«, wiederholt Freya ihre Frage.
»Ich habe sie nicht erhalten. Dieser unwürdige Pfleger Niklas hat sie heimlich an sich genommen.«
»Was ist mit ihm passiert?«
»Mach dir keine Gedanken über dieses Subjekt. Ich habe das bereits erledigt. Er kann uns nicht mehr stören. Aber er hat meine Identität aufgedeckt.«
»So sind wir also am Ende angekommen.«
»Was bedeutet das Wort ›Ende‹ schon? Wer ist übrigens diese junge Frau?«
»Das ist Targa. Und sie ist mein Geschenk an dich. So wolltest du mich doch immer haben. Mit blonden Zöpfen und hellen, klaren Augen. Hier ist sie also, ich habe sie für dich erschaffen. Sie ist meine Schwester. Für dich opfere ich sie, damit du mir vergibst. Ich will endlich Vergebung.«
»Ich soll dir vergeben? Niemals. Sieh dich doch an. Du beleidigst mich mit deinem Anblick.«
»Verzeih mir, Opa«, stammelt Freya und huscht mit gesenktem Kopf zum Bus. Sie greift in ihre Reisetasche und kramt darin herum. Schließlich holt sie eine blonde Perücke heraus und stülpt sie sich über den Kopf. »Ich weiß ja, dass ich ohne die Perücke nicht nach draußen gehen darf.«
»Jetzt siehst du aus wie eine Wahnsinnige. Ich habe deine Briefe gelesen. Du zelebrierst deine Morde, um mich zu beeindrucken. Aber das hilft dir nichts. In deinen Adern rinnt verseuchtes Blut.«
»Aber meine Schwester ist doch rein. Sieh nur, ihr Blut, es ist so hell und klar.« Freya kniet sich neben Targa und hält die Handfläche unter das tropfende Blut. »Ich töte sie, weil ich sie liebe. Das ist das Opfer, das ich dir bringe. Ihr Blut gegen meines. Vergibst du mir dann?« Flehend streckt sie Rittberg die Hände entgegen. Dann schmiert sie der blonden Frau das Blut ins Gesicht. Doch die Frau regiert nicht, sondern starrt Rittberg mit ihren Gletscheraugen unverwandt an.
»Wie fühlt man sich, wenn man sein ganzes Leben auf einer Lüge aufgebaut hat?«, fragt sie plötzlich mit leiser Stimme.
Rittberg erstarrt und wendet seinen Blick zu Freya.
»Sehen Sie mich an. Sagen Sie mir, wie Sie Ihre Nächte gemeistert haben. Träumten Sie nicht oft davon, das Lügen aufzugeben und endlich die Wahrheit rauszulassen?«
»Wovon reden Sie da?« Rittberg hebt drohend seinen Stock. »Halten Sie Ihren Mund.«
»Was soll das alles bedeuten, Targa?« Freya richtet sich auf und sieht von Targa zu Rittberg.
»Das bedeutet, dass dein Großvater seit seiner Geburt jemand ganz anderes ist.«