KAPITEL ZWÖLF

Nina

Ich entdecke ihn nicht sofort. Zuerst sehe ich mich im Strandcafé um, wo nur wenige Leute an den Tischen sitzen, und überlege, ob ich mich in der Zeit geirrt habe oder ob er vielleicht seine Meinung geändert hat. Doch dann bemerke ich, dass draußen auf der Bank jemand sitzt, ganz allein und mit dem Rücken zum Café, die Kapuze hochgezogen und den Blick aufs Meer gerichtet.

»Hey«, sage ich und setze mich neben ihn.

»Hey, Nina.« Seine blauen Augen funkeln, als er mich anlächelt. Ein aufgeregtes Kribbeln breitet sich in mir aus. Chase bringt mich so durcheinander, dass ich keinen klaren Gedanken fassen kann. Aber es fühlt sich gut an. Er hält einen Becher und mein Portemonnaie in der Hand.

»Ich glaube, das gehört dir.«

»Danke«, sage ich lachend und stecke das Portemonnaie in die Tasche, bevor ich nach dem Becher greife.

»Erst wollte ich dir einen Kaffee kaufen, wusste aber nicht, welche Sorte du magst. Dann wollte ich Tee holen, aber wie sich herausgestellt hat, gibt es hier Hunderte von Tees zur Auswahl. Nachdem ich eine Weile ratlos herumgestanden bin, habe ich beschlossen, auf Nummer sicher zu gehen und heiße Schokolade zu bestellen.«

»Ausgezeichnete Wahl. Mein Lieblingsgetränk.« Ich lege meine Hände um den warmen Styroporbecher. Es ist heute eisig kalt, und obwohl ich einen Schal trage und den Reißverschluss meiner Jacke ganz nach oben gezogen habe, fühlen sich meine Hände wie Eisklötze an.

Er stößt mit seinem Becher sanft gegen meinen. »Cheers.«

»Cheers«, sage ich und nehme einen Schluck. »Danke, dass du gekommen bist. Wenn du möchtest, können wir uns einen wärmeren Ort suchen. Es gibt einen Grund, warum hier am Strand im Winter so wenig los ist.«

»Machst du Witze? Bevor du gekommen bist, habe ich gerade gedacht, wie perfekt dieser Treffpunkt ist. Ich liebe das Rauschen der Wellen, es ist so friedlich. Das war eine gute Idee von dir. Also, wohnst du hier in der Nähe?«

»Zwanzig Minuten von hier«, erkläre ich. »Du müsstest den Strand mal im Sommer erleben. Du würdest diesen Ort nicht wiedererkennen. Es wimmelt von Leuten, alles ist total überfüllt und vor dem Café stehen sie Schlange.«

Ich blicke über die Schulter zu dem fast leeren Café. Die Besitzerin steht hinter der Theke und liest ein Buch.

»Aber mir macht das Wetter nichts aus, ich mag den Strand zu dieser Jahreszeit am liebsten«, fahre ich fort und nippe dabei an der heißen Schokolade. »Man hat das Gefühl, ihn ganz für sich allein zu haben.«

»Finde ich auch. Und eines kann ich dir sagen, dieses Gefühl habe ich sehr selten«, sagt Chase und blickt auf seine Knie. »Der Tag gestern war ziemlich heftig.«

»Meinst du das Radiointerview?«

»Nicht nur. Wir haben am Tag zuvor ein Foto mit jemandem in unserem Hotel gemacht, und der hatte nichts Besseres zu tun, als es sofort zu twittern, sodass jeder wusste, wo wir uns aufhalten. Das Hotel wurde von Fans belagert, die alle reinwollten. Das Ganze ist ein bisschen aus dem Ruder gelaufen. Ziemlich dumm von uns, einfach ein Foto mit jemandem zu machen, ohne groß zu überlegen.«

Ich presse die Lippen aufeinander, weil ich an Nancy denken muss. Als sie gestern Nachmittag nach Hause kam, war sie fürchterlich schlecht gelaunt. Sie stürmte herein, stapfte die Treppen hinauf und knallte die Tür hinter sich zu. Ich hatte gerade Klavier gespielt und meinen Kopfhörer auf, trotzdem spürte ich die Wände beben, als die Tür zuschlug. Ich wartete einige Minuten, dann ging ich zu ihrem Zimmer und klopfte vorsichtig.

Kaum hatte ich den Raum betreten, explodierte Nancy. Sie erklärte in einem Wutanfall, das Ashby Hotel habe etwas gegen sie persönlich und keiner dort habe auch nur einen Funken Mitgefühl im Leib. Wie konnten sie es wagen, sie als verrücktes Fangirl abzutun?

»Vor dem Hotel wimmelte es von Leuten, die alle reinwollten. Ich habe es kaum bis zur Tür geschafft. Und als ich schließlich drin war, tauchte diese schreckliche Rezeptionistin auf und behauptete, sie würde mich von Freitagabend wiedererkennen«, beklagte sich Nancy von ihrem Bett aus. »Wie kann das sein? Ich sehe völlig anders aus als am Freitag! Als ich sie zu überzeugen versuchte, dass ich eine Journalistin bin und einen Interviewtermin mit der Band habe, rief sie die Security und sagte, ich wäre nur ein Schulmädchen und nicht von der Presse. Ich konnte einwenden, was ich wollte, sie haben mich nur angestarrt, als wäre ich komplett gaga, und das obwohl ich einen total seriösen Blog betreibe, mit Tausenden von Followern und einem Social-Media-Auftritt, der mir teure neue Schuhe einbringt. Ich habe ihnen meine Website gezeigt, aber sie haben gar nicht richtig hingeschaut! Was läuft falsch bei denen? Warum kapieren sie es nicht? Der Türsteher hat mich aus dem Gebäude eskortiert. Vor aller Augen! Es war eine einzige Demütigung!«

»Das tut mir so leid, Nancy.«

»Das Schicksal scheint sich über mich lustig zu machen«, fuhr sie aufgebracht fort. »Es bringt meine einzig wahre Liebe zu mir. Aber wie soll Chase begreifen, dass ich die Richtige für ihn bin, wenn ich nicht nahe genug an ihn herankomme, um es ihm zu sagen? Das Schicksal versagt total. ICH HASSE DAS SCHICKSAL

Nachdem sie noch eine halbe Stunde getobt und geschmollt hatte, beruhigte sie sich wieder und verkündete, dass sie jetzt zu Plan C übergehen würde.

Zurück in meinem Zimmer hatte ich eine Textnachricht von Chase auf dem Handy. Aber die ganze Situation setzte mir so zu, dass ich viermal »Ghosts« anhören musste, bevor ich eine Antwort schrieb.

Und nun bin ich hier.

»Es muss merkwürdig für dich sein, dass alle Leute glauben, dich zu kennen«, spreche ich meine Gedanken laut aus, während ich zusammengekauert neben Chase auf der Bank sitze und die Meeresbrise mir die Haare ins Gesicht weht. »Sie haben eine Vorstellung von dir und sind überzeugt davon, dass sie wissen, wer du bist.«

»Genau.« Er nickt und unsere Blicke begegnen sich. »Deshalb bin ich ja so froh, heute hier zu sein. Mit dir. Also, trink deine heiße Schokolade aus.« Er steht auf, schließt den Reißverschluss seiner Jacke über seinem Hoodie und streckt die Hand nach mir aus. »Lust auf einen Strandspaziergang?«

Er ergreift meine Hand, verschränkt seine Finger mit meinen und zieht mich sanft auf die Füße. Mein Herz scheint aus meiner Brust springen zu wollen, so schnell schlägt es. Im Gegensatz zu meiner Hand ist seine warm. Er umschließt meine Finger, als fürchtete er, ich könnte mich losreißen.

Es klingt seltsam, aber ich habe noch nie mit einem Jungen Händchen gehalten. Jedenfalls noch nie auf diese Weise. Bei Jimmy hake ich mich oft unter oder halte seine Hand, aber das hat natürlich überhaupt nichts mit Romantik zu tun. Niemand wollte je neben mir laufen und dabei meine Hand festhalten, um der ganzen Welt zu zeigen, dass wir ein Team sind. Chase streift seine Kapuze zurück und wir schlendern den Pfad zum Strand entlang. Er atmet die frische Seeluft tief ein und lächelt glücklich. Mir fällt auf, dass er die süßesten Grübchen hat, wenn er lacht.

»Was ist?« Er zieht die Augenbraue hoch und blickt mich von der Seite an, während er unsere leeren Becher in einen Mülleimer wirft.

Erst jetzt merke ich, dass ich die ganze Zeit seine Grübchen angestarrt habe, ohne ein Wort zu sagen.

»Ähm … nichts … ich … du … na ja … ich … ähm.«

Oh Gott, ich habe das Sprechen verlernt.

Wie soll ich mich konzentrieren, wenn ich seine Grübchen direkt vor der Nase habe und er immer noch meine Hand hält? Ich kann ihm ja wohl schlecht erklären, dass ich seine hübsche Wange bewundert habe! Was würde er von mir denken? Fieberhaft suche ich nach einem interessanten Gesprächsthema. Irgendetwas muss mir doch einfallen!

»Kiesel!«, platze ich heraus, als mein Blick auf einen Stein im Sand fällt.

Kiesel? KIESEL? Warum muss mich mein Hirn ausgerechnet jetzt im Stich lassen?

»Was?«

»Ein Kieselstein«, sage ich und ziehe meine Hand aus seiner, um mich zu bücken und zum Beweis den Stein aufzuheben. »Kannst du Steine ditschen? Meine Mum hat es uns beigebracht, als wir hierhergezogen sind, und jetzt halte ich immer automatisch nach guten Steinen Ausschau, wenn ich am Strand bin. Und der hier sah ganz gut aus …« Ich hebe den Kopf und sehe, dass er mich merkwürdig mustert. Sofort lasse ich den Kieselstein fallen. Ich stehe auf und komme mir vor wie eine Idiotin. Bestimmt hält er mich jetzt für verrückt. »Sorry, wie lächerlich. Keine Ahnung, warum ich das gesagt habe. Achte einfach nicht auf mich.«

»Lächerlich? Wie kommst denn darauf?« Er bückt sich, nimmt den Stein und dreht ihn hin und her. »Ich will ja nicht angeben, aber was Steinehüpfen angeht, bin ich ein echter Champion.«

»Im Ernst?«, sage ich verblüfft. Ich bin selbst überrascht, dass meine Aktion mit dem Kieselstein nicht alles ruiniert hat.

»Du hast recht, das ist ein guter. Glatt und flach. Diese Chance dürfen wir uns nicht entgehen lassen. Du zuerst?«

Er hält mir den Stein auf seiner ausgestreckten Hand hin.

»Damit ich mich vor dem angeblichen Champion blamiere? Nein danke.«

Er grinst, und schon wieder treten diese Grübchen hervor, die mein Gehirn aussetzen lassen. »Sieh zu und staune.«

Chase tritt einen Schritt zurück, dann nimmt er Anlauf, holt am Wasser leicht nach vorne gebeugt aus und schleudert den Stein. Der Kiesel segelt durch die Luft und landet mit einem lauten Platsch in einer kleinen Brandungswelle. Ich pruste los.

»Okay, vielleicht bin ich ein bisschen aus der Übung«, sagt Chase und dreht sich zu mir um. »Können wir bitte so tun, als wäre das nie geschehen?«

»Ich bin sehr beeindruckt, Champion.«

Er mustert mich aus zusammengekniffenen Augen, dann sehe ich, wie er mit verschmitztem Blick auf ein Büschel Seetang direkt vor seinen Füßen schaut.

»Oh nein.« Ich schüttele warnend den Kopf. »Nein, nein, NEIN

Chase hat den Seetang bereits aufgehoben und kommt mit ausgestrecktem Arm auf mich zu. Übermütig jagt er mich damit ein Stück vor sich her, ehe er die Algen in die Luft schleudert – aber nicht auf mich, sondern einfach nur nach oben, sodass sie einen Moment später direkt auf seinem Kopf landen. Ich halte mir vor Lachen den Bauch.

»Das ist ja genau nach Plan verlaufen.« Er zupft den Tang aus seinen Haaren und lässt ihn in den Sand fallen.

»Der Seetang-Look steht dir wirklich gut.« Kichernd wische ich mir mit dem Jackenärmel über die Augen. »Du solltest ihn bei deinem nächsten Konzert tragen.«

»Ich werde es mir überlegen. Ist vielleicht ganz gut für die Publicity.« Grinsend kommt er zu mir und passt seine Schritte meinen an, während wir den Strand entlanggehen. »Das macht Spaß. Ich vermisse Wochenenden wie dieses.«

»Hast du denn nie frei?«

»Nicht wirklich. Versteh mich nicht falsch, in einer Band zu spielen ist toll, aber es bleibt kaum Zeit für etwas anderes. Mein Onkel hält nicht viel von Pausen. Ich musste ihn erst überreden, mir den Tag heute freizugeben. Aber ich hatte Glück – dieser Producer, mit dem er befreundet ist, hat ihn zu einem schicken Mittagessen eingeladen, deshalb habe ich ein paar Stunden für mich.«

»Ich stelle es mir irgendwie seltsam vor, den eigenen Onkel als Manager zu haben.«

Chase nickt gedankenverloren. »Ja, das ist es auch. Mark ist genial in allem, was er tut, aber er macht mir und den Jungs ganz schön Druck.«

»War er schon dein Manager, bevor dein Song zum YouTube-Hit wurde?«

»Nein, und er war deswegen ganz schön wütend.« Chase bleibt stehen, hebt eine Muschel auf, nimmt sie in Augenschein und lässt sie wieder fallen, bevor er weitergeht. »Er war schon länger im Musikbusiness … und ist sogar ziemlich bekannt, denn er hat mit einer ganzen Reihe von Topmusikern gearbeitet. Deshalb konnte er nicht verstehen, warum ich nicht zum ihm gekommen bin und von meiner Band erzählt oder ihm wenigstens einen Song geschickt habe. Als er die Reaktionen auf YouTube sah und mich erkannte, stand er sofort bei uns zu Hause auf der Matte und machte Mum Vorwürfe, weil sie ihm gegenüber nie die ›musikalischen Ambitionen‹ seines Neffen erwähnt hatte.« Chase schüttelt den Kopf. »Als ich ihm erklärte, dass ich nur zum Spaß in der Band spiele, hat er mich angesehen, als hätte ich nicht mehr alle Tassen im Schrank. Daraufhin sagte er nur, mein Leben würde sich komplett ändern, und so kam es dann auch.« Er zuckt mit den Schultern. »Bevor ich mich versah, hatten wir einen Plattenvertrag, Onkel Mark war mein Manager, und ich konnte nirgendwo mehr hingehen, ohne dass mich jemand fotografiert. So was wie heute, hier am Strand mit dir, das gibt es in meinem Leben nicht mehr.«

Schweigend gehen wir weiter. Ich denke über seine Worte nach, dann sage ich: »Was würdest du gerne machen?«

Er sieht mich fragend an. »Wie meinst du das? Du weißt doch, was ich mache. Ich bin in einer Band.«

Ich packe ihn am Arm und hindere ihn am Weitergehen. »Ich habe eine Idee. Leg dich kurz mal hin.«

»Jetzt? Hier am Strand?«

Ich lasse mich in den Sand fallen und strecke mich der Länge nach aus. »Komm schon, leg dich hin.«

»Okay, du verrücktes Wesen.« Er legt sich neben mich, sodass wir beide zum grauen Himmel hinaufstarren. »Wehe, es kommt eine Qualle angeschwemmt, während ich hier liege und nicht aufpasse. Ich weiß nicht, ob du dich noch an die Geschichte erinnerst, die ich dir erzählt habe, aber Quallen sind böse. Sie tauchen wie aus dem Nichts auf und –«

»Ich werde nicht zulassen, dass dich eine Qualle anfällt«, sage ich lachend und drehe meinen Kopf, damit ich ihn ansehen kann.

»Okay, ich vertraue dir.« Chase lächelt und beim Anblick seiner Grübchen fühlt sich mein ganzer Körper wie eine Qualle an. »Warum genau musste ich mich jetzt in den kalten Sand legen? Ist das irgendeine seltsame Tradition aus Norfolk?«

»Ich möchte, dass du in den Himmel schaust.« Ich beobachte ihn, wie er mich erst fragend ansieht und dann tut, was ich ihm gesagt habe.

»Und jetzt?«

»Vergiss mal kurz, dass du Chase Hunter von den Chasing Chords bist.«

»Okaaaaay.«

»Du bist jetzt nur Chase. Ein Junge, den ich in London getroffen habe. Jetzt haben wir uns zufällig wiedergesehen. Wir haben uns unterhalten und ich habe dir von Guildhall erzählt. Dass ich unbedingt dorthin will.« Ich blicke ebenfalls in den Himmel und beobachte die dahintreibenden Wolken. »Als ich klein war, sind wir einmal ins Barbican Theatre gegangen. Warst du schon mal dort?«

»Nein.«

»Das war, bevor Dad uns verlassen hat. Das Theater ist toll. Auf unserem Weg von der Liverpool Street dorthin sind wir an der Guildhall School of Music and Drama vorbeigekommen. Ich weiß es noch, als wäre es gestern gewesen. Ich habe den Kopf in den Nacken gelegt und das große Gebäude angeschaut und mir gewünscht, eines Tages an diesem Ort sein zu dürfen. Daran hat sich seither nichts geändert. Ich hoffe, ich bekomme ein Stipendium, um dort studieren und alles über Musik lernen zu können, denn ich kann mir nichts Schöneres vorstellen. Und dann …«

Ich halte inne.

»Und dann was?«, fragt Chase.

»Und dann … ich weiß nicht. Vielleicht werde ich Konzertpianistin. Oder ich spiele in einem Ensemble, vielleicht für ein West End Musical oder in einem Symphonieorchester. Vielleicht lerne ich zu komponieren, dann könnte ich das Gleiche machen wie Austin Golding. Vielleicht mache ich auch gar nichts mit Klavierspielen, sondern werde professionelle Wolkenbeobachterin.«

Aus dem Augenwinkel sehe ich ihn lächeln.

»Wenn ich dich richtig verstehe«, sagt er langsam, »weißt du zwar noch nicht genau, was du später einmal machen wirst. Aber du hoffst, dass es etwas mit Musik zu tun hat, denn das ist dein Traum.«

»Ich glaub schon. Und was ist mit dir?«, frage ich.

»Mit mir?«

»Ja. Du sprichst jetzt nicht auf einer Pressekonferenz. Und auch nicht zu deinen Fans. Oder zu Freunden und Familie. Du sprichst nur mit mir, dem Mädchen, das du in London kennengelernt und jetzt zufällig wiedergesehen hast. Also, was willst du wirklich?«

Er holt tief Luft. »Okay, ich schätze … ich möchte Songs schreiben. Wenn ich das tue, vergesse ich alles um mich herum. Und wenn der Song fertig ist und ich ihn zum ersten Mal spielen kann, dann gibt mir das einen Adrenalinstoß. Das Schreiben selbst kann frustrierend und ermüdend sein und ist manchmal harte Arbeit, aber … ich liebe es. Ich kann mir nicht vorstellen, kein Songwriter zu sein. Ergibt das für dich einen Sinn?«

»Ja«, sage ich sanft.

»Ich weiß nicht einmal, ob ich wirklich in einer Band spielen will.«

Er streckt die Hand aus und seine Finger finden meine im Sand. Ich drehe den Kopf und sehe, dass er mich die ganze Zeit beobachtet hat.

»Das habe ich noch nie jemandem gesagt«, verrät er mir, als sich unsere Blicke treffen.

»Ich kann ein Geheimnis für mich behalten«, verspreche ich ihm.

»Das wollte ich damit nicht sagen.«

Ich habe mich so in seinen unergründlichen blauen Augen verloren, dass ich vor Schreck laut aufschreie und panisch aufspringe, als eine Seemöwe direkt an meinem Ohr kreischt. Chase fängt an zu lachen.

»Tut mir leid!«, japst er, als er meinen finsteren Blick bemerkt. »Aber du hättest mal dein Gesicht sehen sollen.«

»Diese Möwe kam wie aus dem Nichts!« Ich spüre, wie meine Wangen heiß werden. »Ich dachte, sie würde sich auf meinen Kopf setzen.«

»Es muss dir nicht peinlich sein«, sagt er, immer noch glucksend. »Das war nichts im Vergleich zu meiner Seetang-Kopfbedeckung. Ehrlich gesagt bin ich beeindruckt von deinen Ninja-Instinkten. Ich glaube, ich habe noch nie jemanden so schnell aufspringen sehen.«

»Na ja, weißt du, ich hasse Tauben.« Wenn ich mir vorstelle, wie nah der Vogel an meinem Kopf war, läuft mir ein Schauder über den Rücken. »Wir haben sie schon immer gehasst, seit Nan–«

Mitten im Wort halte ich inne, denn bei dem Gedanken an Nancy packen mich plötzlich Gewissensbisse. »Ach, egal«, sage ich schnell. »Ich hasse Tauben. Und jetzt auch noch Seemöwen.«

»Ich werde dich vor Seemöwen beschützen, wenn du mich vor Quallen beschützt.«

»Einverstanden.«

»Wollen wir zurück zum Café?«

»Ja, es wird langsam richtig kalt«, stimme ich zu. Er hebt eine Muschel auf, betrachtet sie einen Moment und umschließt sie mit der Hand. »Nicht bewegen.«

»Warum?«, fragt er mit Panik in der Stimme. »IST DA EINE QUALLE

»Nein, keine Qualle.« Kichernd hole ich meine Kamera aus der Tasche. »Das Licht ist gerade so gut und das Meer ist der ideale Hintergrund.«

»Was? Nina –«

»Bleib einfach stehen.« Ich richte die Kamera auf ihn und schieße ein Foto. »Perfekt. Der echte Chase.«

Als ich vom Kameradisplay aufblicke, sehe ich, dass sich seine Miene verdüstert hat. Seine Augen sind jetzt hart und anklagend.

»Chase, bist du –«

»Ich glaub’s nicht! Du hast mich reingelegt!«

»Reingelegt? Wovon redest du?«

»Willst du mir weismachen, du hättest rein zufällig eine professionelle Fotoausrüstung dabei?«

»Ich –«

»Hat mein Onkel dich auf mich angesetzt? Hat er unser Treffen im Plattenladen arrangiert? Lass mich raten, in fünf Sekunden ist das Foto auf Instagram, mit der Bildunterschrift ›Der echte Chase‹.«

»Was? Ich bin nicht auf Instagram!«

»Ich habe dir vertraut«, zischt er. Abrupt wendet er sich von mir ab, um mit großen Schritten davonzulaufen.

Einen Augenblick lang stehe ich wie erstarrt da und begreife nicht, was gerade passiert ist. Doch dann kocht etwas in mir hoch. Wenigstens dieses eine Mal möchte ich gehört werden und mich nicht einfach beiseitewischen lassen. Dafür ist mir das zu wichtig.

»Hey!«, rufe ich und renne los. Als ich ihn eingeholt habe, stelle ich mich ihm in den Weg. »Wie kannst du nur so etwas von mir denken? Ich war die ganze Zeit ehrlich zu dir. Ich werde dieses Foto ganz sicher nicht ins Internet stellen. Mit Social Media kann ich nichts anfangen, das habe ich dir doch gesagt. Ich weiß nicht mal, wie Instagram funktioniert, und erst recht nicht, wie man einen Text unter das Bild kriegt. Ich fotografiere gerne, so wie ich auch gerne Musik mache. Die Kamera habe ich von meiner Mum zum Geburtstag geschenkt bekommen. Es ist nur ein Hobby. Glaubst du, du bist der Einzige, der heute etwas von sich preisgegeben hat? Ich habe dir auch vertraut.« Ich spüre Tränen in meinen Augen, aber ich weiche seinem Blick nicht aus. »Ich mag dich. Und zwar nicht, weil du in einer Band bist oder weil du berühmt bist und all das. Sondern weil du mir zuhörst. Ich mag dich

Sein Gesichtsausdruck wird weicher, und als ich den Blick senke, um die Tränen wegzublinzeln, nimmt er meine Hände.

»Nina, es tut mir leid. Beim Anblick der Kamera bin ich einfach ausgeflippt. Es ist nur so … ich bin schon mehr als einmal enttäuscht worden. Ich habe den falschen Leuten vertraut und am nächsten Tag waren meine Geheimnisse im Internet für jeden zu lesen. Es tut mir leid. Das war mein Fehler, ich habe überreagiert.«

»Ich würde dir so etwas niemals antun.«

»Ich weiß«, sagt er leise. »Es tut mir leid. Wirklich. Das war dumm von mir.«

»Ja«, schniefe ich. »Das war es.«

Er grinst. »Hey, aber du hast zugegeben, dass du mich magst. Das ist doch schon mal ein Erfolg.«

»Ich weiß nicht, ob ich dich jetzt noch mag.«

»Du hast es zweimal gesagt. Die Seemöwe da drüben ist mein Zeuge.«

»Ich hasse Möwen.«

»Ich weiß«, sagt er und streicht eine widerspenstige Locke aus meinem Gesicht. Ich spüre, wie seine Hand langsam zu meinem Kinn gleitet und er meinen Kopf sanft anhebt, sodass wir uns anschauen. Er legt seinen Arm um meine Taille und zieht mich an sich. Dann schließt er die Augen und küsst mich. Mein erster Kuss. Er ist perfekt.

Plötzlich sind mir die Möwen egal. Und die Quallen. Und auch die Tatsache, dass meine Finger inzwischen blau vor Kälte sind. Überhaupt ist mir alles egal.

Wichtig ist nur dieser Augenblick. Ich wünsche mir, dass er niemals endet.