Chase Hunter@ChaseHunter
Eine flüchtige Begegnung gestern geht mir nicht mehr aus dem Kopf. Leute, ich brauche eure Hilfe. Kennt jemand N. Palmer? #FINDTHEGIRL
Ich reibe meine Augen. Dann noch einmal. Ich blinzle mehrmals. Kneife mich ganz fest am Handgelenk. Dann noch zweimal. Es tut weh. Sehr sogar.
Ich bin also definitiv wach.
Ich blicke auf mein Handy und lese den Text.
Ganz ruhig, Nancy. Bleib. Ganz. Ruhig.
»AAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAHHHHHHH!!!!!«
Mum platzt in mein Zimmer. Sie trägt ihren blauen Morgenmantel, hat ihre Schlafbrille nach oben geschoben und ihre Haare stehen in alle Richtungen ab. Anscheinend hat sie gerade noch tief und fest geschlafen.
»Nancy, was ist los?«, ruft sie und kommt an mein Bett geeilt. »Was ist passiert?«
»OHMEINGOTTOHMEINGOTTOHMEINGOTTOHMEINGOTT!«
Plötzlich ist Nina da, in einem grässlichen Flanellpyjama mit lauter Vögeln drauf. Wenn ich nicht so abgelenkt wäre von dem Allerbesten, was mir je passiert ist, würde ich ihr den guten Rat geben, das scheußliche Ding sofort in die Mülltonne zu werfen. Aber das kann warten und muss auf einen nicht ganz so unglaublich tollen und perfekten Tag verschoben werden.
»Was ist hier los?«, fragt Nina verschlafen. »Ich habe einen Schrei gehört.«
»Ich weiß es nicht!« Besorgt legt Mum ihren Handrücken an meine Stirn, um herauszufinden, ob ich Fieber habe. »Sie hat alle Anzeichen eines Schocks. Hattest du einen Albtraum, Nancy? Es ist alles gut, es war nur ein Traum.«
»Nein«, keuche ich. »Das ist kein Traum. Ich habe es gecheckt. Ich bin da. Du bist da. Nina auch. Und das ist mein Handy. Es ist alles echt. Es ist ganz sicher KEIN Traum.«
»Was redet sie da?« Mum blickt Nina fragend an, die nur ratlos die Schultern zuckt.
»Seht euch das an!«, rufe ich mit überschlagender Stimme. Ich drücke Mum das Handy in die Hand, springe aus dem Bett und tanze juchzend durchs Zimmer.
»Was ist los?«, fragt Nina, als ich ihre Hände ergreife und mit ihr im Kreis herumhüpfe. »Nancy, hör auf! Sonst wird uns schwindlig.«
»Mir ist schon schwindlig! Ich bin das schwindligste, glücklichste Mädchen auf der ganzen Welt! Nina …« Zittrig vor Aufregung umklammere ich ihre Hände noch fester. »Er sucht nach mir!«
»Wer sucht nach dir? Was ist hier eigentlich los?«
»Mein Plan hat funktioniert! Er hat tatsächlich funktioniert. Ich habe keine Ahnung, wie, aber es hat geklappt!«
Ich renne zu Mum, die verwirrt auf mein Handy starrt, als handelte es sich dabei um eine Zeitmaschine.
»Ich versteh das nicht«, sagt sie, als ich ihr das Handy entreiße, es an meine Brust drücke und wie ein Springball auf und ab hopse. »Was war gestern los, Nina? Hat sie im Konzert jemanden kennengelernt? Einen Jungen?«
Nina schüttelt den Kopf. »Ich weiß auch nicht. Keine Ahnung, was sie hat.«
»Ich habe gar nichts!«, rufe ich ausgelassen. Von dem vielen Grinsen tut mir allmählich der Kiefer weh. »Mit mir ist alles in Ordnung. Nina, schau dir das an! Schau her!«
Ich reiche ihr mein Handy. Stirnrunzelnd nimmt sie es, liest den Tweet – und schnappt nach Luft.
»Siehst du?«, jubele ich. »Er sucht nach N. Palmer! DAS BIN ICH!«
»Kann mir bitte jemand sagen, was hier vorgeht?« Mum lehnt sich erschöpft auf dem Bett zurück. »Ich war in meinem Leben noch nie so verwirrt. Und dabei ist es noch nicht einmal sieben Uhr.«
»Das ist Chase«, sagt Nina, die wie gebannt auf das Handy starrt, während ich das Fenster aufreiße und der Welt draußen ein lautes »Jipiiiiiiiiiiiiie!« zurufe.
Ein Mann, der mit seinem Hund auf dem Gehweg spazieren geht, ist so überrascht, dass er prompt gegen einen Laternenpfahl rennt. Ich winke ihm übermütig zu, während er wütend seinen Kopf reibt.
»Chase?« Mum legt die Stirn in Falten. »Was meinst du mit chase? Bedeutet das nicht so viel wie ›auf jemanden Jagd machen‹? Hast du Schwierigkeiten mit der Polizei? Junges Fräulein, ich hoffe, du hast nichts angestellt, sonst müssen wir ein ernstes Wort miteinander reden.«
»Nein, du verstehst das ganz falsch. Chase Hunter. Ein Junge. Der Sänger von Chasing Chords – der Band, bei der wir gestern auf dem Konzert waren«, erklärt Nina ruhig und legt das Handy vorsichtig auf meinen Schminktisch. »Er hat getweetet, dass er ein Mädchen sucht.«
»Nicht irgendein Mädchen.« Ich lasse mich aufs Bett plumpsen, schlinge die Arme um Mums Hals und bringe sie zum Kichern. »N. Palmer. Weißt du nicht, wofür das steht?«
»Kann sein, dass ich den Namen schon mal gehört habe …«
»NANCY PALMER! DAS BIN ICH!« Ich springe vom Bett auf und tanze um Nina herum. »Chase Hunter sucht mich! Ich wusste, dass das eines Tages passieren würde!«
»Ich dachte, du hättest ihn nicht getroffen«, sagt Nina und weicht zurück in Richtung Tür, während ich überglücklich herumschwirre.
»Nein, aber das ist jetzt nicht wichtig. Das SCHICKSAL führt uns zusammen.«
»Für einen Sonntagmorgen ist mir das zu viel Aufregung.« Mum gähnt und streckt sich. »Ich setze den Wasserkessel auf. Eine Tasse Tee kann jetzt nicht schaden.«
»Tee? Tee? MUM!« Ich schnappe mein Handy, lasse mich rücklings aufs Bett fallen und strecke Arme und Beine von mir wie ein Seestern. »Wie kannst du in einem solchen Moment an Tee denken? Chase Hunter von den Chasing Chords sucht mich! Schau dir den Hashtag an, den er sich für mich ausgedacht hat!«
»Was, bitte, ist ein Hashtag? Ist das eine Art Gedicht?«
»Hä? Nein, das ist kein Gedicht!« Ich reiche ihr mein Handy und deute auf das Display. »Hier, das ist ein Hashtag … #FINDTHEGIRL. Ganz unten in der letzten Zeile des Tweets. Jede Wette, es geht viral! Alle werden wissen, dass er auf der Suche nach mir ist. Nach N. Palmer. Er sucht mich, mich, mich!«
Ich stehe auf, tänzle durchs Zimmer zu dem gerahmten Foto auf meinem Schminktisch, nehme es in die Hand und küsse Chase. Auf dem Bild bleibt ein Fleck zurück, wo meine Lippen das Glas berührt haben.
»Aha, und du hast geantwortet!« Mum starrt immer noch auf mein Handy. »Du scheinst sogar sehr oft geantwortet zu haben, Nancy. Meinst du nicht, einmal hätte genügt? Du hast Dutzende Male geantwortet.«
»Was?«
Mit einem Satz bin ich bei ihr und entreiße ihre das Handy, um die Antworten auf seinen Tweet zu lesen.
Wie bitte? Das darf ja wohl nicht wahr sein!
»AAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAHHH!«
»Nancy!«, ruft Nina und hält sich die Ohren zu. »Du weckst die ganze Nachbarschaft auf!«
»Die Nachbarn sind mir egal!«, schreie ich. »Diese Mädchen tun so, als wären sie ich! WIE KÖNNEN SIE NUR?!«
»Ich versteh nur Bahnhof«, stöhnt Mum und lässt sich auf meinen Berg aus Chasing-Chords-Kissen zurücksinken.
»Schau dir das an, Nina!« Ich gehe zu ihr und halte ihr mein Handy unter die Nase. »Schau, wie unverschämt die sind.«
»Wow«, sagt Nina und scrollt weiter nach unten. »Anscheinend gibt es auf Twitter eine Menge N. Palmers. Und alle behaupten, dass sie gestern Abend Chase Hunter begegnet sind.«
»Na ja, der Name Palmer ist nicht gerade selten«, überlegt Mum. »Als ich noch jünger war, habe ich ernsthaft mit dem Gedanken gespielt, ihn in Palmenbaum umändern zu lassen, um ihn etwas aufzupeppen. Als euer Großvater das hörte, hat ihn das glatt auf die Palme gebracht.«
»Lauter Lügen!«, kreische ich. »Nie im Leben heißen die alle N. Palmer. Sie versuchen, ihn auszutricksen. Wie können sie nur? Manche Leute haben überhaupt kein Schamgefühl!«
»Jetzt beruhige dich, Nancy«, sagt Nina beschwichtigend. »Ich bin sicher, er glaubt ihnen kein Wort. Er hätte sich aber auch denken können, dass so etwas passiert.«
Mum lacht. »Das ist wie Cinderella im echten Leben!«
»Ich finde das NICHT lustig, Mum!«, fauche ich sie an. »Das ist eine Katastrophe!«
»Ganz und gar nicht.« Lächelnd stößt Mum sich vom Bett ab und steht auf. Sie kommt zu uns gesegelt, legt einen Arm um Nina, den anderen um mich und drückt uns an sich. »Ich finde das wundervoll! Noch vor ein paar Tagen habt ihr kaum ein Wort miteinander gesprochen und erst recht keinen Fuß ins Zimmer der anderen gesetzt. Und jetzt redet ihr miteinander, als wäre es das Normalste auf der Welt! Seht ihr? Mein schlauer Plan hat funktioniert. Ich sehe goldene Zeiten auf uns zukommen.«
»Was für ein schlauer Plan?«, fragt Nina. »Ich dachte, Nancy und ich sind gestern nur deshalb allein nach London gefahren, weil du arbeiten musstest. Hast du uns etwa angelogen?«
»Das werdet ihr wohl nie erfahren«, wispert Mum augenzwinkernd, ehe sie durch die Tür entschwebt. »Ich setze das Teewasser auf, meine herzallerliebsten Engelchen!«
»Herzallerliebste Engelchen?«, wiederholt Nina und sieht mich vielsagend an. »Jetzt ist sie endgültig übergeschnappt.«
»Nina, was mach ich denn jetzt?«, sage ich flehentlich und umklammere ihren Arm. »Wenn ich ihm auf Twitter antworte, denkt er, ich bin auch nur eine von diesen Betrügerinnen.«
»Aber wenn du ihm nicht antwortest, wie willst du dann –«
»Er sucht mich, Nina, das weiß ich genau. Vielleicht hat er mich im Publikum entdeckt, vielleicht verfolgt er meine Tweets, vielleicht wusste er, dass ich auf ihn warte, vielleicht bin ich auf der Straße in ihn hineingerannt, ohne es zu merken, weil er sich verkleidet hat, um von seinen hemmungslosen Fans nicht erkannt zu werden. Keine Ahnung, wie er auf mich gekommen ist, aber es ist Schicksal, alles andere ist undenkbar. Was meinst du?«
»Ich weiß nicht …«
»Nina.« Ich packe sie am Arm und ziehe sie zu mir ans Bett. »Du kennst ihn nicht, aber ich schon. Seit ich denken kann, bin ich in Chase Hunter verliebt. Ich war diejenige, die seine Musik an unserer Schule bekannt gemacht hat. Ich bin sein größter Fan, seine wichtigste Unterstützerin. Hältst du es wirklich für Zufall, dass er ausgerechnet am Tag nach der Show diesen Tweet absetzt?«
Nina sieht mich nachdenklich an. »Was hast du jetzt vor?«
»Ich brauche einen Plan. Aber das geht nicht ohne Hilfe. Ich schreibe Layla und Sophie, damit sie gleich nach dem Aufwachen herkommen. Mit vereinten Kräften werden wir die nächsten Schritte überlegen.«
»Das ist eine gute Idee«, stimmt Nina mir zu. Sie steht auf und geht zur Tür. »Viel Glück.«
»Was? Willst du mir nicht helfen?«
Sie bleibt im Türrahmen stehen und dreht sich zu mir um.
»Du … du willst, dass ich dir helfe?«
»Natürlich! Hast du nicht gehört, was ich gesagt habe? Wir müssen alle gemeinsam unser Hirn anstrengen. Mit Betonung auf alle. Ohne Layla und Sophie beleidigen zu wollen, steht ja wohl fest, dass sie zwar schlau, aber längst nicht solche Nerds sind wie du.«
»Falls das ein Kompliment war, danke.«
»Komm schon, Nina, ich habe dich seit Jahren nicht mehr um Hilfe gebeten. Und selbst als wir noch alles zusammen gemacht haben, war meistens ich diejenige, die dir geholfen hat, stimmt’s? Meinst du nicht, du bist mir was schuldig? Wie war das damals, als du dich mit meiner Hilfe bei der schicken Dinnerparty von Mums Freunden nebenan eingeschlichen hast?«
»Wir haben uns heimlich auf der Dinnerparty eingeschlichen, weil du meine Hilfe brauchtest, um die Schachtel mit den teuren Pralinen zu klauen, die Mum als Gastgeschenk mitgebracht hatte!«
»Und habe ich die Pralinen mit dir geteilt oder nicht?«
Sie seufzt. »Ich habe vielleicht ein oder zwei davon gegessen, ja.«
»Na also!« Ich nicke zufrieden. »Gern geschehen. Und jetzt bitte ich dich, den Gefallen zu erwidern.«
»Das behauptest du jetzt, aber sobald Layla und Sophie da sind, willst du mich sofort wieder loswerden«, erwidert sie und wird rot. »Ich sage immer das Falsche und dann bin ich dir peinlich. Schon in Ordnung, ich habe noch jede Menge Hausaufgaben. Außerdem muss ich Klavier üben und irgendwann Jimmy anrufen. Er will bestimmt wissen, wie es gestern war.«
Ich überlege kurz, ob ich protestieren soll. Aber ich habe schon alles versucht, um sie zu überreden, und ihre Antwort war eindeutig. Also gebe ich mich geschlagen.
»Na gut«, sage ich knapp. Ich lege mich aufs Bett, schnappe mir das Handy, um den Mädchen eine Nachricht zu schicken. »Dann bis später.«
Sie nickt und geht hinaus. Ehrlich, ich verstehe sie nicht. Niemand hat so viele Hausaufgaben, außerdem hat sie erst gestern Klavier geübt. Sie muss nicht ständig spielen, sie ist schon gut genug.
Man könnte meinen, sie will gar keine Freunde haben. Dabei könnte ich ihre Hilfe bei der vertrackten Chase-Sache brauchen. Dass sie sich weigert, heute ein paar Stunden mit mir zu verbringen, deprimiert mich. Doch dann denke ich wieder an Chase, der nach mir sucht, und sofort könnte ich die ganze Welt umarmen. Und überhaupt, es ist ja nicht so, als wären Nina und ich die besten Freundinnen.
Nachdem ich mehrfach von Anfang bis Ende Chase’ Lieblingssong ›Take a Risk‹ in der Dusche geträllert habe, gehe ich nach unten, wo Mum gerade vom Einkaufen zurück ist und Unmengen fürs Frühstück besorgt hat.
»Wow! Danke, Mum.« Ich schnappe mir ein Croissant und beiße hinein. »Können wir etwas davon für Layla und Sophie aufheben? Sie werden bald da sein.«
»Layla und Sophie kommen hierher?«
Mum blickt Nina an, die am Tisch sitzt, ihre Nase im Buch von diesem Dirigenten vergraben hat und geistesabwesend Rührei isst.
»Was ist los?«, frage ich. »Ist dir das nicht recht?«
»Nein! Nein, sie sind natürlich herzlich willkommen und können sich gerne bedienen.«
Ich lasse die beiden allein und ziehe mich mit dem Gebäck in mein Zimmer zurück, um mir mein Make-up zu überlegen. Mum denkt bestimmt, ich will Nina ausschließen, dabei ist Nina diejenige, die sich ausgrenzt. Ich ordne meine Make-up-Pinsel und überlege, welchen Look ich mir heute geben soll, für den Fall, dass bei unserem Chase-Hunter-Plan Fotos eingeplant sind. Ich trage Foundation auf und entscheide mich für einen knallroten Lippenstift und ein schlichtes Augen-Make-up. Genau so habe ich gestern ausgesehen. Ich möchte, dass er mich sofort erkennt.
Gerade als ich mit dem Konturenstift angefangen habe, klingelt es an der Tür.
»Kann mal jemand aufmachen?«, rufe ich nach unten. »Bin gerade beschäftigt!«
Ich höre Schritte in der Diele und das Klicken, als die Haustür aufgeht. Einen Moment herrscht Stille, dann höre ich Laylas Stimme.
»Wow. Hübscher … Pyjama.«
Offenbar ist Nina zur Tür gegangen. Leider habe ich vergessen, dass sie diesen bescheuerten Schlafanzug anhat. Ich ärgere mich über mich selbst, weil ich ihr nicht gesagt habe, dass sie sich umziehen soll, bevor meine Freundinnen auftauchen. Alberne Klamotten sind immer ein gefundenes Fressen für Layla.
»Ich kann nicht glauben, dass das wahr ist!«, kreischt Sophie, kaum dass die beiden einen Fuß in mein Zimmer gesetzt haben. Sie folgt Layla zu meinem Bett und arrangiert die Chasing-Chords-Kissen, damit beide sich gut anlehnen können.
Layla setzt sich so, dass sie meinen Blick im Spiegel auffängt. »Was hat deine Schwester an? Wie ist sie an den Pyjama gekommen?«
»Wenn ich mich nicht irre, ist er ein Geschenk von meiner Mum.«
»Das passt. Die beiden haben einen ähnlichen Geschmack.«
»Hast du den Tweet gelesen?«, frage ich, um das Gespräch von Nina weg und hin zu Chase zu lenken. »Ist das nicht Wahnsinn? Was soll ich jetzt tun?«
»Wie meinst du das?«, fragt Layla erstaunt.
»Ich kann ja wohl kaum zurücktweeten und ihm sagen, dass ich es bin, oder? Das machen alle. Ich muss mir was anderes ausdenken, was richtig Originelles …«, ich werfe meine Haare über die Schultern, »eben durch und durch Nancy.«
Sophie kichert. »Du bist so witzig.«
»Hast du nicht gesagt, du hättest ihn gestern verpasst?«, fragt Layla. »Meinst du wirklich, er meint dich?«
»Layla, er hat von einer N. Palmer gesprochen. Natürlich meint er mich.«
»Er kennt deinen Namen, ist das nicht irre?«, begeistert sich Sophie. »Ich hätte nie gedacht, dass er dich auf dem Schirm hat! Und jetzt will er sogar Kontakt mit dir aufnehmen!«
»Glaubst du, er kennt die Fanfiction-Seite?«, fragt Layla, die anscheinend zur Abwechslung einmal etwas Nützliches beisteuern will.
»Ich schätze, es ist eine Kombination aus Tweets, Fanfiction und der bedingungslosen Unterstützung, die er von Anfang an von mir bekommen hat. Offenbar hat er mich gestern im Konzert gesehen und zwei und zwei zusammengezählt.« Mit einem glücklichen Schulterzucken füge ich hinzu: »Es ist eben Schicksal.«
»Du und Chase Hunter, es ist unfassbar!«, quäkt Sophie. Sie wackelt mit den Füßen, was ihr einen missbilligenden Blick von Layla einbringt. »Stell dir nur mal vor, was am Montag in der Schule los sein wird. Ich bin so froh, dass ich deine Freundin bin!«
Bei dem Gedanken an die Reaktionen in der Schule fängt mein Magen an zu kribbeln.
»Meint ihr, die anderen wissen Bescheid?«, frage ich betont beiläufig.
»Und ob!«, kreischt Sophie. »Ich habe schon alle benachrichtigt, wir reden von nichts anderem mehr.«
»Wenn er dich von der Fanfiction-Webseite kennt, warum hat er dir dann nicht dorthin geschrieben?«, überlegt Layla. Sie steht auf und durchsucht mein Nagellacksortiment. »Warum hat er getweetet, statt dich direkt anzusprechen?«
»Ein guter Einwand«, sagt Sophie nachdenklich. »Also kennt er deine Fanfiction gar nicht!«
»Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass gestern Abend zwei Nancy Palmers im Konzert waren?«, entgegne ich, zunehmend genervt von Laylas Gleichgültigkeit einer Sache gegenüber, die mir so viel bedeutet.
Sophie schüttelt nur den Kopf und Layla wählt schweigend einen lila und einen blauen Nagellack aus.
»Na also. Das kann nur ich sein. Die Frage ist: Wie schaffe ich es, ihn zu treffen? Wir müssen uns etwas ausdenken.«
»Er ist gerade ein paar Wochen in London«, stellt Sophie fest. Layla lässt sich auf dem Fußboden nieder, legt ihre Hand auf den Nachttisch und fängt an, ihre Nägel zu lackieren. »Chasing Chords sind auf Werbetour bei verschiedenen Radiosendern.«
»Das stimmt. Vielleicht komme ich so an ihn ran.«
»Du bist keine Journalistin«, wendet Sophie ein.
»Nein, aber Bloggerin. Ich könnte einen Presseausweis für Blogger beantragen.«
»Du hast einen Blog?«
»Rein technisch gesehen ist die Fanfiction-Seite auch nichts anderes, oder?«
»Und du hast deinen Instagram-Kanal«, fügt Sophie aufgeregt hinzu. »Du hast eine riesige Follower-Gemeinde! Das muss doch etwas zählen.«
»Mir gefällt die Richtung, in die du denkst, Sophie. Ich poste die Presseveranstaltungen von Chasing Chords. Die Verantwortlichen lesen sie und lassen mich rein – besonders wenn sie merken, dass ich viele Follower habe UND kostenlose Werbeprodukte zugeschickt bekomme.«
»Welche denn?«, fragt Layla, die darauf wartet, dass ihre Nägel trocknen, damit sie auch die andere Hand lackieren kann.
»Die Schuhe, weißt du nicht mehr?« Ich deute auf meine wunderschönen High Heels, die ordentlich neben der Tür aufgestellt sind. »Sobald ich Chase gegenüberstehe, wird er erkennen, wer ich bin. Der Rest ergibt sich wie von selbst.«
»Ein toller Plan!«, stimmt Sophie zu.
»Da wir das jetzt geklärt haben, meinst du, wir könnten endlich frühstücken?«, fragt Layla und schraubt das Nagellackfläschchen zu.
Fast den ganzen Tag hoffe ich darauf, dass eine der beiden das Gespräch noch einmal auf Chase bringt, damit wir über #FINDTHEGIRL reden können, aber Layla verliert so gut wie kein Wort darüber, und Sophie ist so leicht abgelenkt, dass sie sofort wieder abschweift, wenn wir uns dem Thema nähern.
Als die beiden sich am Nachmittag verabschieden, bin ich froh, dass sie gehen. Endlich kann ich mir einen genauen Plan überlegen und vielleicht noch eine Fanfiction verfassen. Plötzlich bin ich wieder voller Elan.
»Hattest du einen netten Tag mit deinen Freundinnen?«, ruft Mum, als ich die Haustür schließe.
Ich gehe zu ihr ins Wohnzimmer. Sie sitzt auf dem Sofa und starrt auf den niedrigen Tisch, auf dem eine unserer … Bratpfannen steht?
»Ja, es war toll. Was machst du da? Und was soll die leere Bratpfanne auf dem Tisch?«
»Ah! Schön, dass du fragst.«
Oh Mann, jetzt geht’s los.
»Ich habe beschlossen, mich wieder der Kunst zu widmen. In meinen jungen Jahren war ich besonders gut im Aktzeichnen«, erklärt Mum und tippt mit einem Kohlestift gegen den Zeichenblock auf ihrem Schoß.
»Aktzeichnen? Mum! Heißt das, du zeichnest … Nackte?«, frage ich entsetzt.
»Mein Kunstlehrer meinte immer, ich hätte ein Händchen für die menschlichen Formen. Um mein Talent aufzufrischen, werde ich mit einfachen Gegenständen anfangen. Zum Beispiel mit dieser Bratpfanne.«
»Nur damit ich dich richtig verstehe«, sage ich und lehne mich an den Türrahmen. »Du zeichnest diese Bratpfanne, damit du danach nackte Menschen zeichnen kannst?«
»Mal sehen, wie gut ich sie aufs Papier kriege«, überlegt Mum und fuchtelt mit ihrem Stift herum. »Ein Schritt nach dem anderen, sage ich immer.«
Ich wünsche ihr viel Glück, bevor ich die Treppe hinaufstürme und mich im Stillen frage, ob Mum schon immer durchgeknallt war oder ob es etwas mit der Landluft zu tun hat. Vor meiner Tür bleibe ich stehen und lausche auf die Musik, die aus Ninas Zimmer dringt.
Lächelnd schleiche ich mich zu ihrer Tür, lege die Hand auf den Griff, warte auf den perfekten Moment – um dann mit Schwung hineinzuplatzen. Die Tür kracht so laut gegen die Wand, dass Nina vor Schreck einen Satz macht.
»AHA!«, rufe ich und stemme die Hände in die Hüften wie Peter Pan.
»Nancy!«, kreischt Nina hinter dem Keyboard. »Du hast mich erschreckt!«
»Ich habe dich spielen hören.«
»Ja, und?«
»Was heißt hier ja, und? Du hast Chasing Chords gespielt! Das war ›Ghosts‹!«
Röte schießt ihr in die Wangen. »Ich habe nur vor mich hin geklimpert.«
»Gib’s zu!« Grinsend baue ich mich mit verschränkten Armen vor ihr auf. »Nina, die große Musikerin mit dem erhabenen klassischen Geschmack hat sich in Chase verliebt!«
»Was?«, stößt Nina hervor und steht ruckartig auf. »Ich bin nicht in ihn verliebt!«
»Dann eben in seine Musik. Du kannst mich nicht hinters Licht führen, Nina, ich habe es genau gehört. Außerdem würdest du nie etwas spielen, was dir nicht gefällt. Die ganze Zeit hast du behauptet, es sei keine richtige Musik, weil Geigen fehlen und der Dirigent im gelben Hemd, bla, bla, bla. Gib es zu, du hast dich geirrt.«
»Also gut«, sagt sie schmunzelnd. »Die Musik ist gar nicht schlecht.«
»Und?«
»Und was?«
»Du kannst dich gerne bei mir bedanken, weil du über mich diese großartige Band kennengelernt hast.«
Sie lacht. »Wenn du meinst. Danke, Nancy, dass ich über dich die Musik von Chasing Chords kennengelernt habe.«
»Gern geschehen. Jetzt schuldest du mir gleich noch einen Gefallen.«
»Ich setze ihn auf die Liste. Zu den teuren Pralinen.«
»Ach übrigens, Mum ist unten und zeichnet eine Bratpfanne.«
»Ja, ich weiß«, sagt sie. »Schon seltsam.«
Ich wende mich zum Gehen, denn ich kann es kaum erwarten, endlich einen #FINDTHEGIRL-Plan aufzustellen.
»Warte«, sagt Nina. »Ich hab was für dich.«
Sie kommt hinter ihrem Keyboard hervor, greift nach einem Blatt Papier auf ihrem Schreibtisch und reicht es mir. Darauf hat sie in ihrer krakeligen Handschrift Namen notiert.
»Was ist das?«, frage ich und überfliege die Liste.
»Das sind Songs, die dir gefallen könnten«, antwortet sie beinahe schüchtern. »Ich habe mir Chasing Chords angehört, also ist es nur fair, wenn du dich auch mit Austin Golding beschäftigst. Der, wie du sehr wohl weißt, ein Komponist ist und kein Dirigent. Vielleicht magst du die Songs. Du kannst sie downloaden oder auf YouTube anhören. Mein Lieblingsstück ist das Erste. Ich bin gespannt, was du dazu sagst.«
Ich falte das Blatt Papier zusammen. »Danke, Nina. Ich werde mal reinhören. Das ist echt cool von dir.«
»Schon okay.«
Bevor ich ihr Zimmer verlasse, tauschen wir ein kurzes Lächeln aus. Als ich vor meiner Tür stehe, höre ich plötzlich eine Stimme von irgendwoher.
»Siehst du?«
»Mum!«, poltere ich los und wirble herum. Siegessicher steht sie mit verschränkten Armen an der Treppe. »Musst du mich so erschrecken? Mach das nie wieder!«
»Es läuft alles nach Plan«, sagt Mum und tippt an ihren Kopf. »Nach einem sehr, sehr schlauen Plan.«