Seit ich denken kann, bin ich in Chase Hunter verliebt.
Ich liebe alles an ihm. Wie seine dichten dunkelbraunen Haare abstehen, wenn er sie mit den Fingern zerzaust (was er immer tut, wenn er nervös ist). Seine unglaublich süßen Grübchen, wenn er lächelt und dabei seine perlweißen Zähne zeigt. Seine wie gemeißelt wirkenden Züge mit den unfassbar schönen Wangenknochen und dem ausdrucksstarken Kinn. Aber am liebsten mag ich seinen Kleidungsstil, Vintage-Indie. Egal was er anhat, er sieht immer heiß aus (aber am besten gefällt er mir in seinem Lieblings-Outfit, ganz schlichte schwarze Skinny Jeans, weißes Shirt und Lederjacke, dazu der Fedora-Hut, ohne den er so gut wie nie aus dem Haus geht). Und dann erst seine durchdringenden, von langen dunklen Wimpern umrahmten strahlend blauen Augen, von denen du weiche Knie kriegst, während gleichzeitig dein Hirn aussetzt und du die eigene Muttersprache vergisst, sodass dir kein einziges Wort mehr einfällt.
Überhaupt ist Chase der talentierteste Mensch der Welt. Er spielt massenhaft Instrumente, aber am besten kann er Klavier spielen. Mit vier Jahren hat er schon damit angefangen, als sein Dad ihn zum ersten Mal auf einen Klavierhocker setzte. Außerdem hat Chase eine tolle Stimme; wenn er singt, läuft mir ein Schauer über den Rücken und mir bleibt die Luft weg.
Chase und ich sind füreinander geschaffen. Wir mögen die gleichen Dinge, wie zum Beispiel (aber nicht nur):
Mit anderen Worten: Wir sind Seelenverwandte.
»Nancy? Hallo, Erde an Nancy!«
Ich hebe ruckartig den Kopf, als die Stimme meiner Freundin Layla mich aus meinem Tagtraum reißt.
»Sorry!« Ich lächle sie an, aber Layla verdreht nur die Augen. Sie setzt sich neben mich und kramt ihr Handy aus der Tasche. »Ich war mal wieder in meiner eigenen Welt.«
Ich habe gerade an Chase’ letzte Geburtstagsparty gedacht, auf der er ein offenes, rot-schwarz kariertes Flanellhemd über einer Weste getragen hat. Damals hatte ich beim Anblick seines tollen Layer-Looks so scharf Luft geholt, dass ich versehentlich meinen Kaugummi verschluckte und einen Hustenanfall bekam.
Was wieder einmal beweist, wie gut Chase Hunter aussieht.
Er hat mich im wahrsten Sinn des Wortes fast das Leben gekostet.
»Egal«, seufzt Layla, die damit beschäftigt ist auf ihrem Handy herumzutippen. »Also, was ist jetzt mit den großen Neuigkeiten, die du mir erzählen wolltest?«
»Schau dir mal die neue App an, dich ich runtergeladen habe.« Grinsend schiebe ich mein Handy über den Tisch zu ihr.
Ihr Blick löst sich von ihrem eigenen Handy und flackert widerstrebend zu meinem Display.
»Was soll das sein?«, fragt sie gelangweilt. »Und wer hat eigentlich das Fenster aufgemacht? Echt, hier friert man sich ja zu Tode.«
Ich zucke mit den Schultern, strecke mich und schließe das Fenster unseres Klassenzimmers, ohne zu erwähnen, dass ich es kurz zuvor aufgerissen habe. Ich hatte mein neues Parfum versprüht und womöglich ein kleines bisschen übertrieben, jedenfalls musste ich danach ungefähr hundertmal niesen, und selbst jetzt habe ich noch den Geschmack im Mund.
Immerhin kann ich nun mit absoluter Sicherheit sagen, dass Parfum nicht annähernd so gut schmeckt, wie es riecht.
»Morgen!«, ruft unsere gemeinsame Freundin Sophie fröhlich. Sie schlendert durchs Klassenzimmer zu uns herüber und setzt sich an den Tisch vor uns.
Wir haben keine feste Sitzordnung, aber Layla hat zu Beginn des Schuljahrs dafür gesorgt, dass niemand uns die drei Plätze streitig macht; sie sind ganz hinten, direkt neben dem Fenster und somit die besten Plätze im ganzen Raum.
Tragischerweise hat Timothy Davies vor ein paar Wochen Laylas ungeschriebene Regel nicht befolgt, denn als wir eines Morgens ins Klassenzimmer kamen, saß er an meinem und Laylas Tisch und kritzelte Cartoons in sein Heft. Layla ging fast die Decke hoch, ich musste dazwischengehen, bevor sie sich wie ein Disney-Bösewicht auf ihn stürzen konnte. Ich weiß ja, wie sie sein kann. Wenn ich nur daran denke, wie sie explodiert ist, als ich heimlich ein Stück von ihrem Red Velvet Cake genascht habe.
Dieses Verbrechen werde ich garantiert kein zweites Mal begehen. Der kleine Bissen war die Folgen so was von nicht wert.
»Hey, Sophie«, sage ich grinsend zu ihr. Sie dreht sich um und stützt sich auf ihre Stuhllehne. »Ich muss dir unbedingt meine neue App zeigen. Also, im Grunde genommen geht es dabei um –«
»Hast du meine Nachricht bekommen?«, fällt Layla mir ins Wort.
»Ja«, nickt Sophie. Sie wühlt in ihrer Tasche nach einem Lipgloss und reicht ihn Layla. »Sorry, ich hatte total vergessen, dass ich ihn ausgeliehen habe. Gut, dass du mich dran erinnert hast. Mein Gehirn spielt heute verrückt, weil doch morgen dieser Englisch-Test ist.« Sie seufzt entnervt. »Wer hätte gedacht, dass Jane Austen so kompliziert ist.«
»Jane Eyre«, korrigiere ich sie.
»Oh.« Sophie starrt mich verständnislos an. »Sind das zwei verschiedene?«
Bei ihrer Frage muss ich lächeln. Sophie ist mit ihren Gedanken immer irgendwo in den Wolken, manchmal denke ich, sie lebt auf einem anderen Planeten. Sie wohnt Tür an Tür mit Layla, die beiden sind seit vielen Jahren befreundet, und ich frage mich oft, ob Sophie nicht insgeheim sauer ist, weil Layla nicht sie, sondern mich als Tischnachbarin gewählt hat. Ich wäre total eingeschnappt, wenn meine allerbeste Freundin so etwas tun würde, aber ich habe nicht den Eindruck, als würde Sophie sich darüber den Kopf zerbrechen.
»Jane Austen ist eine Schriftstellerin und Jane Eyre ist die Hauptfigur in einem Roman von Charlotte Brontë. Bis auf den Vornamen haben sie absolut nichts gemeinsam.«
»Moment mal, waaas?« Sophies dunkle Augen werden riesengroß vor Panik.
Sie redet ständig davon, wie froh ich über meine blauen Augen und meine blonden Haare sein kann, aber ich sehe das genau andersrum. Ich würde alles für ihre ausdrucksvollen dunkelbraunen Augen und ihre wunderschönen brünetten Locken geben. Es geht mir total auf die Nerven, wenn sie immer ihre Haare glättet. Sie hat keine Ahnung, wie lange ich brauche, um auch nur annähernd so viel Haarvolumen hinzukriegen wie sie – und wie ich oft ich mich dabei mit dem Lockenstab verbrenne. Auch Layla hat so schöne Naturwellen. Wenn sie bei mir übernachtet, wirft sie mir morgens vor, dass ich ihre Gesundheit aufs Spiel setze, weil ich zu viel Haarspray benutze, was angeblich schlecht für die Lunge ist.
Glatte Haare sind ein schweres Schicksal.
»Erst heute Morgen habe ich meinen Eltern erklärt, dass ich mich mit Jane Austen beschäftige«, fährt Sophie fort. »Kein Wunder, dass Mum mich so komisch angeschaut hat, als ich beim Frühstück die vielen Moore erwähnte.«
»Die Moore?«
»Ja«, sagt sie. »In dem Buch kommen ständig Moore vor. Habe ich heute früh im Internet gelesen. Das ist ein wichtiges Erzählmotiv«, erklärt sie stolz.
»Ah«, sage ich behutsam. »Ich fürchte, du verwechselt das mit Wuthering Heights. Das ist ein ganz anderes Buch und geschrieben hat es Emily Brontë.«
Sophie starrt mich verdutzt an. »Ich versteh nur Bahnhof.«
»Charlotte Brontë hat Jane Eyre geschrieben, das Buch, das wir im Unterricht lesen«, erkläre ich langsam und überdeutlich. »Emily Brontë ist ihre Schwester, von ihr stammt Wuthering Heights – das Buch, das wir nicht im Unterricht lesen. Das Buch, in dem Moore eine wichtige Rolle spielen. Und beide Romane haben absolut nichts mit Jane Austen zu tun.«
Sophies Schultern sacken nach unten. »Wie soll ich jemals die Abschlussprüfung bestehen? Ich kann ja noch nicht mal die Bücher auseinanderhalten.«
»Red keinen Quatsch, du schaffst das schon«, spreche ich ihr Mut zu und versuche dabei, so überzeugend wie möglich zu klingen. »Wir haben erst September, der Test zählt nicht viel. Du hast noch das ganze Jahr, um das richtige Buch zu lesen.«
»Tja, wahrscheinlich hast du recht.« Sie seufzt. »Und was mache ich jetzt mit dem Jane-Eyre-Test?«
»Wenn du willst, gebe ich dir einen Überblick über das, was in dem Roman am wichtigsten ist«, biete ich ihr an.
»Du weißt ja eine Menge über Jane Eyre und klassische Literatur«, sagt Layla unvermittelt. Sie sieht mich forschend an. »Ich wusste gar nicht, dass du auf langweilige alte Romane stehst.«
»Wie kommst du denn darauf?«, widerspreche ich sofort. »Das ist nur für die Prüfung. Kann sein, dass ich einiges darüber weiß, aber das liegt an Nina. Beim Abendessen labert sie ständig über irgendwelche Bücher.«
Layla verdreht die Augen. »Das passt.«
Im Grunde ist das nicht einmal gelogen. Nina spricht beim Abendessen tatsächlich gerne über Bücher. Dass auch ich die Bücher kenne, verschweige ich lieber. Ich habe sie alle gelesen, sogar zweimal. Aber das kann ich vor Layla und Sophie nicht zugeben.
Ich wäre in ihren Augen eine noch größere Loserin als meine Schwester.
»Weißt du, dass Chase heute in Manchester ist?«, frage ich Sophie, um das Thema zu wechseln. »Eigentlich wollte er diese Woche mal Pause machen, aber er liebt seine Arbeit über alles.«
Sanft fahre ich mit der Fingerspitze über das Hintergrundbild auf meinem Handydisplay: ein Schwarz-Weiß-Foto von ihm, wie er lacht und man ganz deutlich seine Grübchen sieht und auch die süßen Fältchen um seine Augen.
Ich seufze verträumt. »Er ist einfach perfekt.«
»Das ist er«, sagt Sophie begeistert, und auch Layla nickt zustimmend. »Wenn wir ihn doch nur persönlich kennen würden. Könnt ihr euch vorstellen, ihm gegenüberzustehen? Von Angesicht zu Angesicht?« Sie quietscht so laut, dass unsere Klassenlehrerin Mrs Smithson zusammenzuckt und ihren Kaffee verschüttet. »Ich würde glatt in Ohnmacht fallen!«
Das ist der winzig kleine Haken an meiner sonst so wundervollen Beziehung zu Chase Hunter …
Ich bin ihm noch nie begegnet.
Und zwar aus dem einfachen Grund: Chase Hunter ist der Leadsänger der weltberühmten Band Chasing Chords.
Was nicht heißt, dass wir nicht seelenverwandt sind.
Ich weiß, es hört sich total verrückt an, aber ich bin ein treuer Fan von Chase, seit seine Band ihren ersten Song auf YouTube hochgeladen hat und er innerhalb von wenigen Tagen viral ging und Chasing Chords einen großen Plattenvertrag einbrachte. Ich war die Erste an unserer Schule, die im Internet auf ein Video gestoßen ist, auf dem die Band einen von Chase’ Songs spielte – einen Song, den er, wie ich inzwischen weiß, in der alten, staubigen Garage seiner Mum komponiert hat. Damals hab ich mich auf mein Bett gelegt und den Song in Endlosschleife gehört, bis Nina irgendwann völlig grundlos an meine Tür geklopft und in einem übertrieben genervten Ton gefragt hat: »Kannst du vielleicht endlich Kopfhörer aufsetzen?«
Aber das war egal, denn mir war klar, dass ich auf etwas ganz Besonderes gestoßen war. Am nächsten Tag habe ich allen in der Schule das Video gezeigt, und von da an gingen die Hits der Band auf YouTube durch die Decke. Ich folgte Chasing Chords auf allen Social-Media-Kanälen, abonnierte den Newsletter, damit ich immer auf dem neuesten Stand war und sofort erfuhr, wenn die Band wieder einen richtig fetten Plattenvertrag abschloss. Ich hörte jeden neuen Song so lange, und zwar pausenlos, bis der nächste herauskam. Musik war schon immer meine große Leidenschaft – als Nina und ich klein waren, taten wir immer so, als wären wir Popstars –, aber kein Song hatte jemals eine so große Wirkung auf mich wie die Lieder von Chase Hunter.
Layla und Sophie schwärmen für Chasing Chords, aber an meine Verehrung für Chase Hunter kommt das nicht ran. Sie verstehen nicht wirklich, was für ein Mensch er ist. Deshalb bin auch ich diejenige, die alle Beiträge auf unserem gemeinsamen Blog verfasst, der ausschließlich Fanfiction über die Band enthält. Als ich die Idee dazu hatte, war Layla sofort Feuer und Flamme, doch seither hat sie noch nie etwas beigetragen. Stattdessen liegt sie faul auf ihrem Bett und ist auf Snapchat unterwegs, während ich an meinem Laptop sitze, mir richtig Mühe mit unseren Storys gebe und hin und wieder Sophies mehr oder weniger hilfreiche Kommentare anhöre (und energisch gegen ihre dämlichen Vorschläge protestiere, wenn sie beispielsweise Chase und Miles, den Drummer der Band, mit der NASA auf ein Weltraumabenteuer schicken will).
Meine Aufsatznoten sind nicht besonders gut – und selbst wenn sie es wären, würde ich es niemandem erzählen, um nicht als totale Streberin dazustehen –, aber Fanfiction zu schreiben, bei der sich alles um Chasing Chords dreht, gehört definitiv zu meinen Lieblingsbeschäftigungen. Bei meinen Storys kann ich vollkommen eintauchen in die Welt der Band, und das gibt mir das Gefühl, sie besser zu kennen als sie sich selbst. Viele Fans kommentieren meine Geschichten und drängen mich, weiterzuschreiben, und insgeheim hoffe ich, dass auch die Mitglieder der Band sich hin und wieder einloggen und die Storys lesen oder sie vielleicht sogar unter einem anderen Namen kommentieren.
Einmal hat die Band ganz offiziell auf einen Tweet von mir geantwortet, in dem ich von ihrer letzten Single geschwärmt habe.
Chasing Chords @realchasingchords
@npalmer Thnx! Ohne Fans wie dich wären wir nichts XOX
Ich habe den Screenshot vergrößert ausgedruckt und einen richtig teuren Rahmen gekauft; seither steht der Ausdruck auf meinem Schminktisch zwischen einem gerahmten Bild von Chase und meinem Spiegel, sodass ich den Tweet jeden Morgen lesen kann, wenn ich mich fertig mache.
Sobald ich Chase persönlich getroffen habe, ergibt sich alles wie von selbst, das weiß ich genau. Seit jenem denkwürdigen Morgen, an dem die Band für Samstag einen Überraschungs-Gig in London angekündigt hat, für den der Ticket-Verkauf noch in dieser Woche startet, schmiede ich einen genialen Plan, damit mein sehnlichster Wunsch endlich in Erfüllung geht.
»Ich muss euch unbedingt die neue App zeigen«, sage ich, leicht abgelenkt von Mrs Smithson, die – vergeblich – versucht, mit einem Blatt Papier den verschütteten Kaffee vom Boden aufzuwischen, da sie offensichtlich kein Taschentuch zur Hand hat.
»Wofür ist sie gut?«
»So komm ich schneller an Tickets für den London-Gig«, erkläre ich begeistert und klicke zum Beweis auf die App. »Wir kriegen Nachricht, sobald die Tickets für das Geheimkonzert in den Verkauf gehen, und können vor allen anderen Karten kaufen!«
»Wahnsinn!«, quietscht Sophie, gerade als Mrs Smithson ihre Tasse an die Lippen führt, woraufhin die Lehrerin erneut vor Schreck zusammenzuckt und auch noch den letzten Rest Kaffee über ihr Shirt kippt. »Ist das teuer, so ein Vorabnachrichtsdings?«
»Und wenn schon?«, sage ich schulterzuckend. »Es geht um Chasing Chords. Wir MÜSSEN uns Karten sichern! Eine bessere Chance kriegen wir nicht.«
»Und deine Mum hat nichts dagegen?«
»Sophie, du kennst sie doch«, sage ich seufzend und tausche einen wissenden Blick mit Layla aus. »Sie hat keinen blassen Schimmer, was eine App ist. Sie schafft es ja kaum, ihr Handy zu benutzen, dabei ist das Ding uralt. Es hat nicht einmal eine Kamera.«
»Was?«, fragt Sophie fassungslos. »Es gibt Handys ohne Kamera?«
»Glaub mir, die gibt es.«
Ich habe versucht, das Handy meiner Mum upzudaten, ja ich bin sogar mit ihr in die Stadt zu einem Handyladen gegangen – aber das Ganze endete in einem absoluten Desaster. Sie hat mich vor dem echt süßen Verkäufer total in Verlegenheit gebracht und die MEGAPEINLICHEN Fragen gestellt, wie zum Beispiel: »Warum seid ihr jungen Leute so versessen darauf, eure Gesichter zu fotografieren? Ich werde wohl nie begreifen, was dieser Selfie-Quatsch soll, von dem du immer sprichst, Nancy. Obwohl ich sagen muss, dass du ein sehr hübsches Gesicht hast, Nancy. Wie die Mutter, so die Tochter, was?«
Das war noch nicht einmal der schlimmste Knaller, und bei jedem neuen Scherz prustete sie los, obwohl klar war, dass ich das absolut nicht witzig fand. Dann musste der süße Verkäufer ihr sämtliche Handy-Modelle zeigen, damit sie »Fakten sammeln kann«, bis sie schließlich lautstark verkündete, sodass auch wirklich alle im Geschäft es hören konnten, dass sie es absolut nicht übers Herz brächte, ihr altes Handy auszurangieren, wo es ihr doch in den vergangenen vier Jahren so gute Dienste geleistet habe, und sie daher kein neues kaufen wolle, es aber ganz reizend fände, wenn der süße Verkäufer ihr seine Telefonnummer aufschreiben könnte, »für ihre wunderhübsche Tochter, die zufälligerweise direkt neben ihr steht«.
Ich hätte im Boden versinken können. Stattdessen kroch ich mehr oder weniger auf allen vieren aus dem Geschäft und brachte für den Rest des Nachmittags kein Wort mehr heraus, während ich mir innerlich schwor, dass dies mein erster und letzter Versuch bleiben würde, meine Mum an moderne Technologie heranzuführen.
Bei dem Gedanken an diesen Vorfall schießt mir noch jetzt die Röte ins Gesicht, obwohl das Debakel schon Monate her ist.
»Was macht deine Schwester da?«, fragt Layla plötzlich und blickt fassungslos nach vorne.
Ich habe Nina nicht ins Klassenzimmer kommen sehen, aber sie muss schon eine ganze Weile hier sein, denn ihr Schreibblock und ihre Stifte liegen offen auf dem Tisch, als wäre sie längst dabei, ihre Aufgaben zu machen.
Ich sehe zu, wie Nina, die wie immer ihren klobigen lila Kopfhörer um den Hals hängen hat, nach vorne zu Mrs Smithson geht und ihre eine Packung Taschentücher reicht. Die Lehrerin, die leicht verzweifelt die Kaffeeflecken auf ihrem Shirt betrachtet, nimmt dankbar ein Taschentuch, woraufhin Nina sofort an ihren Platz zurückeilt wie in einen sicheren Hafen. Aber natürlich hat sich wieder mal einer ihrer Schnürsenkel gelöst. Nina stolpert und hält sich im Vorbeikommen an Timothys Schulter fest, um ihr Gleichgewicht nicht zu verlieren.
»Entschuldigung«, murmelt sie, als Timothy überrascht den Kopf hebt.
Layla neben mir fängt an zu kichern.
Oh Mann, Nina, seufze ich im Stillen, du schaffst es nicht mal, die kurze Strecke bis zu deinem Platz unfallfrei hinter dich zu bringen. Musst du immer die Peinlichkeit in Person sein?
Außer Layla und mir hat es anscheinend niemand bemerkt, das Ganze hat ja auch nur ein paar Sekunden gedauert, aber ich sehe die vertraute Röte auf den Wangen meiner Schwester, als sie sich mit gesenktem Kopf über ihren Schreibblock beugt und den Kopfhörer aufsetzt.
»Was ist bloß los mit ihr?«, fragt Layla kopfschüttelnd. »Sie ist so tollpatschig. Ich schwör dir, gestern habe ich gesehen, wie sie in der Kantine über ihre eigenen Füße gefallen ist. Sogar beim Laufen stellt sie sich doof an!«
»Ihr seid so verschieden, Nancy«, mischt Sophie sich ein.
»Zum Glück«, erwidere ich und lache nervös.
»Das ist echt verrückt. Wenn ihr euch nicht so ähnlich sehen würdet …«, sagt Layla und lehnt sich zurück, als die Schulglocke für die erste Stunde schrillt, »käme keiner auf die Idee, dass ihr Zwillinge seid.«