4. Kapitel
Jackson
 
»Ich bringe das Essen für Miss Lavender.« James bleibt vor mir stehen. Der Butler hält ein vollgestelltes Tablett in den Händen. Glaubt er, Lavenders Tochter befindet sich kurz vor dem Hungertod? »Würden Sie mir bitte die Tür öffnen?«
Ich nicke und drehe den Knauf, um dann die Tür aufschwingen zu lassen. James geht an mir vorbei in den Raum und platziert das Tablett auf einem kleinen Tisch unter dem Fenster.
Über die Ablenkung bin ich froh. James hat mich dabei erwischt, wie ich genervt mit den Füßen auf den Boden getippt habe. Seit einer halben Stunde hat sich nichts getan. Im Zimmer war es völlig ruhig. Anscheinend hat sich die Tochter des Bosses hingelegt. Ob sie so fest schläft, dass sie den Neuankömmling gar nicht bemerkt?
Automatisch folge ich James ins Schlafzimmer. Noch niemals habe ich einen Raum betreten, der mehr nach Mädchen geschrien hat als der hier. Als Madison das Haus verlassen hat, muss sie ungefähr neunzehn gewesen sein. Hat die Einrichtung zu dem Zeitpunkt tatsächlich noch immer ihrem Geschmack entsprochen? Vermutlich stehen demnächst Renovierungsarbeiten an. Dafür heuert der Boss hoffentlich Fachleute an. Ich hasse es, Wände zu streichen.
Neugierig lasse ich meinen Blick über die rosafarbene Einrichtung gleiten, bleibe am breiten Himmelbett hängen. Irritiert runzle ich die Stirn. Auf der Überdecke liegt Madison nicht. Es ist nicht einmal ein Abdruck darauf zu erkennen. Mit Sicherheit hat ihr Körper die Decke gar nicht berührt. Warum hat sie dann gesagt, sie wolle sich hinlegen? Gibt es eine weitere Schlafmöglichkeit in dem Raum?
Ein Schrank, eine Kommode, ein Schminktisch, eine Sitzbank … Mehr ist außer dem Bett nicht zu sehen. Eine Tür führt wohl in ein Badezimmer, schließe ich aus den gefliesten Wänden, die ich durch einen Spalt erkennen kann. Durch die andere geöffnete Tür kann ich ein Anziehzimmer entdecken. Beides sind keine Orte, an die man sich zum Schlafen zurückzieht.
»Wo ist sie?«, frage ich und merke, wie mein Puls beschleunigt.
»Nicht hier.« James lächelt mich an, als wäre es die natürlichste Sache der Welt.
»Ist sie getürmt?« Ich laufe zum ersten Fenster und teste, ob es tatsächlich geschlossen ist. Dann kontrolliere ich das nächste Fenster. Durch einen schmalen Spalt spüre ich einen leichten Luftzug. Ich schiebe die Scheibe nach oben, sehe hinaus. Das sanft abschüssige Dach endet im Flachdach der Garage. Wie gelangt man von dort auf den Boden? Ist dort jemand raufgeklettert, um sich die Tochter des Bosses zu schnappen?
Heilige Scheiße! Nicht einmal einen Tag bin ich für diese Frau zuständig und habe sie bereits aus den Augen verloren.
»Wenn sie entführt wurde, während ich taten- und ahnungslos vor der Tür gestanden habe ... Wenn ihr etwas zugestoßen ist, während ich für ihre Sicherheit zuständig war ...« Wütend funkle ich James an, der von meinem Ausbruch amüsiert scheint. »Was ist so witzig?«
»Sie reagieren über. Bestimmt hat sie sich an ihren Lieblingsort zurückgezogen.«
Ich drehe mich ratlos um die eigene Achse. Lieblingsort? Hat sie hier in diesem Raum ein Geheimversteck? Vielleicht im Wandschrank? Mit ein paar Schritten eile ich auf diesen zu und reiße die Türen auf. Außer Schminkzeug, Büchern und Ordnern verbirgt sich nichts darin. Als ich einen Blick ins Badezimmer werfe, finde ich auch das leer vor. Ich mache mich auf den Weg zum Anziehraum.
James lacht leise auf. Normalerweise zeigt er keinen Sinn für Humor.
Verärgert drehe ich mich zu ihm um und schicke ihm meinen finstersten Blick. »Anscheinend wissen Sie, dass sie das Zimmer verlassen hat. Wo ist dieser verdammte Lieblingsort? Wie hat sie sich hier rausschleichen können?«
»Sie haben doch gesehen, dass man problemlos auf dieses Dach klettern kann. Miss Lavender hat sich schon immer bei den Pferden sehr wohlgefühlt. Niemand konnte sie von den Tieren fernhalten. Ihr Vater war über ihre Ausflüge nicht sonderlich erfreut. Also hat sie dafür gesorgt, dass er nichts davon mitbekommt.«
»Das hätten Sie mir aber auch gleich mitteilen können«, beschwere ich mich. Dann stürme ich aus dem Raum, renne den Gang entlang. Bevor ich bei der Eingangshalle anlange, werde ich langsamer. Fehlt noch, dass ihr Vater mich hört und befragt. Es ist mir peinlich genug, diesen Fehler begangen zu haben. Wenn Mr Lavender herausfindet, dass ich seine Tochter verloren habe, wird er mich ans Kreuz nageln.
Mein Herz rast, als ich das Haus verlasse. Ich bin im Soldatenmodus, fokussiert auf mein Ziel. Auch wenn James davon überzeugt zu sein scheint, die kleine Nervensäge wäre in den Stall geflüchtet, besteht immer noch das Risiko, dass er sich irrt. Möglicherweise ist sie doch entführt worden. Oder sie hat sich beim Klettern aus dem Fenster den Hals gebrochen. Das Dach mag flach sein. Das Wechseln auf das Garagendach scheint auch nicht allzu schwer. Doch sie hat dann immer noch eine gewisse Höhe überwinden müssen. Also eile ich erst mal zur Garage, um zu überprüfen, ob meine Schutzbefohlene dort bewusstlos im Dreck liegt.
In der Nähe der Garage ist niemand zu sehen. Wenigstens muss ich meinem Boss nicht den Tod seiner Tochter beichten.
Wut brodelt in mir. Was hat sich diese verrückte Frau nur gedacht. Ich sehe hoch zur Dachrinne, die zwei Meter über mir hängt. Wie hat sie es geschafft, heil von dort runterzukommen? Das ist vermutlich die erste Frage, die ich ihr an den Kopf werfen werde. Vielleicht schüttle ich sie vorher noch ordentlich durch.
Ich laufe weiter zum Stall rüber. Es handelt sich um ein weitläufiges Gebäude, das etwas abseits vom Haupthaus liegt. Mr Lavender besitzt zwei Dutzend Pferde, die dort untergebracht sind. Mit denen habe ich normalerweise nichts zu tun, weshalb der Stall auch unbekanntes Terrain für mich darstellt. Es gibt insgesamt vier Eingänge an zwei Seiten des Gebäudes. Von den beiden Hauptgängen zweigen mehrere kleine ab. Es wird schwer werden, Madison sofort ausfindig zu machen, da ich nicht weiß, wo genau sie sich aufhält. Die Frau kennt den Stall in und auswendig.
Als ich am Gebäude ankomme, bleibe ich stehen, um mich kurz zu orientieren. Welchen Eingang kann Madison verwendet haben? Ich versuche mich in sie hineinzuversetzen. Normalerweise hilft mir diese Vorgehensweise, um meine Zielobjekte zu finden. Leider habe ich mich mit Madison nur ein paar Augenblicke unterhalten, sodass ich keine Schlüsse ziehen kann. Dennoch rät mir mein Instinkt, den Stall durch das hintere Tor zu betreten. Bestimmt hält sie sich von den Arbeitern fern, die sich um die Pferde kümmern. Sie wird einen ruhig gelegenen Teil des Gebäudes aufsuchen, um nicht entdeckt und zum Haupthaus zurückgebracht zu werden. Also tue ich genau das Gleiche, gehe den anderen Männern aus zum Weg und schlüpfe ungesehen in den Stall. Es wäre zu einfach gewesen, wenn ich im ersten Gang gleich über sie gestolpert wäre. Langsam arbeite ich mich vor, suche in jedem Quergang nach meinem Ziel. Hoffentlich täusche ich mich nicht in ihr.
Stur, unvernünftig und auf der Suche nach einem Ort der Stille.
Diese Frau sollte sich besser verhalten, wie ich es von ihr erwarte.
Ich höre ein Pferd direkt neben mir schnauben. Das Tier stupst mich an.
Hastig weiche ich zur Seite aus und pirsche weiter. Ich weiß, warum ich mich normalerweise vom Stall fernhalte. Viel zu viele unbekannte Geräusche, viel zu viele Überraschungen, viel zu viele Lebewesen, deren Wiehern die Anwesenheit von Menschen verbergen können.
In der Nähe höre ich jemanden leise flüstern. Automatisch greife ich nach der Pistole in meinem Hosenbund. Auch wenn kein Feind zu erwarten ist, muss ich vorsichtig sein. Dann erklingt ein leises, heiseres Lachen. Das stammt bestimmt von keinem Mann.
Ich entspanne mich und sehe in den nächsten Gang.
Die Tochter des Bosses steht vor einer Box. Vor ihrer Flucht ist sie in ein helles, weites Shirt, kurze Jeansshorts und Stiefel geschlüpft. Eine Stute streckt gerade ihren Kopf über die Tür und lässt sich von Madison streicheln, während die kleine Nervensäge ihre Stirn gegen die des Tieres gelegt hat.
Es sieht verdammt vertraut und friedlich aus. Ich verstehe nicht, weshalb die meisten Menschen so einen Aufriss um Pferde machen. Doch dieser Anblick lässt sogar mich nicht kalt.
Durch ein Oberlicht fällt Licht in den Gang. Staub tanzt in der Luft, scheint sich wie in Zeitlupe zu bewegen. Madisons Gesicht strahlt Gelassenheit aus. Sie hat nicht mehr viel mit der angespannten, unruhigen Frau gemeinsam, die ich kennengelernt habe. Ein zartes, ehrliches Lächeln umspielt ihre Lippen. Ihre Augen funkeln. Während die Sonnenstrahlen ihr Haar wie einen Heiligenschein leuchten lassen, bewegen sich ihre Finger sanft über das Fell der Stute.
Das soll also das verzogene Gör sein, das ich erwartet habe?
Zumindest scheint das, was ihr in London passiert ist, sie nicht völlig fertig gemacht zu haben.
»Ich hoffe, das war die ganze Aufregung wert«, sage ich hart.
Erschrocken zuckt sie zusammen, sieht dann mit geweiteten Augen zu mir. »Welche Aufregung?«
»Meine. Ich habe irrtümlich angenommen, du wärst keine Stunde nach deiner Ankunft hier bereits entführt worden.«
Erst kämpft sie gegen das Lachen an. Doch dann kann sie gar nicht mehr damit aufhören. Ihre Augen blitzen, während ihr Körper erbebt. Dieser Frechdachs lacht mich aus.
»Du kannst dich ruhig darüber amüsieren. Was denkst du wäre passiert, wenn tatsächlich ein Feind deines Vaters herausgefunden hätte, dass du hier bist? Stell dir vor, wie begeistert sie wären, dich in die Finger zu kriegen.«
Sie wird so abrupt ernst, so viel Traurigkeit erscheint in ihrem Blick, dass ich meine Worte gerne zurücknehmen würde.
Besser das Thema wechseln. »Wie bist du aus dem Zimmer rausgekommen?«, frage ich brüsk.
»Eine Frau braucht ihre Geheimnisse.«
»Wenn du mir nicht verrätst, wie du sicher zum Boden gelangt bist, sperre ich dich in deinem Zimmer ein und setze mich direkt vor dir ans Bett, damit du keinen Unsinn mehr anstellen kannst.«
Madison streichelt zum Abschied über den Kopf der Stute und kommt zu mir. »Irritierende Vorstellung.«
»Ich werde nicht zulassen, dass du zu Tode stürzt. Wenn du abhauen willst, weil dir alles zu viel wird, wirst du mich das nächste Mal gefälligst informieren, damit ich dich begleiten kann.«
Sie zieht die Nase kraus. »Das ist dann aber keine Zeit für mich allein.«
»Du hast den Sinn dieser Vorgangsweise durchschaut.« Ich drehe sie herum, damit ich sie Richtung Ausgang schieben kann.
Mit beiden Beinen stemmt sie sich dagegen. Ihr gesamter Körper ist verkrampft. »Lass mich sofort los«, befiehlt sie heiser.
Der panische Tonfall ihrer Stimme erinnert mich daran, was ihr zugestoßen ist. Samthandschuhe sind nicht mein Spezialgebiet. Trotzdem muss ich sie irgendwie rauslotsen. Der Geruch nach Pferd hier drinnen strapaziert meine Nerven. Ich nehme meine Hände von ihr.
Sie räuspert sich, als würde sie sich für ihre Reaktion schämen. »Ich werde dir zeigen, wie ich vom Dach gekommen bin. Du musst mir allerdings versprechen, niemandem davon zu erzählen.«
»Einverstanden. Können wir jetzt zurück zum Haus?«
»Ich habe es nicht eilig«, verkündet sie. »Die Geräusche der Pferde haben eine beruhigende Wirkung auf mich. Entspannung kann ich jetzt gut gebrauchen.«
Störrisches, kleines Ding. Wenn sie gerade etwas Ablenkung brauchen kann, soll sie sie bekommen. Der Auftrag ihres Vaters ist diesbezüglich sehr deutlich gewesen. Heißt ja nicht, dass ich mich dabei wohlfühlen muss.
Bei der nächsten Box bleibt sie schon wieder stehen. Sie legt den Kopf schief, bedenkt den schwarzen Hengst darin mit einem ganz besonderen Blick. »Ich wünschte, ich hätte meine Kamera hier. Das Licht ist perfekt, um romantische Aufnahmen zu machen.«
Ich taste nach meiner Hosentasche. »Soll ich dir mein Handy borgen?«
»Eine richtige Kamera, du Banause«, sagt sie und lacht mich aus. Schon wieder.
»Wir werden dir eine besorgen. Sag einfach, was du brauchst und ich gebe es dem Angestellten weiter, der für die Einkäufe im nächsten Dorf zuständig ist.«
Noch einmal kichert sie. Gott, ich habe nicht gewusst, dass ich so amüsant sein kann. Warum habe ich noch keine eigene Comedyshow?
Keine Ahnung, was sie diesmal so witzig findet. Ehrlich gesagt ist es mir auch egal. Ich mag die Geräusche, die sie von sich gibt. Dieses Heisere, Kratzige in ihrer Stimme. Als wäre sie eingerostet und hätte normalerweise nicht allzu viel, über das sie sich kaputtlachen kann. Ich weiß schon jetzt, dass ich diese Laute nicht mehr aus dem Kopf bekommen werde und immer wieder hören möchte. Verdammt auch!
»Dann eben nicht«, brumme ich und fühle mich dämlich. Das, was gerade mit mir los ist, verstehe ich nicht. Normalerweise würde ich jemandem, der sich über mich lustig macht, meine Faust in die Fresse hauen. Abgesehen davon, das bei einer Frau nicht machen zu können, bringt Madisons Belustigung etwas in mir zum Vibrieren. Statt sauer zu sein, möchte ich mehr davon. Dagegen setzt sich mein Verstand vehement zur Wehr. Ich werde für niemanden schwach sein. Schon gar nicht für die Tochter von Ares.
»Das Angebot ist sehr nett gemeint«, sagt sie und legt im Weitergehen kurz ihre Hand auf meine Schulter. »Das weiß ich zu schätzen. Allerdings gibt es die Geräte, die ich brauche, nicht im nächsten Kuhkaff. Dafür müsste man schon in ein Spezialgeschäft nach New York.«
»Bestimmt lässt sich das Einrichten. Geld spielt für deinen Vater keine Rolle.«
Ein Schatten huscht über ihr Gesicht. Etwas Ähnliches wie Trotz erscheint in ihrem Blick. »Schon klar. Allerdings suche ich mir mein Werkzeug gerne selbst aus. Du lässt deine Waffe doch auch von niemand anderem auswählen. Ich will sehen welche Angebote es gibt, muss die Fotoapparate in der Hand halten, mag sie ausprobieren. Mein Vater wird mich nur kaum von der Ranch lassen.«
Ich zucke mit den Achseln. Vermutlich nicht, aber warum ihr gleich die Hoffnung nehmen, jetzt, wo sie ihre Deckung unten hat. »Sprich in Ruhe mit ihm. Ich werde ihm einen Sicherheitsplan vorlegen. Vielleicht klappt der Ausflug nicht sofort, aber wir finden eine Möglichkeit.«
»Danke.« Sie sieht mich an, Skepsis in den Augen.
Anscheinend glaubt sie mir nicht, dass ich sie bei dem Vorhaben unterstützen werde. Egal. Ich werde auf ihrem Misstrauen nicht herumreiten. Wieso sollte sie mich für einen Mann halten, der zu seinem Wort steht? Sie kennt mich nicht. Ich muss mir ihr Vertrauen erst noch erarbeiten.
»Hast du das in London gemacht?«, frage ich. »Fotografiert? Ging es darum in deinem Studium?«
»Nicht nur. Ich habe mich auch mit dem Thema Film beschäftigt und ein paar Malkurse besucht. Leider sind die Bilder, die meine Hand produziert, niemals so schön wie das, was in meinem Kopf entsteht. Mit Fotoapparaten komme ich besser zurecht. Wenn ich noch am College geblieben wäre, hätte ich bald meine erste Ausstellung bekommen.«
»Beeindruckend.«
Trocken lacht sie auf. »Eigentlich nicht. Das gehört zu meinem Studium dazu. Alle Studenten können ihre Werke vorstellen. Das Publikum besteht aus Professoren aller Kunstrichtungen. Sie beurteilen die ausgestellten Objekte und tragen mit ihrer Einschätzung zur Gesamtnote bei. Bestimmt hätte ich nicht sonderlich gut abgeschnitten. Vielleicht sollte ich froh sein, mir die Schmach erspart zu haben.«
Überrascht registriere ich, dass sie bei diesen Worten weder trotzig noch berechnend klingt. Sie meint das ernst, erwartet keinen Widerspruch von mir, weil sie als Tochter des Chefs das Recht darauf hat, hofiert zu werden. »Das Selbstbewusstsein hast du scheinbar nicht von deinem Vater geerbt.«
»Über alles, was mich von ihm unterscheidet, freue ich mich riesig.«
»Vielleicht kannst du deine Fotos auch hier machen. Nur damit du in Übung bleibst. Auch wenn es auf der Ranch vermutlich weniger spannende Motive gibt als in der Stadt.«
Sie schickt mir einen lauernden Blick. »Ich habe mich auf Porträts spezialisiert. Denkst du, irgendjemand hier ist erfreut, wenn ich ihn knipse und dann auf riesige Leinwände gedruckt bei einer Ausstellung präsentiere?«
Die Vorstellung lässt mich schmunzeln. Die Mitglieder einer kriminellen Organisation als Fotomotiv, das in der Öffentlichkeit gezeigt wird. »Bestimmt nicht. Für dieses Problem fällt mir leider auch keine Lösung ein.«
»Danke, dass du es ernst nimmst. Mein Vater tut das alles bloß mit einem Schulterzucken ab. Er versteht nicht, warum mir das wichtig ist. Egal. Das alles wird dir nicht lange Kopfzerbrechen bereiten. Du hast andere Prioritäten.«
Das stimmt. Trotzdem mag ich die Traurigkeit in ihrer Stimme nicht. »Bis gestern hatte ich andere Aufgaben, aber jetzt bin ich für dich zuständig. Ich muss künftig für deine Sicherheit sorgen.«
»Dafür reicht es, mich von Schwierigkeiten fernzuhalten. Ob ich hier vor Langweile sterbe, kann dir gleichgültig sein.« Abrupt bleibt sie stehen, um eines der Tiere zu streicheln. »Können wir ausreiten? Ich würde mit einer dieser Schönheiten gerne über die Felder fliegen. Es gibt nichts, was mir mehr Freiheit schenkt.«
Es fällt mir schwer, diesen großen Augen voller Sehnsucht zu widerstehen. Wenn ich diesem Wildfang allerdings schon am ersten Tag alle Wünsche erfülle, werde ich mich ihr gegenüber nie behaupten können. Außerdem gibt es da noch ein anderes Problem. »Das verschieben wir lieber auf ein anderes Mal.«
»Wieso denn?«
»Du hast selbst gesagt, du seist müde und solltest dich ausruhen. James hat dir etwas zu essen aufs Zimmer gebracht. Wenn du zum Abendessen mit deinem Vater fit sein willst, solltest du dich vorbereiten.«
Ein Gefühlstornado tobt in ihrem Blick. Sie sieht zu dem dämlichen Gaul, streichelt über seine Nüstern. Das Tier schnaubt leise und wird mit einem Lächeln belohnt. Wenn es so einfach ist, ihre Laune zu heben, sollte ich ihr auch ins Gesicht pusten. Gerne dürfte sie mich dabei auch kraulen. Bloß nicht im Gesicht, sondern …
Schlag dir das sofort wieder aus dem Kopf, du Idiot!
»Auf Tropical Thunder könnte ich alles vergessen.«
»Tropical Thunder?«, frage ich.
»So heißt mein Pferd«, erklärt sie. »Eigentlich war ich auf der Suche nach ihm. In seiner alten Box steht er nicht. Es gibt keinen Hengst, der stürmischer, leidenschaftlicher, kräftiger ist als er.«
Von mir dürfte sie auch so schwärmen. »Wir suchen ihn ein anderes Mal. Jetzt sollten wir wirklich …«
»Miss Lavender! Sie sind schon angekommen?« Dan, der auf uns zueilt, unterbricht mich. »Wie schön, Sie wieder hier zu haben.«
Madison gibt einen überraschten, freudigen Laut von sich. Sie umarmt den Mann mit den grauen Locken, den ich niemals so glücklich gesehen habe. »Wie geht es Ihnen, Dan? Haben Sie sich immer noch nicht zur Ruhe gesetzt?«
Er lacht auf. »Das werde ich erst tun, wenn mein Körper sich weigert, das Bett zu verlassen.«
»So habe ich Sie kennengelernt.« Sie drückt seine Hand und wirkt plötzlich irritiert. Mit gerunzelter Stirn hebt sie seinen Arm, um seine Hand betrachten zu können, an der sein kleiner Finger fehlt. »Was ist passiert? Hatten Sie einen Arbeitsunfall?«
Dans Gesichtsausdruck wird abweisend. Er räuspert sich und entzieht ihr seine Hand. Sein Blick trifft kurz auf meinen. »Vergessen Sie es, Miss Lavender.«
Ich berühre leicht ihre Schulter, um sie zu bitten, das Thema fallen zu lassen. Besser wäre es für ihren Seelenfrieden.
Bevor ich auch nur ein Wort sagen kann, schüttelt sie mich ab. »Nein, das tue ich nicht. Was ist geschehen, Dan?«
»Tut mir leid, Miss Lavender.« Seine Mundwinkel heben sich für ein falsches Lächeln. »Ich muss wieder los. Es war schön, dass wir uns über den Weg gelaufen sind. Bestimmt finden wir ein anderes Mal die Gelegenheit, uns zu unterhalten.«
»Ich habe mich auch sehr gefreut«, sagt sie. »Vielleicht können Sie sich ein paar Minuten loseisen, damit wir uns unterhalten können.«
»Entschuldigen Sie mich. Es gibt viel zu tun.« Dan nickt uns zu und eilt dann davon.
»Was zur Hölle war das?«, verlangt Madison von mir zu wissen. Sie sieht Dan nach bis er verschwunden ist. Dann funkelt sie mich wütend an. »Du kennst den Grund, aus dem ihm ein Finger fehlt, nicht wahr? Was verheimlicht ihr mir?«
»Es ist Dans Entscheidung, ob er dir seine Geschichte erzählen will. Ich habe nicht das Recht, mit dir darüber zu sprechen«, behaupte ich. Dan hat es mir nicht verboten. Jeder hier weiß Bescheid. Aber ich glaube nicht, dass Madison die Wahrheit erfahren sollte.
»Offensichtlich hatte er keinen Unfall, sonst hätte er meine Frage bejaht. Es ist kein unglücklicher Fehler gewesen. Die Stelle hat ausgesehen, als wäre der Finger akkurat abgetrennt worden. Als hätte man ihn amputiert.« Sie kneift die Augen zusammen, während sie ihre Schlussfolgerungen anstellt. »Wäre das krankheitsbedingt notwendig gewesen, hätte er es mir nicht verheimlicht. Die Art, wie er dich angesehen hat … Warst du es? Hast du ihm das angetan?«
Rasch schüttle ich den Kopf. Sie ist der Wahrheit schon nähergekommen, als sie sollte.
Sie mustert mich wie eine Kröte, die sie sezieren will. »Du nicht, aber einer von Daddys Männern.«
»Lass uns zurück zum Haus gehen. Es ist an der Zeit.« Ich strecke den Arm aus, um sie mit mir zu ziehen, halte mich dann aber im letzten Moment zurück. Dass sie keine Berührungen erträgt - zumindest von mir -, habe ich bereits festgestellt. Bei Dan hatte sie keine Probleme, sich umarmen zu lassen. Doch das sollte mich jetzt nicht beschäftigen.
»Was hat er getan, um das angeblich zu verdienen?«, fragt Madison. »Sag es mir. Ich will es wissen.«
»Vielleicht unterhältst du dich lieber mit Dan …«
»Nein. Du wirst es aussprechen. Jetzt.« Der Befehlston in ihrer Stimme erinnert mich an die Entschiedenheit ihres Vaters.
Sie wird ihre Antworten erhalten. Wenn sie Mr Lavender danach fragt, wird er ihr verraten, was sie wissen will. Er wird es ihr ohne jegliche Emotion mitteilen. Ihr Widerwillen gegen ein Leben hier wird anwachsen. Vielleicht wäre es besser, wenn sie es von jemand anderem erfährt. Aber muss unbedingt ich diese Aufgabe übernehmen?
Ihre Faust landet an meiner Schulter. Sie legt überraschend viel Kraft in diesen Schlag. »Keine Sorge. Meine Meinung von dir wird nicht darunter leiden. Ich halte dich bereits für einen fiesen Arsch.«
»Eines der Pferde, für die Dan zuständig war, ist krank geworden. Dan hat die beginnende Kolik übersehen. Das Pferd musste von seinem Leiden erlöst werden. Dein Vater wollte ihn dafür bestrafen. Angeblich hat es sich um ein wertvolles Pferd gehandelt, an dem Mr Lavender viel lag.«
In der folgenden Stille ärgere ich mich über mich selbst. Hatte ich nicht überlegt, sie sollte es auf vorsichtige Art erfahren? Kann man eine Geschichte wie diese überhaupt verharmlosen? Alles in allem habe ich mich verdammt schlecht geschlagen.
»Ein Pferd, an dem meinem Dad viel lag …« Mit blassem Gesicht grübelt Madison weiter. »Vielleicht Tropical Thunder. Es muss einen Grund geben, weshalb in seiner Box jetzt ein anderes Pferd steht. Mein Vater hat Dan bestraft, weil der angeblich Schuld am Tod meines Pferdes hat? Dan wurde ein Finger amputiert, weil mein Vater gedacht hat, er habe nicht gut genug aufgepasst. Hat Daddy so überreagiert, weil es sich um mein Pferd gehandelt hat? Trage ich Mitschuld?«
»Das darfst du nicht einmal denken.« Gott, wie kann sie die Geschichte nur so verdrehen. »Dan hatte eine Aufgabe, bei der er geschlampt hat. Es spielt keine Rolle, ob es dein verdammter Gaul oder ein anderes Pferd war, das gestorben ist. Dein Vater lässt seine Pferde bei Rennen antreten. Jedes davon ist wertvoll.«
Sie schüttelt den Kopf. Tränen stehen in ihren Augen. »Keines ist so viel Wert wie die Unversehrtheit eines Menschen. Dan hat doch schon so viel verloren. Reicht es nicht, dass er seinen Sohn überlebt hat? Timothys tödlicher Unfall hat ihn beinahe zerbrechen lassen. Weshalb muss Dad ihn dann noch für Tropical Thunders Tod bestrafen?«
Was kann ich tun, damit sie das nicht an sich heranlässt? »Dans Fehler wäre auch nicht folgenlos geblieben, wenn es ein anderes Tier betroffen hätte. Dein Vater muss Stärke zeigen, damit er nicht vom Thron gestoßen wird.«
»Das beruhigt mich nicht im Mindesten. Ich habe gewusst, wie er sein Unternehmen führt. Mir war klar, wer … was er ist. Doch zu sehen, dass er sich wie ein Monster verhält … Ich will nicht darüber reden. Ich kenne dich nicht. Du bist ein Nichts. Was weißt du schon über diese Dinge?«
Solche Worte habe ich von ihr erwartet, bevor ich sie getroffen habe. Ich kenne sie nicht, trotzdem weiß ich, sie schlägt nur blind um sich, um ihren eigenen Schmerz zu bekämpfen. Soll sie sich bei mir austoben. Sie hat Recht. Ich bin ein Nichts.
Sie wendet sich ab und läuft aus dem Stall Richtung Haus.
Ich eile ihr nach, gebe ihr allerdings ein wenig Freiraum, rücke ihr nicht zu nahe auf die Pelle, damit ihre Wut Luft zum Atmen hat. Als sie sich allerdings der Garage nähert, bemühe ich mich, zu ihr aufzuschließen. Schließlich will ich wissen, wie sie heimlich ihr Zimmer verlassen hat. Sie biegt vor mir um die Ecke. Ich beschleunige meine Schritte und stehe plötzlich allein da.
»Mad— Miss Lavender?« Mit den Augen suche ich die Bäume gegenüber der Garage ab. Doch die reichen nicht nahe genug an das Gebäude, um über sie auf das Dach zu gelangen. Wo ist sie schon wieder hin?
»Kommst du?« Ihr Kopf schiebt sich über den Rand.
»Und wie genau?« Ich überlege hochzuspringen und mich an der Regenrinne hochzuziehen. Die Konstruktion sieht allerdings nicht aus, als würde sie mein Gewicht tragen.
Ihr Kopf verschwindet. Dafür klappt kurz darauf ein Teil der Wand weg. Es entsteht Platz genug, damit Madison sich durchschieben kann. Eine geheime Tür ohne Griff, die ich vorhin nicht entdeckt habe. Ich rechtfertige meinen Fehler damit, normalerweise hier hinten nichts zu suchen zu haben.
Madison tritt zur Seite, damit ich an ihr vorbei ins Innere der Garage kann. Dort führt eine Leiter hinter einem Schrank zu einer Dachluke. Die Kletterei stellt weder eine große Anstrengung noch eine Gefahr dar. Ich trete an den Rand des Flachdachs und sehe nach unten. Wenn Madison das öfter macht, sollte ich ein Geländer anbringen lassen.
Als ich mich umwende, ist sie bereits weitergegangen. Sie setzt einen Fuß auf den flachen Teil des Daches, unter dem sich die Terrasse befindet. Mit schlafwandlerischer Sicherheit balanciert sie über die Ziegel und ist nur wenige Augenblicke später an ihrem Fenster angelangt. Sie öffnet es und klettert ins Innere.
Ich folge ihr etwas langsamer. Die Oberfläche ist glatt und rutschig. Ich trage festes Schuhwerk mit großem Profil, doch das hilft mir hier nicht weiter. Madison hat jahrelanges Training. Vielleicht denke ich zu viel nach.
Kurz bevor ich das Fenster zu Madisons Zimmer erreiche, rutscht mein Fuß ab. Ich mache einen schnellen Schritt nach vorne, um mich am Fensterbrett festhalten zu können. Als ich hochsehe, entdecke ich Madison, die mich beobachtet.
Ein kleines, schadenfrohes Lächeln umspielt ihre Lippen. Das verschwindet sofort wieder. »Na, auch endlich da?«, ätzt sie. »Dann kannst du ja jetzt wieder vor der Tür Aufstellung nehmen. Keine Sorge. Nach dem Essen lege ich mich wirklich hin.«
»Leider kann ich dich nicht allein hier drinnen lassen. Das war mir eine Lehre. Mein Vertrauen in dich ist erschüttert.«
Sie seufzt genervt. »Dann verspreche ich es heilig bei allen großen Fotografen. Ich gelobe, mein Zimmer nicht zu verlassen, ohne dich zu informieren. Sollte ich es doch tun, mögen meine Bilder künftig alle unscharf werden. Reicht das?«
»Madison …«
»Vielleicht belassen wir es in der nächsten Zeit bei Miss Lavender. Wenn du meinen Vornamen aussprichst, rinnt mir ein kalter Schauer über den Rücken.« Nach einem letzten finsteren Blick geht sie zu dem Tisch, an dem ihr Essen wartet, und steckt sich eine Weintraube in den Mund.
Vielleicht habe ich ihre Verachtung verdient. »Schön, Miss Lavender. Dann gebe ich Ihnen eine letzte Chance, mir zu beweisen, keine Lügnerin zu sein. Wenn ich Sie aber dabei erwische, wie Sie aus diesem Fenster klettern, drehe ich Ihnen eigenhändig den Hals um.«
Ein grimmiger Zug erscheint um ihre Lippen. Ihr rechter Mundwinkel zuckt. »Bei Gott. Dann sollte ich mich besser benehmen. Nicht auszudenken, was mein Vater Ihnen abschneiden könnte, wenn Sie mir etwas antun würden. Wobei es mir gefallen würde, Ihre Zunge auf einem Silbertablett präsentiert zu bekommen.«
Ich fürchte, das war das letzte Lächeln für lange Zeit, das sie mir freiwillig zeigt.