13. Kapitel
Madison
»Ich werde versuchen, keine zusätzlichen Probleme heraufzubeschwören.«
Hat Jackson sich bei meiner Formulierung nichts gedacht? Haben seine Alarmglocken nicht laut geschrillt? Anscheinend hat er immer noch keine Ahnung, wie schlecht ich darin bin, Anweisungen zu befolgen.
Zitternd strecke ich die Hand aus und lege sie auf die Tür, durch die er gerade verschwunden ist. Ich wünschte, ich würde kein Holz sondern seine Haut unter meinen Fingerspitzen spüren. Wie gerne würde ich ihm erzählen, was ich vorhabe. Ein Teil von mir ist froh, dass er nicht weiter nachgefragt hat, was mich beschäftigt. Wenn er wüsste, was ich zu tun beabsichtige, wäre er furchtbar sauer. Er glaubt, sein Plan ist der einzige Weg, doch da habe ich so meine Zweifel.
Wir können uns nicht so leicht in Luft auflösen, wie Jackson denkt. Auch wenn er schon einige Zeit für meinen Vater arbeitet, hat er anscheinend nicht begriffen, wozu Ares tatsächlich fähig ist. Er hat Freunde in jeder Stadt, hat Informanten bei der Polizei. Wir müssen uns nicht nur vor den Dark Ghosts
verstecken. Wenn mein Vater eine Belohnung auf unseren Kopf aussetzt, bekommen wir es mit gierigen Menschen in ganz Amerika zu tun. Niemand wird uns helfen, wenn der Verrat ihm ein ordentliches Plus auf dem Konto beschert.
Ich horche nach draußen. Jacksons Schritte haben sich entfernt. Es scheint sich niemand auf dem Gang aufzuhalten. Gut so.
Aus meinem Schrank hole ich einen Rucksack. Ein rosafarbenes Ding aus meinen Teenagerzeiten. Ich nehme mir nicht die Zeit, die sich darauf befindlichen Aufkleber zu betrachten. Damals bin ich Fan von Boybands gewesen. Jetzt stopfe ich Wäsche zum Wechseln rein. Keine Ahnung, wie schnell Jackson bei meinem Vater fertig wird. Ob er sich bereits eine Möglichkeit überlegt hat, wie wir von hier verschwinden können?
Ein Knacken dringt von draußen an mein Ohr. Ich bleibe stehen und lausche angestrengt. Mein klopfendes Herz macht es mir beinahe unmöglich, die Geräusche des Hauses von denen eines sich nähernden Ghosts
zu unterscheiden. Erst als sich mehrere Sekunden lang nichts regt, schleiche ich zur Tür.
Das hier ist mein Notfallplan. Jackson würde es nicht verstehen. Ich muss mich darum kümmern, bevor er wieder zurück ist.
Noch einmal horche ich auf den Gang. Also öffne ich die Tür und verlasse mein Zimmer. Vorsichtig schleiche ich in den unteren Stock. Die Eingangshalle ist leer. Trotzdem halte ich auf den Stufen an und sehe mich um. Jemand befindet sich vor dem Haus. Schatten bewegen sich vor der Eingangstür. Mehrere Männer diskutieren angeregt. Worum es geht, kann ich mir vorstellen. Morris‘ Flucht wird die Ghosts
noch Tage beschäftigen.
Wenn ich die Eingangshalle durchquere, bin ich durch die Glasflächen der Türen erkennbar. Der direkte Weg ist mir versperrt. Es gibt aber noch den indirekten von der Küche aus.
Der Koch ist am Herd beschäftigt. Zum Glück wendet er mir den Rücken zu. James macht gerade ein Tablett fertig. Er erwidert meinen Blick. Sein Mund öffnet sich, doch ich schüttle rasch den Kopf und lege einen Finger auf meine Lippen. Als Zeichen, dass er verstanden hat, nickt er einmal.
Ich schleiche weiter, bis ich beim Arbeitszimmer meines Dads angelangt bin. Die Tür steht einen Spalt offen. Meinen Vater kann ich nicht entdecken, aber bevor ich mich nach drinnen wage, warte ich ab, ob ein Geräusch zu hören ist.
Mein Plan ist verrückt. Das ist mir bewusst. Ich überschreite damit eine Grenze, über die ich nie wieder zurückkehren kann. Wenn ich nicht hundertprozentig sicher wäre, dass ich dieses Leben nicht ertrage, würde ich nicht einmal in Betracht ziehen, so etwas zu tun. Mein Vater ist bereits verärgert. Dass ich Morris geholfen habe, lässt ihn vor seinen Männern schwach dastehen. Er muss mich bestrafen, um von den Dark Ghosts
ernstgenommen zu werden. Also muss ich dafür sorgen, dass er keine Möglichkeit dazu erhält.
Vorsichtig stoße ich die Tür mit einem Finger auf und bewege mich keinen Millimeter. Sogar den Atem halte ich an, bis ich sicher bin, dass der Raum leer ist. Dann trete ich ein und schließe hinter mir ab.
Und wo soll ich mit meiner Suche beginnen?
Ich weiß, wo mein Vater die Notfallhandys aufbewahrt. Daddy hat so viele davon, dass er das Fehlen eines einzelnen nicht merken wird. Also werde ich eines davon in meinen Rucksack packen. Ich öffne die oberste Lade des Schreibtisches und hole das erstbeste Handy heraus. Im Ausziehfach darunter hängen Ordner, die die Unterlagen der Tagesgeschäfte enthalten. Meine Hand will bereits nach dem ersten greifen, als ich noch einmal innehalte.
Das ist die letzte Chance, meine Meinung zu ändern.
In meinem Kopf laufen Bilder aus meiner Kindheit ab. Mein Vater, der mich hoch in die Luft schmeißt und sicher wieder auffängt, der mir eine Gutenachtgeschichte vorliest, der mir das Schießen beibringt. Ich liebe ihn. Er ist meine Familie. Er ist ein Teil von mir, der für immer zu mir gehört. Egal, was er getan hat, wie viele Verbrechen er begangen hat, das wird sich niemals ändern. Es spielt keine Rolle, ob ich ihn mit meinem Plan hintergehe, er bleibt mein Vater. Aber ich kann nicht länger tatenlos mitansehen, was er da treibt. Wenn er mich wirklich liebt, wird er irgendwann verstehen können, warum ich dazu gezwungen war.
Ich ziehe den ersten Ordner aus dem Fach und schlage ihn auf. Obenauf liegt eine Rechnung über Futterbestellung für die Pferde. Nichts, was das FBI sonderlich interessieren wird. Ich blättere um, entdecke weitere Rechnungen, die alle mit der Führung der Ranch zu tun haben. Getreide, Spritzmittel, weiteres Futter, bestellt von meinem Vater. Lieferungen an Firmen mit Produkten, die auf den Feldern geerntet wurden. Alles furchtbar langweiliges Zeug.
Ob ich die Rechnungen trotzdem abfotografieren sollte? Nur für den Fall, dass Special Agent Foster sich gerne mit Heulieferungen beschäftigt? Nein, keine Zeit verschwenden.
Schnell hänge ich den Ordner zurück an seinen Platz und schnappe mir den nächsten. Wieder erwarten mich wenig spannende Dokumente, die mit den Arbeiten auf der Farm zusammenhängen. Kosten für die Unterbringung und die Verpflegung für die Angestellten. Ausgaben für geeignete Ausrüstung. Rechnungen, die mit den Fahrzeugen der Ranch zu tun haben. Nichts davon kann dafür genutzt werden, meinen Vater eines Verbrechens zu überführen.
Die Unterlagen über die Tagesgeschäfte bringen mich meinem Ziel also nicht näher. Ich durchsuche die anderen Ordner. Doch auch dort sind nur die Ranch betreffende Unterlagen enthalten. Ratlos schließe ich die Lade und sehe mich im Arbeitszimmer um.
Weder in den Buchregalen noch auf den Kommoden stehen Mappen. Natürlich sind sie nicht frei zugänglich aufbewahrt. Ich weiß gar nicht, wo genau ich suchen sollte. In keiner Lade der Schränke werde ich fündig. Langsam gehe ich die Wände entlang, sehe hinter Bilder, schiebe Bücher zur Seite, suche nach einem Hinweis auf einen Safe. Auch wenn ich den nicht aufbekommen sollte, kann mir die Information bei meinem nächsten Besuch hier drinnen gute Dienste leisten.
Wenn mein Vater in diesem Raum einen Safe hat, ist er zu gut versteckt. Ich vollende meine Runde durch den Raum, ziehe noch ein paar Bücher hervor, klappe kleine und größere Exemplare auf. Frustriert frage ich mich, ob ich das Risiko, meinen Vater gegen mich aufzubringen, unnötig eingegangen bin. Im nächsten Regalfach stehen mehrere Bücher, über deren exakt gleiche Höhe ich mich wundere. Als ich danach greife, wird mir klar, dass es sich nur um Attrappen handelt. Ich kann eine Tür aufklappen, hinter der sich ein Hohlraum von einem Meter mal einem halben Meter befindet. Darin stehen fein säuberlich geordnet Mappen mit Jahreszahlen in zwei Reihen. Ich habe die geheimen Aufzeichnungen meines Vaters gefunden!
Als ich Mappen aus der vorderen Reihe herausziehe, stockt mir der Atem. Die Unterlagen gehen fünfundzwanzig Jahre zurück! So lange ist es her, dass mein Dad mit dem Aufbau seiner Organisation begonnen hat. Die Ordner aus den Anfangszeiten sind dünn. Unter Umständen sind einige der darin angeführten Verbrechen bereits verjährt. Ich konzentriere mich also besser auf die neuesten Informationen.
Gerade will ich nach dem letzten Ordner greifen, da ändere ich meine Meinung und ziehe die Mappe mit der ältesten Jahreszahl in der ersten Reihe hervor. Die Unterlagen seiner Unternehmungen von vor fünf Jahren. Dieses Jahr war für mich besonders dramatisch. Ich weiß, dass ich da das erste Mal versucht habe, davonzulaufen. Mit meinem Rucksack auf dem Rücken und Trauer im Herzen bin ich losmarschiert. Weit bin ich damals nicht gekommen. An der Schranke auf der Hauptzufahrtsstraße hat mich ein Wachmann aufgehalten und zu meinem Vater zurückgebracht.
Danach habe ich es nicht mehr auf diese Art versucht. Ich bin ein paar Monate später noch einmal abgehauen, aber da war ich klüger. Ich habe gewartet, bis mein Vater für ein paar Tage die Ranch verlassen hat und bin dann aus dem Fenster geklettert. Einen halben Tag lang hat man mein Fehlen nicht bemerkt. Trotzdem habe ich es lediglich in den Nachbarort geschafft. Dort wollte ich bei einem gleichaltrigen Mädchen unterschlüpfen, das ich bei einem Jahrmarkt kennengelernt habe. Sobald die Eltern gemerkt haben, wer sich da im Zimmer ihrer Tochter versteckt, haben sie auf der Ranch angerufen. Mein Ausflug hat ein jähes Ende gefunden.
An diese Zeit denke ich eigentlich nicht gerne zurück. Ich habe damals eine Schwäche an mir bemerkt, die ich hasse. Vielleicht ist das der Grund, weshalb ich jetzt gerade nach diesem Ordner greife, ihn auf den Schreibtisch lege und darin zu stöbern beginne.
Endlich stoße ich auf Material, welches das FBI interessieren sollte. Rechnungen für den Club, den mein Vater damals schon besessen hat, weisen neben den zu erwartenden, aber viel zu hoch angesetzten, Alkohol- und Geschirrbestellungen auch seltsame Positionen auf, aus denen ich nicht schlau werde. Da werden neben Zigarren auch Dinge angefordert, die nur mit geheimnisvollen Bezeichnungen angeführt sind. Fünf Kilo Black Flash
wird genauso erwähnt wie drei Kilo Nirvana
. Ich glaube nicht, dass es da um Limetten oder Cocktailkirschen geht. Ob das die Straßennamen von Drogen sind? Vielleicht stehen die Namen für gewisse Rauschmittel.
Was soll’s? Ich werde mir darüber nicht den Kopf zerbrechen. Die Bedeutung dieser Unterlagen herauszufinden, ist die Aufgabe von Special Agent Foster. Wenn ich ihm das Material besorge, kann er es auch auswerten.
Die Rechnungen mit den betreffenden ungewöhnlichen Positionen fotografiere ich mit dem Handy, das ich mir von meinem Vater geborgt habe. Dann blättere ich weiter.
Das, was ich entdecke, irritiert mich. Es handelt sich um eine Krankenhausrechnung. Als ich den Namen darauf erkenne, gerät der Boden unter mir ins Schwanken. Timothy Black. Meine erste Liebe. Der Junge, der bei einem Autounfall gestorben ist.
Wir sind beide auf der Farm aufgewachsen, hatten allerdings nicht viel miteinander zu tun. Das hat sich erst geändert, als Timothy seinem Vater im Stall geholfen hat und wir uns immer wieder über den Weg gelaufen sind. Mit Timothy fand mein erster Kuss statt. Er hat sich einverstanden erklärt, mit mir von hier wegzugehen. Damals dachte ich noch, das wäre möglich. Doch kurz bevor wir unseren Plan in die Tat umsetzen konnten, ist er bei einer Besorgung in der Stadt von einem Wagen angefahren worden. Man hat ihn noch ins Krankenhaus gebracht, wo er gestorben ist. Er war mein Licht in der Dunkelheit. Als es erloschen ist, ging etwas in mir kaputt, das ich seither nicht mehr reparieren konnte.
Ich habe nicht geahnt, dass Dad die Familie finanziell unterstützt hat. Vermutlich kümmert er sich um jeden seiner Mitarbeiter. Als ich umblättere, entdecke ich die Auflistung der Begräbniskosten. Auch die hat Daddy mitsamt der Ausgaben für die Trauerfeier übernommen. Das ist eine nette Geste, die ich von meinem Vater nicht erwartet habe.
Dass mich diese Tatsache überrascht, beschämt mich. Offensichtlich ist mein Vater doch zu Gefühlen fähig. Das bringt mich aus dem Konzept, lässt mich an meinem Vorhaben zweifeln. Vielleicht hat er nicht verdient, ausgerechnet von mir verraten zu werden. Ich gehe die Unterlagen weiter durch.
Als nächstes ist die Rechnung für die Reparatur eines Wagens eingeheftet. Bei einem von Dads Fahrzeugen hat der linke Kotflügel nach einem Wildschaden ausgetauscht werden müssen. Dann folgen die Informationen für einen Hauskauf in Frankreich. Beinahe empfinde ich etwas Neid. Schade, dass es sich um kein Ferienhaus handelt, das ich besuchen kann. Mein Vater hat das Haus leider einem seiner Mitarbeiter überschrieben. In dieser Zeit ist Daddy fleißig gewesen.
Ich blättere zurück. Tatsächlich hat er das alles innerhalb von wenigen Tagen erledigt, auch wenn der Hauskauf schon vorher in die Wege geleitet worden ist. Da ist ein Schreiben abgeheftet, in der mein Dad erste Informationen angefordert hat. Die Reparatur ist sogar am gleichen Tag in Auftrag gegeben worden, an dem der Unfall stattgefunden hat. Und das Haus wurde dem gleichen Mann geschenkt, der den Wagen bei der Werkstatt abgegeben hat. Ein seltsamer Zufall?
Meine Nackenhaare stellen sich auf. Instinktiv weiß ich, dass es das nicht ist. Inzwischen habe ich gelernt, dass es so etwas wie Zufall nicht gibt. Das Offensichtliche ist immer die einzige Erklärung. Ich bin mir plötzlich sicher, dass Dad hinter allem steckt.
Mein Vater hat den ersten Mann getötet, den ich jemals geliebt habe.
Es schmerzt, zwingt mich dazu, mich auf Ares‘ Stuhl hinter dem Schreibtisch zu setzen. Es tut so weh, dass mir die Luft wegbleibt. Es ist unerträglich, sodass es in meinen Ohren zu rauschen beginnt. Mein Gehirn kann die Informationen nicht verarbeiten. Ich bin überfordert und möchte schreien, bis meine eigene Stimme jeden anderen Gedanken unmöglich gemacht hat.
Mein Vater ist ein Mörder. Er hat mir den einzigen Menschen genommen, der mir in meiner Jugend auf dieser Ranch freundlich gesinnt war. Das werde ich ihm niemals verzeihen. Damit hat er das letzte Verständnis, das ich noch für ihn habe aufbringen können, endgültig abgetötet. Die Liebe, die ich noch für ihn in mir getragen habe, erlischt. Ich will nicht länger seine Tochter sein. Ich will ihn aus meinem Leben ausradieren, seinen Einfluss austilgen, seinen Einfluss auf mich ein für alle Mal brechen.
Tränen laufen über meine Wange, als mir bewusst wird, dass mein Leben eine einzige Lüge ist. Mein Dad kann mich nie geliebt haben. Ich kann ihm nichts bedeuten, sonst hätte er mir das niemals angetan. Er hält mich in einem goldenen Käfig. Nicht, um mich zu beschützen, sondern weil er offensichtlich nichts mit mir anzufangen weiß. Ich bin seinem Willen völlig ausgeliefert. Ohne es zu wissen, hat er schon immer mein Schicksal beeinflusst. Das werde ich nicht länger erlauben.
Trotzig wische ich mir die Tränen weg. Ich nehme die Unterlagen, die den Mord an Timothy beweisen, aus der Mappe und packe sie in meinen Rucksack. Dann stelle ich den Ordner zurück an seinen Platz. Ich schnappe mir die aktuelle Mappe, nehme wahllos die ersten Blätter heraus und stecke sie zu den anderen Dokumenten. Nachdem ich die Unterlagensammlung an ihren Platz geschoben und kontrolliert habe, ob auf den ersten Blick alles unverändert aussieht, klappe ich die Tür zum Geheimversteck meines Vaters wieder zu.
In meinem Rucksack befinden sich hoffentlich genug Informationen, um ihn zu überführen. Mit den Daten sollte es dem FBI zumindest gelingen, weitere Verbindungen herzustellen. Zumindest hoffe ich das. Ich will nicht länger im Dreck wühlen. Bereits jetzt fühle ich mich unendlich schmutzig.
Mit dem Handy kann ich den Special Agent anrufen. Dafür werde ich mir einen ruhigen Ort suchen. Ich halte mich bereits zu lange hier drinnen auf. Wenn mein Vater mich jetzt mit den gegen ihn verwendbaren Unterlagen findet, habe ich mein Leben vermutlich verwirkt. Eines muss ich allerdings noch erledigen, bevor ich das Arbeitszimmer verlasse.
Wenn ich von hier verschwinde - und in diesem Moment steht für mich unumstößlich fest, dass ich nicht eine Sekunde länger hierbleiben werde - brauche ich Geld. Jackson wird mir hoffentlich helfen, einen sicheren Unterschlupf zu finden.
Jackson. Ich vertraue ihm. Er bekommt das schon irgendwie hin, auch wenn ich durch meine Entdeckung seinen Zeitplan durcheinanderbringe. Er passt bestimmt auf mich auf. Ich würde bedenkenlos mein Leben in seine Hände legen.
Um ihm seine Aufgabe zu erleichtern, werde ich uns eine kleine Finanzspritze besorgen. Wo Daddy sein Drogengeld aufbewahrt, weiß ich nicht. Dass er einen gewissen Betrag für das Tagesgeschäft in einem Fach seines Schreibwarenhalters versteckt, reicht mir. Mehrmals habe ich als Kind meinen Vater dabei beobachtet, obwohl ich eigentlich die Augen hätte schließen sollen, wie er etwas herausgeholt hat, um es mir zuzustecken. Er hat ein Faible für Geheimverstecke. Ich ziehe die schmale Lade unter den Stiften heraus und nehme die darin befindlichen Scheine ungesehen an mich. Nachzählen kann ich später immer noch.
Unter den Scheinen entdecke ich zu meiner Überraschung ein Sparbuch sowie zwei Kreditkarten. Ich stecke alles ein. Wer weiß, wofür das noch mal gut ist. Wir können jede Unterstützung brauchen.
Jetzt endlich verlasse ich das Zimmer. Ich habe das Glück lange genug herausgefordert. Um von den Männern vor dem Haus nicht entdeckt zu werden, benutze ich den Schleichweg durch die Küche. Sie ist leer. Ob James den Koch weggeschickt hat, um mich zu schützen? Er ist der Beste.
Direkt neben dem riesigen Raum, in dem es scheinbar immer nach gebratenem Speck riecht, führt eine Tür ins Freie. Ich habe bereits die Klinke in der Hand, als ich Stimmen höre. Jemand nähert sich. Schnell.
Mein Puls rast. Ich wende mich um und laufe los. In der Küche kann ich mich nicht verstecken. Es handelt sich um eine Falle. Stecke ich dort erst einmal fest, komme ich nicht mehr raus. Also muss ich rauf in den ersten Stock. Der Gang führt viel zu lange geradeaus. Wenn die zu den Stimmen gehörenden Personen jetzt den Hintereingang benutzen, bin ich geliefert.
Hinter mir erklingt ein Klicken. Hat einer der Ankömmlinge die Türklinke hinuntergedrückt? Die Stimmen dringen jetzt deutlich an mein Ohr.
»Dämliche Zicke. Ich hätte gerne auch mit dem Idioten Spaß gehabt, der sich mit dem Boss angelegt hat. Jetzt haben wir nichts als Ärger.«
Jemand brummt zur Antwort.
Mit klopfendem Herzen eile ich weiter. Noch scheint man mich nicht entdeckt zu haben. Nur noch ungefähr fünf Schritte bis ich außer Sichtweite gelange.
»Keine Ahnung, warum der Boss ihr dieses Verhalten durchgehen lässt«, brummt ein anderer Mann. »Wäre sie meine Tochter, hätte ich sie mit sechs in ein Internat gesteckt und dafür gesorgt, dass sie lernt, Respekt zu haben.«
Noch zwei Schritte. Ich nutze die Wut, die die Kommentare der Männer in mir auslöst, um noch einmal schneller zu werden. Dann springe ich um die Ecke, halte aber nicht an, sondern laufe weiter, bis ich in meinem Zimmer bin.
Dort versuche ich mich erst einmal zu beruhigen, doch das gelingt mir nicht. In meinem Kopf kreisen die Gedanken über das, was ich gerade herausgefunden habe. Alles hier ist eine schreckliche Illusion. Mir ist schon immer bewusst gewesen, dass mein Vater lediglich ein Schauspiel für mich aufführt. Mit einem Zuhause, das eigentlich nur ein goldener Käfig ist. Mit einem liebenden Vater, dem ich eigentlich egal bin. Mit Menschen, die so tun, als wären sie Angestellte auf einer normalen Ranch, als würden sie sich um Tiere kümmern und nicht um die Verteilung von Drogen. Ich habe früh erkannt, dass man mich anders behandelt, weil mein Vater kein normaler Ranchbesitzer ist. Sogar als mir klar geworden ist, womit mein Dad sein Geld verdient, habe ich die Augen vor der Wahrheit verschlossen. Ich habe ihn seine Verbrechen fortführen lassen. Jetzt endlich werde ich dem allen einen Riegel vorschieben.
Allein schaffe ich das nicht. Ich werde Jackson brauchen, damit ich von hier wegkomme. Special Agent Foster wird meinen Vater ins Gefängnis bringen. Alles Notwendige werde ich sofort in die Wege leiten.
Man sollte mich nicht hier erwischen. Auf der Ranch bin ich gleich nicht mehr sicher. Der Rucksack befindet sich immer noch auf meinem Rücken. Ich steige aus dem Fenster, überquere das Dach und klettere in die Garage runter.
Stimmen erklingen draußen. Schon wieder laufen Männer ganz in der Nähe herum. Ich harre in meinem Versteck aus, bis ich nichts mehr höre. Dann eile ich rüber zu den Ställen.
Es sind nur wenige Boxen frei. Ich setze mich in eine von ihnen und krame dann das Handy aus dem Rucksack. Die Nummer von Agent Foster habe ich mir auf einen Zettel notiert, der in meiner Hosentasche steckt. Nachdem ich noch einmal auf die Stille rundherum gehört habe, tippe ich die Ziffern ein.
Das Freizeichen steigert meine Nervosität. Was soll ich tun, wenn Foster nicht rangeht? In einer SMS kann ich unmöglich alles erklären. Wird der Agent mich zurückrufen, obwohl er die Nummer nicht kennt? Habe ich vielleicht einen Fehler beim Notieren der Ziffern gemacht?
Je länger ich warten muss, umso schneller pocht mein Herz. Ich habe ein Rauschen in meinen Ohren, das ich gar nicht gebrauchen kann. Wenn sich jemand meinem Versteck nähert, sollte ich es mitbekommen.
Noch ein Klingeln.
Durch Ritzen in den hölzernen Seitenwänden schummeln sich Lichtstrahlen und lassen Staubkörner in der Luft tanzen. Es ist warm hier drinnen. Nicht weit von mir entfernt wiehert ein Pferd. Das Rascheln von Stroh dringt an mein Ohr. Ich kenne jedes Geräusch, jede Unebenheit auf dem Boden, jedes Astloch. Ich liebe diesen Ort, der ohne jeden Schnickschnack auskommt. Zum Glück hat mein Vater keinen dieser furchtbar eleganten Pferdeställe bauen lassen. Nicht auszudenken, wenn hier drinnen —
»Foster?«
Überrascht blinzle ich. Der Special Agent hat abgehoben! Er klingt verdammt jung. Habe ich vielleicht versehentlich seinen Sohn an den Apparat bekommen?
»Wer ist denn da?«, fragt der Mann ungeduldig.
»Spreche ich mit Special Agent Foster vom FBI?«, erkundige ich mich mit gesenkter Stimme.
»Exakt. Und mit wem habe ich das Vergnügen?«
»Madison Lavender.« Ich lasse den Namen wirken.
Tatsächlich scheine ich den Mann überrascht zu haben. Es dauert etwas, bis er sich wieder zu Wort meldet. »Die Tochter von Hank Lavender?«
»Die bin ich.«
»Woher haben Sie meine Nummer?«
Als wäre das tatsächlich von Wichtigkeit. Wenn ich ihm die Geschichte erzähle, kürzt das die Fragerei ab. »Professor Morris hat sie mir gegeben. Ihn auf die Ranch zu schicken, um meinen Vater zu provozieren und ihm ein Geständnis zu entlocken, war ein Fehler.«
»Es hat zumindest gerade den Anschein. Ist er tot?«
»Nein, aber das wäre er, wenn ich ihn nicht mit … einem Helfer aus den Händen meines Vaters befreit hätte. Seine Männer sind nicht besonders zimperlich mit ihm umgesprungen. Dabei haben sie nicht einmal das Aufnahmegerät bemerkt. Sein Auftauchen hat ausgereicht, um meinen Vater wütend zu machen. Was haben Sie sich nur dabei gedacht, Morris in diese Gefahr zu bringen? Wissen Sie denn nicht, wozu mein Vater fähig ist?«
»Das ist mir nur zu genau bewusst«, antwortet Foster. »Mich überrascht, dass Sie es tun. Ich habe erwartet, Sie würden zu Ares halten, weil Sie nicht ahnen, welchen Beruf er tatsächlich ausübt.«
»Ist Anführer einer kriminellen Organisation denn eine offizielle Berufsbezeichnung?«
Der Mann am anderen Ende der Leitung lacht trocken auf. »Nein. Warum rufen Sie mich an? Wir stehen auf unterschiedlichen Seiten des Gesetzes.«
»Das tun wir nicht!« Ich bemerke, dass ich die Stimme erhoben habe, und nehme einen tiefen Atemzug, um mich zu beruhigen. »Sie können mich doch nicht als Verbrecherin bezeichnen. Ich bin nicht wie mein Vater.«
»Mag sein. Allerdings haben Sie Professor Morris angegriffen. Und Sie haben veranlasst, dass man ihn zusammengeschlagen hat. Sie sind zumindest der Beihilfe schuldig. Und was Ihr Überfall auf Professor Morris betrifft …«
»Er hat versucht, mich zu vergewaltigen!« Wieder bin ich lauter, als ich sein sollte. »Ich habe mich gegen ihn gewehrt. Dass mein Vater ihn wegen seiner Tat verprügeln lässt, habe ich nicht gewollt. Ich habe den Professor nicht absichtlich in eine gefährliche Situation gebracht. Sie hingegen haben seinen Tod riskiert, indem Sie ihn auf die Ranch geschickt haben.«
»Möglicherweise war das ein Fehler. Wo kann ich ihn abholen?«
»Keine Ahnung. Nachdem ich ihn aus der Ranch geschmuggelt hatte, habe ich ihn mit einem Wagen zurückgelassen. Vielleicht meldet er sich bald bei Ihnen.«
»Was wollen Sie dann von mir?«
Verärgert schüttle ich den Kopf. Dieser Mensch macht es mir nicht leicht. Ich dachte, er würde sofort verstehen, worum es mir geht. Stattdessen behandelt er mich, als wäre ich die Person, die all die Verbrechen begangen hat. Ich würde mich nicht als Opfer meines Vaters bezeichnen, aber die Rolle der bösen Hexe übernehme ich auch nicht. Muss er so unhöflich zu mir sein? »Ich will, dass mein Vater seine gerechte Strafe bekommt. Sie können mir dabei vielleicht behilflich sein.«
»Damit haben Sie mein Interesse geweckt.«
Schön für ihn. »Und Sie haben die Verbindungen, die es braucht, um mit den Informationen etwas anzufangen, die ich Ihnen zukommen lassen kann.«
»Welche Informationen?« Er klingt alarmiert.
»Ich habe Unterlagen, mit denen Sie beweisen können, dass mein Dad einen Mord in Auftrag gegeben hat. Andere Dokumente können Sie als Ansatzpunkt nehmen, um die Funktionsweise seiner Organisation zu verstehen, um sie zu zerstören —«
»Hören Sie auf zu reden! Sofort!«, befiehlt er rüde.
»Verzeihen Sie mal!«
»Ihr Vater weiß, dass ich ihm auf der Spur bin. Er überwacht mich mit Sicherheit genauso lange wie ich ihn. Wenn Ihr Anruf keine Falle ist, dann werden Sie Probleme bekommen. Ihr Vater wird über dieses Gespräch informiert werden.«
Special Agent Foster scheint ziemlich paranoid zu sein. Das hätte ich von einem Agenten des FBI nicht erwartet. »Wie soll er davon erfahren? Ich habe ein Handy benutzt, das er nicht mit mir in Verbindung bringt und für den Notfall angeschafft hat. Seine eigenen Telefonate wird er wohl nicht überprüfen.«
Der Mann gibt ein Grummeln von sich. »Aber meine.«
»Mein Vater hat seine Finger in vielen Angelegenheiten, die ihn eigentlich nichts angehen. Die Macht, einen FBI-Agenten abzuhören, hat er allerdings bestimmt nicht.«
»Man sagt, er habe eine Quelle beim FBI. All die Gelegenheiten, in denen es ihm gelungen ist, Beweise verschwinden zu lassen, all die Male, die er sich meinem Zugriff in verfänglichen Situationen entzogen hat … Das kann kein Zufall sein. Es gibt genug Menschen, die ihn beschützen.«
Das mag wohl stimmen. Er hat Freunde in vielen Positionen, um die Kontrolle zu behalten und Problemen aus dem Weg gehen zu können. Dennoch verstehe ich nicht, wie Special Agent Foster der Meinung sein kann, mein Dad hätte sogar Informanten beim FBI. Mit Geld kann man sich vieles kaufen. Könnte die Loyalität eines Mannes, der sein Leben der Jagd auf Verbrecher gewidmet hat, tatsächlich dazugehören?
Was weiß ich schon von meinem Vater? Warum gibt es noch Dinge, derer ich ihn nicht für fähig halte? Er hat doch bewiesen, dass er vor nichts zurückschreckt, um seinen Willen zu bekommen? Bleibt noch die andere Seite, die einem derartigen Geschäft zustimmen muss.
»Halten Sie einen Ihrer Kollegen für korrupt?«, frage ich. »Sie haben bestimmt irgendeinen Eid abgelegt, der Ihnen so etwas verbietet.«
Er lacht leise auf. »Es gibt überall schwarze Schafe. Für die meisten Männer, mit denen ich zusammenarbeite, würde ich meine Hand ins Feuer legen. Vielleicht hatte ich aber schon einmal mit jemandem zu tun, der dem Gesetz nicht so streng folgt wie ich. Wie sollte ich das ausschließen?«
»Umso wichtiger ist es, dass Sie meinen Vater überführen. Ich werde Ihnen die Beweise zuschicken. Wenn Sie möchten, kann ich sie abfotografieren …«
»Es reicht nicht auf diesem Weg. Sie müssen mir die Originale zukommen lassen. Haben Sie eine Möglichkeit, die Ranch zu verlassen? Nach diesem Gespräch sollten Sie ohnehin so schnell wie möglich von dort verschwinden.«
Wenn es nur nach mir ginge … »Das ist mein Plan. Wie Sie sich vielleicht vorstellen können, funktioniert das nicht so einfach.«
Foster seufzt. »Sie sollten das nicht auf die leichte Schulter nehmen, Miss Lavender.«
»Madison«, korrigiere ich automatisch. Meinen Familiennamen muss ich loswerden. Ich sehe mich ohnehin schon seit langem mehr als Madison Denvers.
»Es ist kein Spiel, Miss Lavender. Ihr Vater wird nicht davor zurückschrecken, Sie dauerhaft auf der Ranch festzuhalten oder gar aus dem Weg zu räumen.«
Wut steigt in mir auf. »Das ist kein großer Unterschied zu meiner momentanen Situation. Ich hatte die Wut meines Vaters schon auf mich gezogen, bevor ich Ihren Informanten vor Ares gerettet habe. Und nennen Sie mich gefälligst Madison oder Miss Denvers.«
Er gibt einen Ton von sich, der verdächtig nach einem Seufzen klingt. »Existiert eine Möglichkeit für Sie, die Ranch zu verlassen?«
»Ja, ich habe —«
»Vertrauen Sie mir keine Details an!«, braust er auf. »Vergessen Sie nicht, dass man uns vermutlich belauscht.«
Ich verdrehe die Augen. »Kann es sein, dass Sie ein klitzekleines bisschen paranoid sind?«
»Kann es sein, dass Sie das alles nicht ernst genug nehmen?«
»Sie reden hier von meinem Leben«, erinnere ich ihn. »Mir ist bewusst, worauf ich mich einlasse, wenn ich meinen Vater verrate. Ich kann nicht länger ignorieren, die Macht zu besitzen, das Leid zu beenden, das mein Vater so vielen Menschen zufügt, indem er Menschen von seinen Drogen abhängig macht. Ich werde nicht zulassen, dass er Unschuldige verletzt, nur weil er seine Gegner vernichten will.«
»Löblich von Ihnen, sich darüber Gedanken zu machen. Es ist gut, wenn Sie dem FBI helfen wollen, Ihrem Vater das Handwerk zu legen. Tatsächlich sind wir auf die Informationen angewiesen, die Sie uns liefern. Wir haben jahrelang versucht, Ihrem Vater eines der Verbrechen nachzuweisen, die er offensichtlich begangen hat. Ohne einen Insider, jemanden, der uns verrät, wie wir ihn überführen können, werden wir auch weiterhin scheitern. Die Sache ist allerdings gefährlich für Sie. So gerne wir auch Ihren Vater hinter Gittern sehen würden, kann ich das Risiko nicht ignorieren, das dadurch für Sie entsteht. Vielleicht sollten Sie lieber …«
»Nein, vergessen Sie es! Sie können mir das nicht ausreden. Seit Jahren will ich nichts sehnlicher, als von hier zu verschwinden. Das hier ist ein goldener Käfig und mein Wärter der schlimmste Kriminelle von allen. Das muss jetzt ein Ende haben.« Wenn Agent Foster so lange an dieser Aufgabe festgehalten hat, wie kann er dann glauben, ich würde nach einem halbherzigen Einwand von ihm aufgeben?
»Die Gefahr …«
»Quatschen Sie nicht die ganze Zeit davon, dieses Gespräch würde abgehört werden?«, brause ich auf. »Wenn das stimmt, wäre es riskanter für mich hierzubleiben, als Ihnen zu helfen. Mein Vater hasst mich, weil ich seine Nachfolge nicht antreten will. Ich habe Morris befreit. Das wird er mir nicht so schnell verzeihen. Selbst wenn ich die Unterlagen, die ich gestohlen habe, zurück in sein Arbeitszimmer bringen würde, selbst wenn er mit viel Glück nicht herausfinden sollte, dass ich die Dokumente an mich genommen habe, wird er mich nicht gehen lassen. Es gibt für mich keinen Ausweg mehr.«
»Verstehe.«
Wie könnte er? Was weiß er schon von meinem Alltag! Selbst wenn er die Ranch rund um die Uhr bewachen und jeden meiner Schritte verfolgen würde, könnte er nicht nachvollziehen, wie es sich anfühlt, an meiner Stelle zu sein.
»Ich kann nicht länger damit warten«, erkläre ich. »Es gibt kein Zurück mehr.«
»Dann hoffe ich, dass Sie alle notwendigen Vorkehrungen getroffen haben.«
»Was für eine dämliche Aussage! Wie stellen Sie sich das vor? Dass ich mir ein Taxi rufe und in eine von Dads Wohnungen ziehe? Damit er mich sofort wieder nach Hause karren kann? Wenn ich von hier verschwinde, habe ich nichts mehr. Ich starte bei null.«
Schwer atmend ringe ich nach Luft. Die Wahrheit dieser Worte macht mir Angst. Ich habe mich schon seit Jahren vor dem gefürchtet, was mir hier passieren könnte, wenn ich einen Fehler mache. Dabei dachte ich allerdings an die Dinge, in die ich aufgrund der Geschäfte meines Vaters hineingezogen werden könnte. Meinem Dad habe ich damals vertraut, zumindest in den Bereichen, in denen es sich um mein Wohlergehen drehte. Jetzt sehe ich ihn in einem anderen Licht. Jetzt sehe ich ihn, wie er wirklich ist.
Wie habe ich mir so lange etwas vormachen können? Ich fühle mich schuldig, weil ich mich vor den Tatsachen versteckt habe. Jeden Tag, den ich meinen Vater nicht verlassen habe und den ich ihn ungehindert seine Verbrechen begehen lassen habe, wurde meine Schuld größer.
In diesem Moment wird mir erst bewusst, was ich im Begriff bin zu tun. Die Panik, die ich dabei empfinde, hängt nicht damit zusammen, dass ich von der Ranch fliehe oder dass ich meinen Vater hintergehe. Ich bin dabei, ein völlig neues Leben zu beginnen. Ich brauche einen neuen Namen, einen neuen Stil, neue Hobbies, neue Vorlieben … Nichts darf mehr an die Madison erinnern, die ich bis jetzt war. Nichts davon darf mich für meinen Vater leichter auffindbar machen.
Ich werde irgendwie damit klarkommen. An Namenswechsel bin ich bereits gewöhnt. Seit Ewigkeiten wollte ich testen, ob mir eine Kurzhaarfrisur steht. Beim Freundefinden habe ich mich noch nie besonders geschickt angestellt, weshalb ich kein Problem damit haben werde, andere auf Abstand zu halten. Mit Einsamkeit komme ich gut klar. Bestimmt finde ich einen anderen Weg, um mich kreativ auszudrücken. Nur auf eines will ich nicht verzichten.
Jackson soll mich nicht nur auf der Flucht begleiten. Ich möchte mit ihm zusammen sein und herausfinden, ob wir weg von all dem hier eine Chance haben.
»Machen Sie sich auf den Weg nach New York«, befiehlt Special Agent Foster. »So schnell wie möglich. Wie Sie es anstellen, verraten Sie mir besser nicht. Sobald Sie die Stadt erreicht haben, melden Sie sich wieder bei mir. Wir brauchen diese Beweise dringend.«
»Natürlich. Sie hören von mir.«
»Ich muss Sie bitten, gegen Ihren Vater auszusagen. Ohne Sie in den Zeugenstand zu holen, werden wir nicht viel gegen ihn ausrichten können. Danach kommen Sie in den Zeugenschutz.«
Nicht allein. Das werde ich dem guten Mann noch klarmachen, wenn ich ihn persönlich treffe. Außerdem bin ich mir nicht sicher, ob ich dazu in der Lage bin, in einem Gerichtssaal unter den Augen meines Vaters über seine Verbrechen zu sprechen.
»Lassen Sie mich darüber nachdenken«, bitte ich.
»Sie können mir vertrauen. Ich werde auf Sie aufpassen.«
»Tut mir leid, Special Agent. Ich kenne Sie nicht. Dass Sie Morris unnötig in große Gefahr gebracht haben, beeinflusst meine Meinung von Ihnen. Es scheint, als würden wir uns gegenseitig brauchen, doch das bedeutet nicht, dass ich Ihnen vertraue. Oder gar den Männern, mit denen Sie zusammenarbeiten. Haben Sie nicht selbst gesagt, dass mein Vater einen Maulwurf beim FBI eingeschleust haben könnte? Wenn das zutrifft, wird ihn nichts daran hindern, mich aufzustöbern.«
Ein paar Sekunden lang herrscht Stille. »Ich finde einen anderen Weg, Sie Ares‘ Zugriff zu entziehen.«
»Vielen Dank, aber ich habe dafür meine eigene Methode. Und jetzt werde ich Schluss machen und überlegen, was zu tun ist.«
»Passen Sie auf sich auf.«
Zum Glück habe ich jemanden gefunden, der mir dabei hilft. »Sie hören von mir, sobald ich in New York bin. Auf Wiederhören.«
»Eine Sache noch, Miss La— Madison.«
»Ja?« Ich richte mich auf und klopfe mir das Stroh von meinen Shorts.
»Von welchem Mord haben Sie vorhin gesprochen, Madison? Wen hat Ihr Vater umbringen lassen?«
»Den ersten Jungen, den ich geliebt habe«, antworte ich. Plötzlich wird mein Brustkorb von einem Schraubstock zusammengepresst. Mein Vater ist tatsächlich für den Tod von Timothy verantwortlich. Ich habe den damals wichtigsten Menschen in meinem Leben verloren, weil mein Dad ihn nicht für gut genug empfand. Timothy war zwar Teil der Dark Ghosts
, doch er hatte ganz eigene Ansichten auf das Leben und die Art, wie er es verbringen wollte. Ihn hätten die Ghosts
nicht mehr lange auf der Ranch gehalten.
Mein Vater hat mich nach dem Unfall getröstet. Er hat versucht, mich enger in seine Geschäfte einzubinden. Doch ich habe mich dagegen gewehrt. An die Enttäuschung in seinem Blick kann ich mich noch gut erinnern. Ares hat Timothy töten lassen, weil er mich dazu bringen wollte, seine Nachfolgerin zu werden. Wäre ich nicht in Timothy verliebt gewesen, würde er vielleicht noch leben.
Mit einem Mal weiß ich nicht, ob ich nicht vielleicht doch hierbleiben und meinem Vater eigenhändig den Hals umdrehen sollte.