14. Kapitel
Jackson
»Ich will das Thema endgültig klären. Deine ausweichenden Antworten dulde ich nicht länger. Hat Madison mich belogen?«, fragt Ares und sieht mich scharf an. Er hält das Gewehr mit auf den Boden gerichtetem Lauf locker in der Hand. Gerade noch hat er damit auf die Ziele am Baumstamm schräg hinter ihm gezielt. »Stimmt es, dass du nichts mit dem Verschwinden von Morris zu tun hattest?«
Ich bemühe mich, meine Haltung nicht zu korrigieren. Breitbeinig und mit im Rücken verschränkten Händen stehe ich vor meinem Boss. Wenn ich mich jetzt bewege, wäre das so gut wie ein Schuldeingeständnis. Ich muss die letzte Frage bejahen und dabei überzeugend klingen.
Es fühlt sich falsch an, Madison zu verraten und Ares nicht die Wahrheit zu sagen. Ich fühle mich ihm nicht mehr verpflichtet. Eine Lüge ihm gegenüber wird mein Gewissen nicht belasten. Trotzdem möchte ich ihm Madison nicht ausliefern.
»Nein, Sir. Und Ja«, sage ich möglichst ruhig und wünschte, wir würden während dieser Diskussion nicht auf einem Schießplatz stehen. »Ich war an der Flucht von Madisons Professor nicht beteiligt.« Das ist keine eindeutige Lüge.
»Eine Enttäuschung, dass der Verrat aus der eigenen Familie kommt. Was hat sie sich nur dabei gedacht?« Er reißt das Gewehr hoch, dreht sich leicht und schießt.
Ich zucke zusammen, als die Kugel in einiger Entfernung aufgestellte Blechdosen trifft. Schießübungen sind eine Möglichkeit für Mr Lavender, Stress abzubauen. Dieses Gespräch würde ich trotzdem lieber führen, während er mir nicht mit einem Gewehr gegenübersteht. Er ist ein verdammt guter Schütze. Ich möchte nicht wissen, wozu er mit seiner Waffe fähig ist. Wenigstens halten sich die anderen Ghosts
von uns fern.
Ares nimmt noch eine Dose ins Visier und fegt sie von dem Holzbrett. »Dieses Kind raubt mir den letzten Nerv. Es ist ungehorsam und demütigt mich vor aller Welt.«
»Den Respekt Ihrer Männer wird das nicht schmälern«, versichere ich. Hauptsache, er zielt mit diesem Gewehr nicht auf Madison.
»Es macht den Verrat für mich nicht leichter verdaubar, wenn du solche Dinge sagst. Sie hat etwas Unverzeihliches getan. Mit den Folgen werde ich wohl noch lange beschäftigt sein.« Er seufzt. »Ich werde mit ihr sprechen müssen. Aber damit sollte ich noch warten. Im Augenblick bin ich zu wütend, um ihre Gegenwart zu ertragen.«
»Dann ist es sicherlich die richtige Entscheidung.« Er könnte mich ebenfalls aus seiner Nähe verbannen, damit ich in Ruhe die Vorbereitungen für Madisons Flucht planen kann. »Vielleicht werde ich ihr erst einmal ins Gewissen reden, damit es beim nächsten Gespräch nicht wieder zu einer Eskalation kommt«, schlage ich vor.
»Ein nettes Angebot, Jackson. Wenn du beruhigend auf sie einwirken könntest —«
»Sie ist weg«, schreit Littlefinger, während er auf uns zueilt. »Ihre Tochter ist nicht in ihrem Zimmer. Wir konnten sie im gesamten Haus nicht finden. Keine Ahnung, wie sie an den Wachen vorbeigelangt ist.«
Ares bringt ihn mit einem kurzen Blick zum Schweigen. »Was zur Hölle hast du jetzt wieder angestellt?«
Littlefinger räuspert sich. »Die Schuld liegt nicht bei mir. Ich habe genug Männer an der Eingangstür, um eine Armee aufzuhalten. Keiner von denen hat sie gesehen. Als ich in ihr Zimmer gekommen bin —«
»Was hattest du dort zu suchen?«, frage ich verärgert.
»Vorhin hat sie nichts erzählt. Ich dachte, wenn ich sie noch einmal nach dem Verbleib von Morris befrage, würde sie mir vielleicht antworten. Dann könnten wir die Suche nach dem Mistkerl vernünftig angehen. Leider musste ich feststellen, dass das Zimmer leer war. Ich habe alles durchsucht. Sie hat sich dort drinnen nicht versteckt.«
»Niemand hat dir erlaubt, mit ihr zu reden.« Ich mache einen drohenden Schritt auf ihn zu, balle die Hände zu Fäusten. Littlefingers Verhörmethoden kenne ich zur Genüge. Sollte er es wagen, sie bei Madison anzuwenden? »Wenn du deine dreckigen Finger nicht von ihr lässt, werde ich —«
»Genug«, sagt Ares scharf. »Ich weiß zu schätzen, dass du sie immer noch beschützen willst, Jackson. Ich bin mir sicher, Littlefinger wäre nicht zu grob mit ihr umgesprungen. Vielleicht hätte sie in einem Gespräch mit ihm tatsächlich Details verraten. Möglicherweise ist sie genau deshalb nicht zu finden gewesen. Bist du sicher, dass sie sich nicht mehr im Haus aufhält? James nimmt sie manchmal mit in die Küche.«
Denkt der Boss tatsächlich, dorthin verschwindet sie, wenn er sie nicht finden kann?
»Danke für die Info, Boss. Ich werde sofort überprüfen, ob sie sich dort versteckt hat.« Littlefinger läuft los.
Besorgt will ich ihn aufhalten oder ihn zumindest begleiten, doch Ares schüttelt den Kopf. »Warte. Wann hast du sie zuletzt gesehen, Jackson?«
»Kurz bevor ich Sie hier gefunden habe, Sir.« Da habe ich sie aufgefordert, in ihrem Zimmer zu bleiben, damit sich die Aufregung legt. Aber sie macht lieber alles noch schlimmer.
Ich werde versuchen, keine zusätzlichen Probleme heraufzubeschwören.
Gott, warum habe ich sie nicht sofort ans Bett gefesselt, als ich diese Worte gehört habe?
»Welchen Eindruck hattest du da von ihr?«
Sie konnte es nicht erwarten, endlich von hier wegzukommen. »Madison war aufgewühlt. Sie glaubt, das Richtige getan zu haben, und fühlt sich ungerecht behandelt.«
»Glaubst du, sie wäre in der Lage, sich etwas anzutun, nachdem ich …« Ares stockt. »Könnte sie denken, sie hätte keine andere Wahl, um einer Bestrafung zu entgehen?«
Die Frage überrascht mich. Macht Mr Lavender sich tatsächlich Sorgen um seine Tochter? Hält er sie für fähig, ihr Leben zu beenden? Er kennt sie nicht sonderlich gut. »Nein, das würde sie nicht tun.«
»Du musst sie finden, Jackson. Ich glaube nicht, dass sie sich noch im Haus aufhält. Littlefinger wird nicht fündig werden. Niemand hier hat seit ihrer Rückkehr so viel Zeit mit ihr verbracht wie du. Vielleicht kannst du herausfinden, wo sie steckt. Keine Ahnung, was sie jetzt schon wieder ausgeheckt hat. Madison macht nichts als Schwierigkeiten. Vielleicht habe ich sie zu lange mit Samthandschuhen angefasst. Ich habe mir immer einen Sohn gewünscht. Es wäre besser gewesen, noch einmal zu heiraten und einen richtigen Nachfolger zu zeugen. Jemanden, der nicht so weich und kreativ ist.«
»Madison will ihren eigenen Weg gehen.«
Er lacht auf. »Das ist eine verrückte Idee. Alle Welt kennt Hank Lavender. Sie kann nicht erwarten, dass das keine Auswirkungen auf ihr Leben hat. Meine Feinde wollen sie benutzen, um mir zu schaden. Dieser Ausflug nach London war ein absoluter Fehlschlag. Sie muss einsehen, dass sie sich nur zwischen zwei Möglichkeiten entscheiden kann. Entweder tritt sie meine Nachfolge an. Dann ist es notwendig, dass sie endlich ernsthaft versucht, das Familiengeschäft zu verstehen. Oder ich übergebe mein Unternehmen an jemand anderen. An jemanden, der sie allerdings bestimmt nicht unbehelligt lassen wird. Jedes vernünftige Oberhaupt wird dafür sorgen wollen, sämtliche Gefahren für seine Führungsposition auszuschalten. Weil mein Blut durch ihre Adern fließt, wird jeder in Madison eine Bedrohung sehen. Dank diesem dämlichen Zeitungsbericht wissen meine Feinde, wessen Tochter sie ist. Sie wird niemals wieder ein Leben führen können, in dem sie nicht als Lavender erkannt wird. Wie sollte man ahnen, dass sie tatsächlich keinerlei Ambitionen zeigt, meine Position einzunehmen?«
Natürlich hat Mr Lavender recht. Madison wird immer Gefahr drohen, weil sie seine Tochter ist. Die Angst um sie manifestiert sich in einem eisigen Knoten in meinem Magen. Wenn sie ohne mich davongelaufen ist, werden die Wölfe sich auf sie stürzen. Allein hat sie keine Chance. Ich habe ihr versprochen, sie von hier wegzubringen. Weshalb hat sie also nicht auf mich gewartet und mir vertraut? »Sie müssen sie beschützen«, fordere ich. »Vor Ihren Feinden und der Rache Ihrer eigenen Männer.«
»Das habe ich vor. Ich werde mich um eine Lösung kümmern. Noch habe ich nicht vor, als Anführer abzutreten, aber sie muss in meiner Nähe bleiben.«
Ich nicke, obwohl ich anderer Meinung bin. Nirgendwo ist sie seiner Einschätzung nach so sicher wie auf der Ranch, umgeben von den Männern ihres Vaters, in meiner Nähe. Ein Teil von mir kann verstehen, dass er gar keine andere Möglichkeit in Betracht zieht. Ich bin in der Lage zu erkennen, dass ihm das nichts nutzen wird. Madison will von ihm weg. Und ich kann es nachvollziehen. Sie gehört nicht hierher.
»Es hat einen Grund, weshalb ich dich zu ihrem Schutz eingeteilt habe«, sagt Ares. »Und der hatte weder mit dem zu tun, was deine Schwester erlebt hat, noch damit, dass du als mein Sicherheitsbeauftragter schon vorher alles im Blick behalten hast. Ich habe dich gewählt, weil ich dir bedingungslos vertraue. Ich habe gehofft, zwischen Madison und dir würde eine Verbindung entstehen und du könntest dadurch positiv auf sie einwirken. Offensichtlich hat sie deine Zuneigung ausgenutzt.«
»Was soll das bedeuten?« Wie viel weiß er davon, was zwischen Madison und mir passiert ist? Was zum Teufel hat er da wieder ausgeheckt?
Ein leichtes, wehmütiges Lächeln umspielt seine Mundwinkel. »Ich habe gehofft, ihr zwei würdet euch verlieben. In meiner Fantasie habe ich euch beide als neues Paar an der Spitze der Dark Ghosts
gesehen.«
Das ist auf so vielen unterschiedlichen Ebenen verrückt, dass ich nicht weiß, wo ich beginnen soll. »Wir sind doch keine Schachfiguren!«
»Natürlich nicht. Hast du dich zu irgendetwas von mir gedrängt gefühlt? Hattest du den Eindruck, ich würde dich zwingen, mehr für Madison zu empfinden? Ich wusste, dass du bei einer schutzbedürftigen Frau deinen Schutzwall nicht so hoch errichten würdest. Den Rest sollte die Zeit erledigen. Madison hat dem Richtigen viel zu bieten. Du solltest dich geschmeichelt fühlen, dass ich dich als gut genug für sie beurteile.«
Er hat recht. Madison ist etwas Besonderes. Ein warmer, herzensguter Mensch. Klug, einfühlsam, attraktiv. Dass sie als Ares‘ Tochter geboren wurde, spielt für mich keine Rolle. Vom ersten Moment an habe ich mich zu ihr hingezogen gefühlt. Weil sie gleichzeitig Zerbrechlichkeit und Stärke ausgestrahlt hat. Weil da sofort ein Echo in meinem Herzen war. Ich hasse den Gedanken, dass mich Ares dazu manipuliert hat. Auch wenn sich von allein alles nach seinem Plan entwickelt hat, darf sein ursprüngliches Vorhaben die Beziehung zwischen Madison und mir nicht beschmutzen. Ich werde nicht zulassen, dass diese Information Einfluss auf uns hat. Es wäre besser, seine Tochter würde nie davon erfahren.
»Soll ich mich denn bedanken?«, frage ich beinahe trotzig.
»Hatte ich denn Erfolg?«, stellt Ares eine Gegenfrage.
Hitze steigt mir ins Gesicht. Ich würde nicht vor ihm ausbreiten, wie nahe wir uns gekommen sind. Das alles ist schon kompliziert genug. »Ich mag ihre Tochter. Sie ist ein großartiger Mensch. Dieser Verkupplungsversuch wird ihr allerdings nicht gefallen.«
Immer noch ruht der Blick des Chefs prüfend auf mir. »Wenn sie ebenfalls Gefühle für dich entwickelt hat, wird sie darüber hinwegsehen. Auch wenn sie dich vorhin manipuliert hat, war der Ausdruck in ihren Augen ziemlich deutlich. Du hast es geschafft, ihr Herz zu erreichen. Die besten Voraussetzungen für eine glückliche Zukunft. Mit deiner Hilfe wird sie die Organisation weiterführen und sogar ausbauen können. Vielleicht sollte ich ihr deutlich machen, dass ihr beiden die Hochzeit fixieren müsst, bevor einer von euch seine Meinung ändert. Ich freue mich schon auf zahlreiche Enkelkinder.«
»Wir werden nicht … Es wird keine …« Warum bleibt die Erde plötzlich stehen? Wieso fühle ich mich, als würde meine Brust explodieren? Natürlich wird es keine Hochzeit geben. Enkelkinder, die zur Hälfte meine Gene erben, kann er sich abschminken. Ich bin nicht gut genug für Madison. Er sollte sich etwas Besseres für sie wünschen. Diese Idee ist verrückt. Das, was er sich zusammenfantasiert hat, darf niemals eintreffen. Es wäre einfach zu …
… erstrebenswert? …
… wundervoll? …
… perfekt? …
… gefährlich. Genau. Das ist das richtige Wort. Und sonst keines.
»Es tut mir leid, dass ich Sie enttäuschen muss. Ich kann Ihre Tochter nicht heiraten. Ihre Nachfolge kann ich ebenfalls nicht antreten. Ich verstehe, welche Vision Ihnen für die Zukunft der Dark Ghosts
vorschwebt. Wenn Sie Madison zu Ihrer Nachfolgerin aufbauen wollen, müssen Sie ihr Einverständnis einholen. Das geht mich nichts an. Ich werde auch weiterhin den Schutz Ihrer Tochter übernehmen. Aber eine Ehe kommt nicht in Frage. Es tut mir wirklich leid.« Wirklich, wirklich, wirklich.
»Zum jetzigen Zeitpunkt muss ich deine Meinung zu diesem Thema wohl respektieren. Zum Glück bleiben uns noch viele Monate, in denen du es dir anders überlegen kannst. Wenn Madison erst einmal klar geworden ist, wie viel du ihr bedeutest, und ihr beide euch nähergekommen seid, wird sich der Rest von allein ergeben.«
Wie kann ich ihn von diesem Unsinn abbringen? »Mr Lavender …«
»Du solltest diese Angelegenheit besser nicht boykottieren. Gewöhn dich in Ruhe an den Gedanken und tu dann, was von dir verlangt wird. Sonst könnte ich mich gezwungen sehen, meine Tochter Littlefinger oder einem der anderen Dark Ghosts
zur Ehefrau anzubieten.«
Ein gemeiner Erpressungsversuch. Damit demütigt er Madison. Sie hat nicht verdient, dass man sie für die Zwecke ihres Vaters an den erstbesten Kerl verscherbelt. Gibt es keine andere Möglichkeit, wie Ares sein Nachfolgerproblem lösen kann? Muss er dazu das Glück seiner Tochter aufs Spiel setzen? Er kann nicht wissen, ob ich Madison mit Respekt behandeln würde. Er kann nicht wissen, ob ich liebevoll, einfühlsam und zärtlich mit ihr umgehen würde, ob sie an meiner Seite glücklich wäre, ob ich sie auf Händen tragen würde. Tatsächlich schlägt in mir das Herz eines verdrehten, hoffnungslosen Gentlemans. Mich durch Littlefinger zu ersetzen, wäre ein noch schlechterer Tausch. Littlefinger ist ein unkontrollierbarer Gewalttäter. Er ist zu unbeherrscht, um die Ghosts
anzuführen. Als Ehemann wäre er noch weniger geeignet.
Wenn ich mir vorstelle, wie dieser brutale Mensch Madison in die Arme nimmt, wie er sie küsst, wie er mit ihr im Bett liegt … Eine unschuldige, zarte Pflanze, die einem Monster geopfert wird.
Das darf nicht passieren. Wütend balle ich die Hände zu Fäusten. »Eine Ehe ist nichts, was man an einem Verhandlungstisch arrangiert. Ich werde mit Madison reden. Danach sehen wir weiter.« Hoffentlich müssen wir danach nicht lange warten, bis wir in Sicherheit vor Ares und seinen verrückten Plänen sind.
»Sehr schön. Mach dich auf die Suche nach ihr. Dann bring sie sofort zu mir, Jackson. Ich vertraue dir. Ich weiß, dass du mich nicht enttäuschen wirst.« Kühle liegt in seinem Blick und macht klar, dass ein Scheitern nicht geduldet wird. Entweder liefere ich ihm Madison, oder meine Tage unter seinem Schutz sind vorbei.
»Natürlich.« Ich verabschiede mich und verlasse den Schießplatz. Auf den Gesichtern der Männer, die auf ihn aufpassen, lese ich Schadenfreude. Jeder hier kämpft um seinen Platz am großen Tisch. Ich bin gerade auf der Karriereleiter ein paar Stufen nach unten gefallen.
Mit den Folgen werde ich mich später auseinandersetzen. Jetzt gilt es, Madison zu ihrem Vater zurückzubringen, bevor der mich hinter dem Haus abknallen lässt. Anschließend überlege ich, wie ich Madison einen sicheren Hafen bieten kann, in dem sie niemand findet. Wir werden Geld brauchen. Viel Geld. Damit lässt sich alles kaufen, was nötig ist. Ein neuer Name, ein neues Zuhause, ein neues Leben. Ich werde dafür sorgen, dass sie das alles erhält. Sobald ich uns ein wenig Zeit erkämpft habe, mache ich mich an die Planung.
Während ich zur Garage stapfe, um einen der Geländewagen zu nehmen, überlege ich fieberhaft, wo sie stecken könnte. Hat sie sich irgendwo auf dem Gelände einen Ort gesucht, an dem sie zur Ruhe kommen kann, oder hat sie die Ranch tatsächlich verlassen?
Vom Schlüsselbrett neben dem Eingang schnappe ich mir den Schlüssel des Hummers. Ich gebe Gas und fahre los, ohne zu wissen, wohin ich soll. Es wäre das Beste, wenn ich die Suche organisiert angehen würde. Doch erst einmal muss Mr Lavender sehen, dass ich nicht tatenlos bleibe.
Madison und Littlefinger! Ist das sein Ernst?
Sie wird nicht zur Hütte zurückkehren, in der wir Morris versteckt haben. Trotz allem ist ihr Bedürfnis, ihren Professor zu beschützen, größer als der Drang, sich von ihrem Vater zu befreien. Sie wird Ares nicht auf Morris‘ Spur bringen. Ohne mich tritt sie nicht die Flucht an. Sie läuft nicht allein weg. Mit Sicherheit nicht. Bei unserem letzten Gespräch hätte ich Anzeichen bemerkt, wenn ihr Vertrauen in mich erschüttert oder das Band zwischen uns getrennt worden wäre.
Also ist sie noch hier. Irgendetwas muss passiert sein, das sie aus dem Gleichgewicht gebracht und sie aus ihrem Zimmer getrieben hat. Wenn sie einen Ort sucht, an dem sie sich sicher fühlt, dann weiß ich, wo ich sie finden werde. Dass mir das nicht sofort bewusst war, kann ich nur auf meine Verwirrung schieben. Mr Lavenders Enthüllungen haben mich überrumpelt.
Abrupt ändere ich die Fahrtrichtung, brause um das Haus herum und parke den Wagen neben der Garage. Ich springe aus dem Fahrzeug und mache mich auf den Weg zum Stall.
Das Gebäude betrete ich wie beim letzten Mal durch den hinteren Eingang. Mit schnellen Schritten schreite ich durch den Gang, sehe weder nach links noch nach rechts. In der Wärme des Stalls höre ich das Schnauben der Pferde. Ich werde Madison endlich den Ausritt ermöglichen, nach dem sie sich seit ihrer Ankunft hier sehnt. Erst muss ich sie jedoch finden und den Streit mit ihrem Vater so weit beilegen, dass wir Zeit genug haben, um unseren Plan in die Tat umzusetzen.
Zwischen den Geräuschen, die von den Tieren kommen, glaube ich ein Schluchzen zu vernehmen. Instinktiv weiß ich, dass ich Madison gefunden habe. Ich beschleunige meine Schritte, bis ich den nächsten Quergang erreiche.
Madison steht in einer Box und schmiegt ihren Kopf an den Hals eines Pferdes. Ich kann ihr Gesicht nicht erkennen. Das leise Schniefen stammt aber eindeutig von ihr.
»Es wird sich schon einrenken«, behaupte ich beim Näherkommen. »Dein Vater ist im Augenblick verdammt wütend. Vielleicht braucht es eine ‑ natürlich nicht ernst gemeinte ‑ Entschuldigung, damit er sich beruhigt. Von Dauer wird seine Verärgerung allerdings nicht sein. Ich glaube, er liebt dich, auch wenn er es nicht zeigen kann.«
»Schöne Liebe!«, presst Madison hervor. »Wie kann ich ihm etwas bedeuten, wenn er jemanden ermorden lässt, der mir wichtig ist?«
Sie kann nicht von Morris sprechen. Schließlich hat sie seinen Tod verhindert und der Kerl spielt keine Rolle in ihrem Leben. Langsam pirsche ich mich näher, bis ich meine Hand auf ihre Schulter legen kann. »Erzähl mir, was los ist.«
Madison zuckt zusammen, als hätte ich sie geschlagen. Ich versuche es nicht persönlich zu nehmen. Was hat sie bloß so verunsichert?
Mit großen Augen sieht sie mich über ihre Schulter hinweg an. »Mein Vater hat Timothy töten lassen, den Jungen, mit dem ich von hier verschwinden wollte.«
»Du hast doch gesagt, er wäre bei einem Autounfall ums Leben gekommen.«
»Denkst du, es handelt sich um einen Zufall, dass einer von Dads Männer am Tag darauf einen Wagen zur Reparatur gegeben hat und mein Vater dem Fahrer gleichzeitig ein Haus in Frankreich gekauft hat?«
Was für ein gemeiner, hinterhältiger … »Bist du sicher, dass das der Wahrheit entspricht?«, frage ich ruhig.
»Ich habe Beweise gesehen. Belege für die Reparatur und den Kauf, die Namen auf den Unterlagen des Mannes, der anscheinend den Wagen gefahren hat, die Übernahme sämtlicher Kosten des Krankenhausaufenthaltes und des Begräbnisses … Ich wüsste nicht, welchen Schluss ich sonst daraus ziehen sollte.«
»Es scheint zumindest alles sehr eindeutig. Woher hast du die Informationen?«
»Aus Daddys Büro. Er hat alles fein säuberlich für seine Buchhaltung eingeheftet.« Sie schluchzt auf, schmiegt ihr Gesicht wieder an den Hals des Pferdes. »Welcher Vater tut seiner Tochter so etwas an?«
»Bist du sicher, dass es kein Unfall war? Vielleicht war es nicht geplant, Timothy zu töten.« Natürlich können meine Worte nicht dazu beitragen, ihr den Schmerz zu nehmen. Eine Erklärung, die ihren Vater nicht als kaltblütigen Mörder darstellt, könnte ihr allerdings helfen, den Schock zu überwinden.
»Ich wünschte, das könnte ich glauben.« Ihre Stimme klingt erstickt. »Der Kauf des Hauses ist vor dem Unfall angeleiert worden. Ich habe einen entsprechenden Brief gefunden. Wenn es sich um Schweigegeld gehandelt hat, um den Mann, der den Wagen gefahren hat, loszuwerden, hätte die Kommunikation erst nach dem Unfall beginnen dürfen.«
Die Beweise sind eindeutig. Trotzdem will es mir nicht in den Kopf. »Wieso hätte er ihn töten sollen? Was hatte dein Vater für einen Grund, ihn aus dem Weg zu räumen?«
»Ich kenne seine Überlegungen nicht, aber ich fürchte, es ist meine Schuld. Mein Dad war nicht glücklich über die enge Verbindung zwischen Timothy und mir. Mehrmals hat er versucht, mir die Beziehung auszureden, obwohl das zwischen Timothy und mir gerade erst begonnen hatte. Dad hat es vielleicht nicht ertragen, dass ich etwas für einen einfachen Ghost
empfunden habe. Möglicherweise wollte er Timothy nicht an meiner Seite sehen. Dann ist es nur wegen mir passiert. Alle Verbrechen meines Vaters haben mit mir zu tun. Ich bringe das Unglück über andere. Ich bin der Angelpunkt! Immer nur ich! Ich, ich. Ich!«
Ich lege meine Hände auf ihre Schultern, zwinge sie dazu, sich umzudrehen und mich anzusehen. »Hör auf mit dem Blödsinn. Dein Vater hat schon vor deiner Geburt den falschen Weg eingeschlagen. Schon vorher hat er Drogengeschäfte abgewickelt. Du hast aus ihm keinen Verbrecher gemacht. Er hat die Entscheidung, eine Drogenorganisation aufzubauen, allein getroffen.«
»Aber all die Toten in meiner Nähe ...«
»... sind nicht deine Schuld. Rede dir das nicht ein.«
»Jeder, der mit mir zu tun hat, wird in die Machenschaften meines Vaters hineingezogen. Er verletzt Menschen, die mir wehtun, genauso wie jene, die es seiner Ansicht nach nicht wert sind, mir etwas zu bedeuten. Vermutlich dauert es nicht mehr lange, und er wendet sich auch gegen dich.«
Das kann schneller als gedacht passieren. Allerdings hat das dann nichts damit zu tun, dass ich Madison zu nahegekommen bin. Das Gegenteil scheint ihren Vater mehr mit Sorge zu erfüllen. Wenn ich Madison davon erzähle, würde das bestimmt nicht zu ihrer Beruhigung beitragen.
»Soll ich einen Ausritt mit einem der Pferde organisieren?«, frage ich. »Soll ich dich alleinlassen oder lieber in den Arm nehmen? Sag mir, was ich tun soll, damit es dir besser geht. Du musst zur Ruhe kommen. Dein Vater will dich sprechen. So bald wie möglich. Mir ist bewusst, dass es im Augenblick etwas viel verlangt ist, aber dich vor ihm zu verstecken, würde alles nur noch schlimmer machen. Sobald du dich dazu in der Lage fühlst, bringe ich dich zu ihm.«
»Kommt nicht in Frage.« Vehement schüttelt sie den Kopf. »Ich würde ihm die Augen auskratzen, würde ich ihm jetzt gegenüberstehen.«
»Du musst einen Weg finden, das hinzubekommen. Er wird nicht dulden, dass du seinem Befehl noch einmal widersprichst.«
»Er ist ein Mörder, Jackson!« Tränen schießen ihr in die Augen. »Ich werde nicht noch einen einzigen Tag unter seinem Dach leben. Wir werden von hier verschwinden. Nach Möglichkeit sofort.«
Ich ziehe sie an meine Brust. »Das ist leider nicht möglich. Um das vorzubereiten, benötige ich Zeit. Ich muss mich mit Leuten unterhalten, die uns helfen können …«
»Nein, Jackson. Ich will hier weg. Jetzt.«
»Hab ein paar Tage Geduld, Madison. Ich muss mich mit meinen Freunden in Verbindung setzen. Wir brauchen einen Plan, bevor wir uns auf den Weg machen. Dein Vater wird uns sonst finden.«
»Diese Geduld kann ich nicht aufbringen. Das ist mein Ernst, Jackson. Ich kann nicht hierbleiben. Keinen einzigen Tag mehr. Ich ertrage es nicht länger. Bitte, bring mich von hier weg«, fleht sie mit bebender Stimme.
Die Qual in ihren Augen lässt mich nicht kalt. In diesem Moment wird mir klar, dass ich alles tun würde, um sie zu beschützen. Sogar mich offen gegen ihren Vater stellen. Der Boss wird nicht erfreut sein, wenn ich seinen Befehlen nicht Folge leiste. Doch das spielt keine Rolle. Es ist mir egal, welche Konsequenzen mein Tun haben wird.
Mit einem Nicken greife ich nach ihrer Hand und ziehe sie mit mir. Bereitwillig folgt sie mir, nachdem sie sich ihren Rucksack geschnappt hat. Ich lotse sie Richtung Garage. Sie ist alles, was zählt. Niemand kann mich daran hindern, jeden ihrer Wünsche zu erfüllen. Diese Frau ist mein Leben.
Wir haben nichts außer den Klamotten, die wir am Leib tragen. In meiner Hosentasche befindet sich mein Handy, das ich auf dem Weg zum Wagen in eine Regentonne werfe. Wenn wir die Ranch verlassen, darf unsere Spur nicht nachverfolgbar sein. Welches Fahrzeug wir nehmen müssen, ist mir sofort klar. Den Hummer können wir nur für den ersten Teil unserer Reise verwenden. Vielleicht können wir ihn in einem Nachbarort verkaufen und damit eine falsche Fährte legen. Geld ist, was uns am dringendsten fehlen wird. Wenn ich hundert Dollar bei mir habe, ist es viel. Wir brauchen neue Papiere, müssen unser Aussehen verändern …
Mein Verstand beschäftigt sich bereits mit den nächsten notwendigen Schritten, als wir uns in den Wagen setzen und losfahren. Im Zweifelsfall reicht es, wenn ich Madison in Sicherheit bringen kann. Zum Glück bemerkt uns niemand, bis wir die Straße zur Grundstücksgrenze entlangfahren. Ich habe Madison auf die Rückbank verfrachtet und befehle ihr, sich unsichtbar zu machen.
Als wir uns dem Wachhäuschen nähern, werde ich angehalten.
»Was willst du hier draußen? Solltest du nicht mit dem Boss den Scheiß klären, den du verbockt hast?«, fragt der Dark Ghost
.
»Schon erledigt. Die Tochter des Bosses ist verschwunden. Ich soll sie suchen und habe mir überlegt, dass sie das Gelände verlassen haben könnte. Wenn ich die Grenze abfahre, kann ich vielleicht eine Spur von ihr entdecken. Schließlich hat sie den Mistkerl, den Ares sich vorgenommen hat, auch irgendwie von hier weggeschafft.«
Der Dark Ghost
wirkt nicht überzeugt. »Vielleicht sollte ich im Haupthaus nachfragen, ob alles seine Ordnung hat, bevor ich dich passieren lasse.«
Ich zucke mit den Schultern. »Tu das. Der Boss hat sich allerdings auf dem Schießplatz aufgehalten, als er mich mit der Suche nach seiner Tochter beauftragt hat.«
»Er schießt?«
»Genau. Und jeder Schuss war ein Treffer.«
Die Augenbrauen des Dark Ghosts
schießen nach oben. »Wenn er seine Entspannungsübungen macht, sollten wir ihn nicht belästigen. Versuch lieber, die kleine Göre so schnell wie möglich zurückzuschaffen. Ich will nicht in ihrer Haut stecken, wenn Ares‘ Beruhigungsversuche keine Wirkung zeigen.«
»Wer will das schon«, sage ich mit einem Seufzen. »Die Predigt, die ich mir anhören musste, weil sie mich reinlegen konnte, hatte es in sich.«
»Du hast mein Mitleid.« Der Dark Ghost
lässt die Schranken hochfahren und nickt mir zum Abschied zu. »Viel Glück bei der Suche.«
»Danke dir. Bis später.« Dann gebe ich Gas und entferne mich in angemessener Geschwindigkeit.
Mehrere Minuten lang fahre ich die Straße entlang und lasse Madison weiter im Fußraum der Rückbank ausharren. In den ersten Kilometern besteht immer noch das Risiko, dass uns ein anderer Wagen der Ghosts
entgegenkommt und Madison entdeckt.
Erst als wir eine Landstraße erreichen und immer mehr Fahrzeugen begegnen, darf sie nach vorne klettern.
»Alles in Ordnung?«, frage ich.
»Es war nicht gerade gemütlich, aber ich habe es überlebt.« Sie stellt ihren Rucksack zu ihren Füßen ab und gurtet sich an. »War die Standpauke wirklich so schlimm? Anscheinend hat er dir abgenommen, von mir um den Finger gewickelt worden zu sein.«
»Sonderlich überzeugt war dein Vater davon nicht. Er hat ziemlich eigenwillige Ansichten was die Beziehung zwischen uns betrifft.« Bei der Erinnerung an diesen Teil des Gesprächs grummelt es in meinem Magen.
»Was meinst du?«
»Nicht so wichtig. Vergiss es einfach.«
»Hat er dich bedroht?«, fragt sie leise.
Die Wahrheit darf ich ihr nicht erzählen. Ihren Hass auf ihren Vater schüren, indem ich bejahe, wage ich ebenfalls nicht. »Er weiß von meiner Schwester. Darum hat er ausgerechnet mich zu deinem Schutz abgestellt. Jetzt ist er der Meinung, ich hätte versagt. Ich hätte dir nicht genug geholfen, weshalb du dich auf der Ranch nicht wohlfühlst«, lüge ich. »Das spielt keine Rolle. Hauptsache, wir können das alles hinter uns lassen.«
Sie nickt.
Erleichtert konzentriere ich mich auf die Straße und versuche einen Plan auszuarbeiten. Mein Verstand braucht etwas zu tun, um der Forderung meines Herzens, sie in meine Arme zu schließen, nicht nachzugeben. Alles, was ich mir überlegt habe, ist jetzt nicht mehr durchführbar. Die Nummer meines ehemaligen Vorgesetzten kann ich immer noch herausfinden. Ein Telefonat ist allerdings erst möglich, wenn wir möglichst weit von hier weg sind. Wir kommen bald in die nächste Stadt. Dort würde man den Hummer sofort als ein Fahrzeug der Ranch erkennen.
Bei der nächsten Möglichkeit verlasse ich die Landstraße und wechsle auf einen schmalen Weg, der durch Wiesen außerhalb des Ortes vorbeiführt. Hier wird man uns weder suchen noch erkennen. Die Fahrt ist nicht sonderlich angenehm, doch darauf kann ich keine Rücksicht nehmen.
Ich werfe einen kurzen Blick zu Madison. Sie sitzt blass und schockstarr im Beifahrersitz. Bestimmt hat sie Schwierigkeiten zu verarbeiten, dass wir tatsächlich flüchten. Wünscht sie sich jemand anderes an ihre Seite? Ich habe ihr nicht auf die Art beistehen können, wie ich es vorgehabt habe. Wird sie mir das jemals verzeihen?
»Wir fahren nicht direkt in die nächste Stadt«, plappere ich los. »Wenn wir uns auf Feldwegen vorwärtsbewegen, wird man uns nicht so schnell finden. Es ist wichtig, so viel Abstand zwischen uns und deinen Vater zu bringen wie möglich. Deine Sicherheit steht dennoch an erster Stelle. Keine Risiken. Keine Menschen, die dich erkennen können. Keine Städte, in denen zuerst nach uns gesucht wird.«
»Wir müssen nach New York.«
Ein Schlagloch erfordert meine gesamte Aufmerksamkeit. Dann schüttle ich den Kopf. »Wie ich bereits sagte, dort werden die Männer deines Dads uns zuerst vermuten. Bis vor wenigen Minuten habe ich selbst zu den Ghosts
gehört. Ich weiß, wovon ich rede.«
»Wir müssen nach New York, weil ich einen Termin mit Special Agent Foster vereinbart habe.«
Ich versuche zu begreifen, was sie da sagt. »Du hast mit dem FBI gesprochen? Wann hast du das denn beschlossen?«
Sie sieht aus dem Beifahrerfenster und verschränkt die Hände in ihrem Schoß. Kurz darauf werden ihre Knöchel weiß, weil sie ihre Finger so verkrampft. »Als Morris mir erzählt hat, dass er mithelfen wollte, meinen Vater zu überführen.«
»Dein Professor hatte kein Handy bei sich. Zumindest das haben die anderen Ghosts
bestimmt überprüft.«
»Er hat mir die Nummer des Special Agents genannt«, berichtet Madison ruhig. »Ich habe Foster angerufen, nachdem ich meinem Vater gestanden habe, für Morris‘ Flucht verantwortlich zu sein.«
»Nachdem ich dir befohlen hatte, in deinem Zimmer zu bleiben.«
Sie zuckt mit den Achseln. »Niemand hat das Recht, mir Befehle zu erteilen. Ich tue, was auch immer ich für das Richtige halte.«
Wütend schlage ich mit der Faust auf das Lenkrad ein. Dabei gerate ich ins Schlingern. Die Zeit, bis ich die Kontrolle über das Fahrzeug wiedererlangt habe, nutze ich, um mich zu fassen. »Das stimmt«, gebe ich zu. »Du sollst selbst entscheiden, wie du dein Leben gestalten willst. Ich werde dir nicht vorschreiben, was du zu tun hast. Trotzdem werde ich verhindern, dass du dich durch deine Handlungen in Gefahr bringst. Ich verstehe nicht, weshalb du mit dem Special Agent sprechen willst. Willst du Antworten? Hoffst du, er kann dir etwas erzählen, das du noch nicht über deinen Vater weißt? Denkst du, das FBI kann dir helfen, ein neues Leben anzufangen? Es ist mir ein Rätsel, was du dir von dem Treffen erhoffst. Also erkläre es mir.«
»Ich will meinen Vater ins Gefängnis bringen.«
»Madison …«
»Er hat Schlimmeres getan, als ich bis jetzt gewusst habe. Timothys Tod … Wer weiß, welche Leichen er noch im Keller versteckt. Im wahrsten Sinn des Wortes. Wer kann mir schon sagen, was er verbrochen hat, wie viele Grenzen er überschritten hat?«
»Deine Wut ist verständlich. Und ich werde nicht behaupten, dass da keine illegale Machenschaften existieren, die noch nicht aufgedeckt sind. Aber wie willst du dafür sorgen, dass das FBI deinen Vater tatsächlich hinter Gitter bringt? Dein Wort wird nicht ausreichen. Selbst wenn ich als Zeuge aussage, wird das nicht genügen, um Ares eines Verbrechens zu überführen. Er hat mächtige Freunde in wichtigen Positionen. Die werden dafür sorgen, dass er nicht mehr als einen Klapps auf die Finger bekommt.«
»Das kann er gerne versuchen. Doch seine Kontakte werden ihm nicht helfen können, wenn die Beweise gegen ihn erdrückend sind«, verkündet sie triumphierend.
»Welche Beweise?«, frage ich alarmiert.
Sie zögert. »Die, die ich in meinem Rucksack mitgenommen habe.«
»Von wo?«
»Aus dem Arbeitszimmer meines Dads. Ich habe so viel eingepackt, wie möglich war.«
Sie hat ihren Vater bestohlen. Sie will ihn hintergehen. Sie kooperiert mit dem FBI!
Und das erzählt sie mir auch noch stolz. Diese Frau stellt meine Geduld auf eine harte Probe. Diese Tat wird uns in ernste Schwierigkeiten bringen. Ihr Vater denkt, ich würde mich auf der Suche nach ihr befinden. Das hätte uns ein paar Stunden Vorsprung verschaffen können. Doch der Diebstahl wird nicht so lange unbemerkt bleiben. Es wird nicht lange dauern, bis Mr Lavender die richtigen Schlüsse zieht und uns seine Männer hinterherschickt. Sie werden um ihr bequemes kriminelles Leben fürchten und keine Gnade zeigen.
Ich muss einem Ast ausweichen, der rechts von mir viel zu tief hängt. Dabei steuere ich links beinahe gegen einen Baumstamm. Abrupt trete ich auf die Bremse, bis wir kurz vor dem Hindernis anhalten. Gerade nochmal gut gegangen.
Allerdings mache ich keine Anstalten, unsere Reise fortzusetzen. Ich balle die Hände zu Fäusten, lasse sie auf das Lenkrad niedersausen und klettere dann rasch aus dem Wagen, um Madison nicht ihren hübschen Hals umzudrehen. Was hat sie sich nur dabei gedacht?
Wütend stapfe ich vom Wagen weg, werfe den Kopf in den Nacken und brülle meine Frustration in den Himmel.
Es ist nicht so, als könnte ich sie nicht verstehen. Wäre ich an ihrer Stelle und hätte erfahren, dass das einzige Mitglied meiner Familie meine erste Liebe getötet hat, würde meine Welt auch ins Schwanken geraten. Ich bin allerdings für ihre Sicherheit zuständig. Sie hat vertrauensvoll ihr Leben in meine Hände gelegt. Wie, bitte schön, soll ich meine Aufgabe erledigen, wenn sie nicht mit mir spricht, bevor sie so verrückte Entscheidungen trifft, wie sich an das FBI zu wenden?
Mein Verstand, ausgebildet durch meine Zeit beim Militär, will eine Möglichkeit finden, sie aus diesem Schlamassel zu retten. Er brüllt mir zu, dass wir bei diesem Special Agent Foster vorsichtig sein müssen. Er verlangt nach einem anderen Weg, um ihren Vater zu bestrafen. Hätte ich von Madisons Plan gewusst, hätte ich die Informationen anders zum FBI geschafft. Ich hätte die Daten von Ares‘ Computer verschickt. Er hätte nicht beweisen können, dass Madison dahintersteckt. Selbst wenn er sofort durchschaut hätte, dass seine eigene Tochter ihm Böses will, hätte er keinen Grund gehabt, sie zu jagen, weil der Schaden bereits angerichtet gewesen wäre. Ich hätte nicht befürchten müssen, mich den Rest meines Lebens vor den Dark Ghosts
verstecken zu müssen. Doch Madison hat mit dieser Aktion die Planung unserer Flucht selbst in die Hand genommen.
Ihre Schritte nähern sich in meinem Rücken. Ich spüre, dass sie zögert. Ob sie nach meinem Ausbruch Angst vor mir hat? Ich könnte es ihr nicht verübeln. Hoffentlich kann sie trotzdem sehen, dass ich nicht wie ihr Vater bin.
Ihre Hand berührt mich am Oberarm. »Alles in Ordnung, Jackson?«
»Nein«, sage ich ehrlich. »Das ist es nicht, Madison. Aber deshalb musst du dich nicht sorgen. Schließlich gehört es zu meinem Job, auf dich Acht zu geben und alles möglich zu machen, was du dir in den Kopf setzt.«
»So empfinde ich das nicht.« Ihre Stimme klingt rau.
»Sicher? Ist es nicht so, dass ich mich um deine Sicherheit kümmern soll, du jedoch gleichzeitig überhaupt nicht auf mich hörst?«, frage ich trotzig.
»Du bist mehr als mein Bodyguard, Jackson. Es tut mir leid, wenn du das Gefühl hast, ich hätte etwas falsch gemacht …«
Ich wirble herum und lege meine Hände auf ihre Oberarme. »Etwas falsch gemacht? Du hast dich in Gefahr gebracht, ohne mir die Gelegenheit zu geben, dir diese Verrücktheit auszureden. Ich mache mir Sorgen um dich. Wenn ich ganz ehrlich bin, empfinde ich leichte … nein, eher riesige Wut. Aber ich werde es hinkriegen. Schließlich muss ich das irgendwie schaffen.«
Mit großen, erschrockenen Augen sieht sie zu mir auf. »Es wird uns gemeinsam gelingen.«
»Natürlich. Wir schaffen die Unterlagen zum FBI und bringen dann so viel Abstand zwischen deinen Vater und uns wie möglich.«
»Der Special Agent will, dass ich gegen meinen Vater aussage.«
»Klar will er das«, brumme ich, spüre, wie die Angst meinen Brustkorb immer enger zusammenpresst.
»Bitte, Jackson. Sei nicht sauer auf mich.«
»Das … das bin ich nicht. Du wirst nicht Zeuge im Prozess gegen deinen Vater sein. Diese Aufgabe werde ich übernehmen. Wir bringen dich in Sicherheit, irgendwohin, wo dein Vater dich nicht findet. Danach werde ich zu diesem FBI-Typen gehen und dafür sorgen, dass er hinter Schloss und Riegel kommt. Du musst deinem Vater niemals wieder gegenüberstehen.«
»Und anschließend kommst du zu mir?«, fragt sie.
Ich schüttle den Kopf. »Auch wenn die Gerichtsverhandlung überstanden ist und es der Justiz gelungen ist, deinen Vater einzusperren, werden seine Männer jeden meiner Schritte überwachen. Sie werden mich nicht mit dem Verrat davonkommen lassen. Sie werden mich jagen. Ich werde nicht das Risiko eingehen, sie zu dir zu führen.«
»Dann ist der Plan scheiße, und wir überlegen uns etwas anderes.«
»Madison …«
Sie stellt sich auf die Zehenspitzen und drückt ihre Lippen auf meine. Es handelt sich um einen verzweifelten, hungrigen Kuss, der mich überrumpelt.
Ich bin einen Moment wie erstarrt, bevor ich meine Arme um sie schlinge, sie eng an mich ziehe. Verzweifelt wünsche ich mir, es würde reichen, sie nur festzuhalten, damit ich sie niemals verliere. Ich habe kein Recht, irgendetwas von ihr zu erwarten, sie für mich zu beanspruchen. Trotzdem gehört ihr mein Herz. Es bedeutet mir unheimlich viel, sie so nahe bei mir zu haben. Gewöhnen sollte ich mich daran allerdings nicht.
Als sie den Kuss beendet, will jede Faser meines Körpers sie packen, auf die Rückbank zerren und sich in ihrem anschmiegsamen, verführerischen Körper versenken. Doch erst wartet Wichtigeres auf uns.
»Wir finden eine Möglichkeit, wie wir das zusammen schaffen«, sagt die wundervollste Frau, die ich je getroffen habe. »Du wirst dich nicht opfern, weil ich die Entscheidung getroffen habe, endlich meinen Vater zu stoppen.«
»Es gibt nichts, was ich nicht tun würde, um dich zu beschützen, Babe. Ich verspreche dir, auf dich aufzupassen. Es wird dir nichts geschehen. Das ist wichtiger als alles andere.«
»Das stimmt nicht«, widerspricht sie.
»Ich würde für dich sterben, Madison. Du bist alles, was für mich auf dieser Welt noch zählt. Wir beide haben nichts mehr zu verlieren.«
Tränen laufen über ihre Wangen. Qual liegt in ihrem Blick. »Doch. Wir könnten verlieren, was wir zwei haben. Ich werde nicht zulassen, dass du dich für mich in Gefahr bringst. Es würde mir leichter fallen, die Rolle zu spielen, die mein Vater für mich vorgesehen hat, als auf dich zu verzichten.«
Die Ernsthaftigkeit in ihren Worten macht mich wehrlos. Rasch beuge ich mich zu ihr, küsse sie, schmecke ihre salzigen Tränen. Nichts könnte mich davon abhalten, in ihrer Nähe zu bleiben.
»Was sollen wir nur tun?«, murmelt Madison und schmiegt ihre perfekten Kurven an mich.
»Das weiß ich noch nicht.«
Sie legt ihre zarten Hände um mein Gesicht, sieht zu mir auf. »Ich will dich nicht verlieren. Ich … ich liebe dich.«
Mein Herz explodiert in einem Funkenregen. Das Übermaß an Gefühlen macht mir Angst. Ich bin wie erstarrt, sehe auf sie nieder und weiß nicht, was ich sagen soll. Niemals hätte ich erwartet, dass eine Frau wie sie sich in mich verlieben könnte. Statt Freude zu empfinden, fühle ich mich hilflos und bin entsetzt.
»Das darfst du nicht«, presse ich hervor. »Ich bin ein Teil des Lebens, das du hinter dir lassen willst. Du hast etwas Besseres verdient als mich. Ich werde immer für dich da sein, wenn du mich brauchst. Du bist mein Licht, der einzige Funken Hoffnung. Wenn du mir dein Herz schenkst, werde ich nicht dafür sorgen können, dass du dir mit einem netten, harmlosen Mann ein neues Zuhause schaffen kannst.«
»Die netten, harmlosen Männer sind nichts für mich. Ich will dich.«
Mein Körper schmerzt. All die Prügel, die ich in meinem Leben schon eingesteckt habe, könnten mich nicht so wehrlos machen. Trotzdem greife ich nach ihren Armen, die sie um meinen Hals geschlungen hat, schiebe sie vorsichtig von mir. »Wir werden dafür sorgen, dass du irgendwo in Sicherheit bist. Vielleicht kann das FBI Ares schon bald ausschalten, damit er nicht in der Lage ist, die Suche nach dir fortzusetzen. Notfalls werde ich deinen Vater auf eine falsche Fährte locken oder mich ihm stellen.«
»Nein!« Sie wehrt sich gegen meinen Griff, versucht, mich wieder zu sich zu ziehen. »Das lasse ich nicht zu. Du wirst dich nicht in Gefahr bringen. Mein Vater würde dich töten. Wenn du nicht an meiner Seite bist, will ich nicht mehr leben!«
»Du weiß nicht, was du da sagst. Ich bin ein Nichts, ein Niemand, nicht wichtig für irgendjemanden auf dieser Welt. Aber du sollst glücklich werden. Du sollst ein Leben als Künstlerin führen, deine Zeit mit Dingen verbringen, die dir Freude machen, im Sonnenlicht tanzen, eine Liebe erfahren, die nicht von Dunkelheit geprägt ist. Und irgendwann wirst du Kinder bekommen. Zauberhafte Wesen mit den gleichen, wunderschönen braunen Augen und einem Herzen, in denen die Charaktereigenschaften von Lavender keinen Platz haben.«
Immer noch kämpft sie gegen mich an. Ihre Tränen versiegen nach und nach. Stattdessen ist unbändige Wut in ihrem Blick. »Du denkst tatsächlich, das alles wäre noch möglich?«
Ich nicke.
»Bei Gott, ich hoffe, du hast Recht. Aber das alles will ich nicht mit irgendjemandem genießen. Du sollst bei mir sein. Du sollst Teil dieses Traums sein. Sonst werde ich gar nicht erst versuchen, ihn zu träumen.«
»Madison …« Vor all den Hoffnungen, die sie in mir weckt, muss ich die Augen schließen. »Nein, das wird nicht geschehen. Dein Vater wird uns bis ans Ende der Welt jagen. Siehst du nicht, dass es ihm leichter fallen wird, uns zu finden, wenn wir zusammenbleiben?«
Sie reißt sich von mir los und versetzt mir eine Ohrfeige. »Wieso warst du so nett zu mir, wenn du mich gar nicht willst?«
Mein Herz blutet. Es schmerzt viel mehr als der Abdruck, den sie vermutlich auf meiner Wange hinterlassen hat. »Ich soll dich nicht wollen? Bist du verrückt, Weib? Ich liebe dich mit jeder Faser meines Körpers. Jeder Herzschlag ist nur für dich gedacht. Ich nehme jeden Atemzug bloß, um ihn dir zu widmen. Eine gemeinsame Zukunft ist dennoch unmöglich. Ich darf dich nicht an mich binden. Würde ich es tun, würde ich mich als noch schlechterer Mensch offenbaren als ohnehin schon.«
»Wenn du so wie ich empfindest, kannst du unmöglich planen, mich zu verlassen.«
»Noch niemals habe ich jemanden so sehr geliebt wie dich. Und deshalb bin ich auch in der Lage, dich gehen zu lassen, um deinem Glück nicht im Weg zu stehen. Ich verzichte mit Freuden auf das, was ich mir wünsche, wenn du dadurch dein Leben in Freiheit und ohne Angst verbringen kannst. Wir können nicht zusammen sein. Wenn ich das auch nur in Betracht ziehen würde, könnte ich mir niemals verzeihen.«
Ihr Gesicht ist blass. In ihren Augen erscheint eine Leere, die mein Herz brennen lässt. Ich habe ihr weh getan. Es hat sich um keine Lüge gehandelt. Ich möchte sie glücklich sehen. Ich würde nichts unversucht lassen, um ihr jeden Wunsch zu erfüllen, nur damit dieses wundervolle, sorglose Lächeln voller Glück auf ihrem Gesicht erscheint, das ich noch viel zu selten gesehen habe. Aber sie egoistisch an jemanden wie mich zu binden, wäre unverantwortlich.
»Du wirst schon noch bemerken, dass du dich irrst«, behauptet sie. »Im Moment kämpfst du gegen die Vorstellung an, du hättest Glück verdient. Wenn du erst einmal siehst, dass alles gut werden wird, wenn das FBI meinen Vater verhaftet und dafür sorgt, dass er uns nichts mehr tun kann, wirst du erkennen —«
»Darauf würde ich mich an deiner Stelle nicht verlassen, Madison. Ich werde meine Meinung nicht ändern. Du hast jemand Besseren verdient. Vielleicht wirst du deinen Irrtum noch bemerken, bevor diese Reise zu Ende ist. Wenn ich erst dazu gezwungen bin, einen anderen Menschen vor deinen Augen zu verletzen, wirst du sehen, dass du dich von mir fernhalten solltest.«
»Nein, Jackson …«
Ich drehe mich um und gehe zum Wagen. »Wir können uns unterwegs weiterstreiten, wenn du unbedingt möchtest. Jetzt sollten wir weiter. Schließlich hast du einen Termin vereinbart, zu dem wir besser pünktlich sein sollten.«
Sie kommt hinter mir her und klettert auf den Beifahrersitz. Der Blick, den sie mir schenkt, ist traurig und enttäuscht. Nachdem wir uns in Bewegung gesetzt haben, versucht sie mich erneut auf meinen angeblichen Fehler hinzuweisen, doch ich schweige, bis sie aufgibt. Sie wird die Wahrheit nicht auf Dauer verleugnen können.
Als ich später zu ihr hinübersehe, entdecke ich Tränen, die stumm über ihre Wangen laufen. Ich umklammere das Lenkrad so fest, dass meine Knöchel weiß werden.
Obwohl mein Herz danach schreit, sie zu trösten, halte ich mich zurück. Ihr das Gefühl zu geben, es gäbe noch eine geringe Chance, meine Meinung zu ändern, würde für sie alles nur noch schlimmer machen.
Es ist ein Fehler gewesen, sie zu verführen. Ich habe gewusst, dass ich ihr weh tun würde. Trotzdem habe ich ihr nicht widerstehen können. Jetzt wird sie bereuen, mir vertraut zu haben. Dieser Gedanke ist vermutlich am schlimmsten für mich.
Diese Reise wird mich meine restlichen Geduldsfäden kosten.