19. Kapitel
Madison
Ich höre leises Lachen aus dem Wohnzimmer. Mein Herz hüpft freudig, als ich die Treppe nach unten laufe, immer dem fröhlichen Geräusch nach. Pures Glück durchströmt mich. Sie nur lachen zu hören, bedeutet mir so unglaublich viel. Ich will zu den beiden wichtigsten Menschen in meinem Leben. Ich brauche sie. Und jetzt endlich habe ich sie wieder beide an einem Ort.
Meine Schritte hallen von den Wänden der Eingangshalle. Ich laufe weiter, kann endlich die Tür ins Wohnzimmer aufreißen und den Raum betreten. So lange habe ich auf diesen Moment gewartet, und jetzt endlich ist es so weit.
»Mum! Dad!« Mit ausgebreiteten Armen stürme ich zu meiner Mutter und drücke sie an mich.
Inzwischen rast mein Herz. Dieser Augenblick bedeutet mir so unendlich viel. In den letzten Jahren habe ich sie vermisst. Jede einzelne Sekunde des Tages. Mir ist bewusst, sie zu fest zu umarmen. Doch das ist mir egal. Ich habe mich nach ihrer Nähe gesehnt und nun kann ich sie festhalten, ihren Herzschlag spüren, ihren Atem hören.
Ungeweinte Tränen brennen hinter meinen geschlossenen Augenlidern. Ich klammere mich an meine Mutter, will sie nie wieder loslassen. Das hier ist perfekt.
»Geht es dir gut?«, fragt Mum. In ihrer Stimme klingt ein Lachen mit. »Du bist sonst doch nicht so anhänglich. Nicht dass ich mich beschweren möchte.«
»Jetzt ist alles gut«, murmle ich. Noch einmal verstärke ich die Umarmung, bevor ich mich langsam von ihr löse. Lächelnd starre ich in ihr Gesicht, betrachte es genau, um mir jedes Details einzuprägen.
Die Fotos werden ihrer Schönheit nicht gerecht. Ich kann verstehen, weshalb mein Vater sich Hals über Kopf in sie verliebt hat, weshalb er sie quasi entführt und auf dieser Ranch in Sicherheit wissen wollte. Ihre Augen funkeln im gleichen Braun wie meine. Ihr haselnussfarbenes Haar fließt lang über den Rücken. Ihre Gesichtszüge sind ebenmäßig, weich, voller Wärme. Meine Seele fliegt ihrer entgegen. Warum kann dieser Augenblick nicht für immer andauern?
Meine Mutter streicht mir die Haare aus dem Gesicht. »Ich bin so furchtbar stolz auf dich, mein Kind. Das weißt du doch? Ich liebe dich mehr als mein Leben und ich kann nur glücklich sein, wenn du es bist.«
Diese Worte hat sie nie ausgesprochen, als sie noch … als sie …
Das Wohnzimmer flirrt, etwas zieht mich von hier weg, doch ich kämpfe dagegen an. Nicht jetzt. Ich bin noch nicht bereit, sie gehen zu lassen.
Meine Gedanken konzentrieren sich auf meine Mutter. Langsam stabilisiert sich das Bild. Ich kann sie wieder bei mir fühlen. Wärme breitet sich in mir aus.
»Warum hast du mich bloß verlassen?«, frage ich. »Wieso kannst du nicht immer noch bei mir sein? Ich hätte dich so dringend gebraucht. All die Jahre, die ich mich nach dir gesehnt habe! Mir hat der Halt gefehlt, der Ruhepol. Ohne dich hat alles keinen Sinn mehr gemacht. Ich bin bestimmt nicht die Person geworden, die du dir vorgestellt hast. Dad hat sich verloren, als du gegangen bist. Ohne dich waren wir nicht mehr die gleichen.«
»Es tut mir leid, meine Kleine. Ich wollte euch nicht verlassen. Es hat sich nicht um meine Entscheidung gehandelt, wie du sehr wohl weißt. Aber jetzt - in diesem Moment - bin ich hier bei dir. Also frag mich alles, was dir im Kopf herumspukt. Erzähl mir, wie dein Leben aussieht. Verrat mir deine Träume und deine Hoffnungen.«
Traurigkeit macht sich in mir breit. »Hättest du mich vor einigen Tagen gefragt, hätte ich zu meinen Zukunftsplänen etwas zu berichten gehabt. Hätten wir uns vor einigen Wochen gegenübergestanden, wäre meine Antwort definitiv kürzer ausgefallen.«
Meine Mutter lächelt. Ein Funkeln tritt in ihre Augen. »Lass mich raten. Du hast jemanden kennengelernt.«
»Ja, aber da vor kurzem etwas Schreckliches passiert ist, spielt er keine Rolle mehr in meinem Leben.«
»Das ist schade.«
»Jackson hat mich ohnehin furchtbar enttäuscht«, wirft mein Vater ein. »Ich hatte eine Vision für euch beide. Ich war davon überzeugt, ihr würdet zusammen die
Dark Ghosts zu einer machtvollen Organisation machen. Stattdessen hat Jackson mich hintergangen und du bist mir in den Rücken gefallen. Ihr beide habt euch verdient.«
Ich löse mich von meiner Mutter und balle meine Hände zu Fäusten. »Nur weil wir nicht auf deine Manipulationen hereingefallen sind …«
»Du meinst meine Verkupplungsversuche? Ich denke, die haben ziemlich gut funktioniert. Findest du nicht auch?«
Ein Zittern läuft durch meinen Körper. Das, was Jackson und ich geteilt haben, war ein Geschenk. Unsere Begegnung hat Hoffnungen auf eine glückliche Verbindung in mir geweckt, die ich ohne ihn niemals zu träumen gewagt hätte. Doch ich werde meinem Vater dafür nicht dankbar sein. Denn seine Pläne haben anders ausgesehen. Er hat Jackson und mich zusammengespannt, weil er aus uns ein dunkles Königspaar machen wollte. Er hat von mir als brutale Anführerin seiner kleinkriminellen Angestellten geträumt. Er hat sich nicht darum gesorgt, wie gefährlich das für mich sein würde. Nein, ich weiß diese Einmischung nicht zu schätzen.
Immer noch fällt es mir schwer, meine Gedanken zu diesem Thema auszusprechen. Ja, mein Vater hat Jackson und mich dazu gedrängt, ein Team zu bilden. Durch meine Isolation ist es Dad gelungen, mich direkt in Jacksons Arme zu treiben. Er hat mich allerdings nicht dazu gezwungen, mich in Jackson zu verlieben, mich in unsinnigen Hoffnungen zu verlieren, Jackson dazu zu verlocken, seinem kriminellen Leben den Rücken kehren zu wollen. Mein Vater hat nicht gewusst, was aus seiner kleinen Intrige werden würde. Ich kann ihm Schuld an dem Gefühl von Ohnmacht geben, das mich fest im Griff hat. Ich kann ihn allerdings nicht dafür verantwortlich machen, dass die Liebe zwischen Jackson und mir zu einer Katastrophe geführt hat.
Ich kann Jackson nicht aus ganzem Herzen hassen. Es gelingt mir nicht. Genauso wenig, wie ein Teil von mir nicht aufhören will, sich nach der Liebe meines Vaters zu sehnen. Hätte er an diesem Tag, der in einem Albtraum endete, einen symbolischen Schritt auf mich zu gemacht, statt die Waffe auf mich zu richten, wäre ich ihm glücklich in die Arme gesunken. Ich hätte ihm vermutlich alles verziehen. Nicht sofort, aber nach und nach. Doch er musste versuchen, mich zu töten.
Der Blick, den ich ihm jetzt schicke, ist bitterböse. »Du hast mich dazu gebracht, Jackson in mein Herz zu lassen. Statt deinem dunklen Pfad zu folgen, hat er allerdings eingesehen, dass du unrecht hast. Ares‘ Zukunftsvisionen sind nur Produkte deines übersteigerten Egos. Jackson ist darüber hinausgewachsen. Er hat dich endlich durchschaut. Und damit hast du alles verloren.«
»Dass du dich von mir abgewandt hast, war die größere Enttäuschung«, erklärt Dad.
Auch wenn mir das bewusst war, tut es weh, als er die Wahrheit ausspricht.
Er macht einen Schritt auf mich zu und hält mich an den Oberarmen fest. Sein Blick wird weich. »Ich liebe dich, mein Kind. Mein gesamtes Lebenswerk habe ich nur für dich erschaffen, damit du dir deine Zukunft so gestalten kannst, wie du willst. Ich wollte dich in Sicherheit wissen und dafür sorgen, dass es dir an nichts fehlt.«
Mein Kopf weiß, es handelt sich nicht um die Wahrheit. Mein Vater ist zu echter Liebe nicht fähig. Doch mein Herz saugt die Worte auf wie ein Schwamm. Das kleine Kind in mir wünscht sich nichts sehnlicher, als dass Dad mich so akzeptiert, wie ich bin. Seine Liebe ist das, was ich mir immer erhofft habe. Ich will ihm glauben, und gleichzeitig …
Das hier ist nur eine Illusion.
Mein Herz wird schmerzhaft zusammengepresst. Ich möchte Mum und Dad festhalten, sie bei mir behalten, doch sie sind beide tot. Dieser gestohlene Moment mit ihnen ist nicht echt.
Die Wände des Wohnzimmers fallen in sich zusammen. Sie zerbröseln und lösen sich auf. Ein Teil des Materials steigt in die Luft auf, während der Rest zu einem Haufen Staub zusammensinkt. Dahinter lauert ein dunkles Nichts. Die Schwärze schiebt sich auf uns zu. Sie erreicht meine Mutter, die durchscheinend wird und deren Beine plötzlich verschwinden. Die Unsichtbarkeit frisst sich höher.
»Nein! Verlass mich nicht.« Die Traurigkeit schnürt mir die Luft ab. »Bitte, Mama. Nur noch ein paar Augenblicke.«
»Ich liebe dich«, sagt Mum mit einem Lächeln auf dem Gesicht. Dann ist sie weg.
Tränen laufen über meine Wangen.
Die Hand meines Dads drückt meinen Arm fester. Auf ihn könnte ich gerne verzichten. Meine Mutter soll an meiner Seite bleiben.
»Ich liebe dich, Mum«, murmle ich ins Nichts.
»Wenn du willst, kann ich für dich da sein.« Die Stimme meines Vaters klingt verlockend. »Wähle die Dunkelheit. Dann werden wir für immer zusammenbleiben und gemeinsam die
Dark Ghosts befehligen.«
Einen Augenblick lang starre ich ihn nur an. Auch wenn ich mir wünschen würde, eine Gelegenheit zu einer Aussöhnung zu erhalten, kann ich nicht tun, was er verlangt. Obwohl ich ohne ihn niemanden mehr auf dieser Welt habe, kann ich nicht zu einem Teil seiner Organisation werden.
Langsam schüttle ich den Kopf und mache einen Schritt von ihm weg.
Der Gesichtsausdruck meines Vaters verändert sich. Hass erscheint in seinem Blick. Er verengt die Augen zu Schlitzen. »Verräterin«, zischt er, bevor er den Arm hebt und mit der Waffe, die er plötzlich in der Hand hält, auf mich zielt.
»Nein!« Nicht noch einmal dieser Moment.
Jemand schiebt sich an mir vorbei, drängt mich aus der Schusslinie. Dann erklingt ein Schuss. Unglauben zeigt sich auf den Zügen meines Vaters, bevor er zu Boden geht und im Fallen zu Staub wird.
»Nein!«, schreie ich noch einmal und versuche, zu ihm zu gelangen. Meine Welt verdunkelt sich und wird schließlich schwarz. Ich bin allein, so allein.
Abrupt setze ich mich auf. Ich bin nassgeschwitzt, während ich nach Luft ringe. Ich kenne diesen Traum. Auch wenn meine Mutter bislang nicht darin vorgekommen ist, besucht mich mein Vater regelmäßig. Immer wieder sehe ich ihn vor mir, wie er mich dazu überreden will, auf seine Seite zu wechseln. Die Schwingungen, die von ihm ausgehen, zwingen mich beinahe in die Knie. Ich fühle die Macht, die er über mich hat und setze mich verzweifelt dagegen zur Wehr. Ich tue alles, damit ich ihm nicht die Kontrolle überlasse. Ich stelle mich ihm entgegen.
In diesem Moment verändert sich der Ausdruck in den Augen meines Dads. Er zeigt mir seinen Hass offen. Von der Liebe, die er angeblich für mich empfindet, ist nichts mehr zu erkennen. Er verachtet mich dafür, nicht sein kleines Püppchen zu sein. Weil ich nicht so sein möchte, wie er mich gerne hätte, ist er bereit, mich zu verstoßen. Nein, er bedroht mich sogar. Das kann ich ihm nicht verzeihen.
Schluchzend rolle ich mich auf die Seite und drücke das Kissen näher an mich. Ich vermisse Jackson. Auch wenn das völlig verrückt ist. Auch wenn ich das, was er getan hat, schrecklich finde. Auch wenn sich zwischen uns etwas verändert hat, das ich niemals wieder reparieren kann. Er würde mich allerdings verstehen. Er ist der einzige, der nachvollziehen kann, was in mir vorgeht. Er war in dem Moment dabei, der alles für mich verändert hat.
Ich werde niemals jemanden kennenlernen, mit dem ich mich mehr verbunden fühle. Egal, welch schreckliche Bilder mich von diesem einen Tag verfolgen. Egal, wie weh es tut, dass ausgerechnet von ihm der Schuss kam, der meinen Vater getötet hat. Jackson wird für immer ein Teil von mir sein. In meinem Herzen trage ich ihn immer noch bei mir.