20. Kapitel
Jackson
Jede Nacht in meinem Träumen töte ich Hank Lavender. Sein Gesicht verfolgt mich, wenn ich meine Augen schließe und zur Ruhe kommen will. Ich sehe den Hass in seinem Blick, mit dem er Madison bedenkt. Ich verspüre die gleiche Angst wie damals, dass er ihr etwas antun könnte. Ich weiß, die Waffe in seiner Hand richtet sich direkt gegen seine Tochter. Dann tue ich das einzige, was mir möglich ist, um die Frau zu beschützen, die ich liebe.
Ich nehme mir nur den Bruchteil einer Sekunde, um zu zielen, und drücke ab. Einen Moment später geht Ares zu Boden. Madison schreit auf und meine Welt steht wieder einmal Kopf. Wie hat mein Leben nur so aus dem Ruder laufen können?
Als ich meine Augen aufreiße, bin ich schweißgebadet. Mein Herz rast, während ich meine Hände in das Leintuch unter mir kralle und mich selbst daran erinnere, dass es sich nur um einen Traum gehandelt hat, dass ich bereits vor Tagen zum Mörder geworden bin und die Tat nicht mehr ungeschehen machen kann.
Nach ein paar Minuten bin ich in der Lage aufzustehen, mich umzuziehen und mir ein Glas Wasser zu holen. Es ist kurz nach Mitternacht, aber ich weiß schon jetzt, dass ich bis zum Morgengrauen keinen Schlaf mehr finden werde. Heute ist der Traum besonders realistisch gewesen. Ich habe Madisons Hass körperlich fühlen können.
Seufzend lehne ich mich an den Kopfteil des Bettes in meiner Unterkunft und schalte den Fernseher an. Nichts als Unsinn läuft um diese Zeit. Ich möchte halbnackten Frauen nicht dabei zusehen, wie sie sich auf dem Bildschirm räkeln. Also bleibe ich an der Werbung für einen Staubsauger hängen, der wohl alles an Technik ist, was man braucht, wenn man ein Haus besitzt. Lediglich beim Kochen scheint das Ding zu versagen.
Was Madison wohl gerade macht? Sind ihre Nächte ruhig? Wird sie ebenfalls von Albträumen gequält? Frisst die Trauer sie innerlich auf? Wenn ich den Schuss bloß nicht abgegeben und mich stattdessen vor Madison gestellt hätte, um die Kugel abzufangen. Alles wäre besser als noch einmal die Kälte fühlen zu müssen, die nach dem Tod ihres Vaters von ihr ausgegangen ist. Jeder andere hätte ebenfalls ihren Hass auf sich gezogen, wenn er zum Mörder ihres Vaters geworden wäre. Doch ich bin alles gewesen, was sie aus ihrem alten Leben mitnehmen konnte. Sie hat mich geliebt. Mit meiner Tat habe ich ihr Vertrauen enttäuscht. Nein, ich habe vermutlich all ihre Hoffnungen zerstört. Kein Wunder, dass sie meinen Anblick nicht mehr erträgt. Ich habe ihre Liebe nicht verdient. Schließlich weiß ich nur zu genau, wer ich bin.
Meine Zeit beim Militär bereue ich nicht. Doch alles andere, was danach gefolgt ist, scheint mir nun eine Aneinanderreihung von Fehlentscheidungen. Ich hätte mich am Vergewaltiger meiner Schwester nicht rächen sollen. Dieser Tag hat etwas mit meiner Seele gemacht. Er hat mich für immer verändert. Die Dunkelheit hat sich in mir ausgebreitet und jeden Rest von Hoffnungen verschluckt, getötet.
Niemals hätte ich für Ares arbeiten dürfen. Ich habe gedacht, ich wäre ihm zu Dank verpflichtet. Ich bin der Meinung gewesen, meine Schuld ableisten zu müssen. Ich bin davon überzeugt gewesen, ich hätte keine andere Wahl. Doch das war ein Irrtum.
In dem Moment, in dem ich herausgefunden habe, wer dieser Mann wirklich ist und wozu er fähig ist, hätte ich mich von ihm abwenden sollen. Bei allem, was ich in seinem Auftrag getan habe, hat es sich um einen Fehler gehandelt. Jeder Tag, den ich ignoriert habe, was tatsächlich vor sich geht, hat mich tiefer in die Schwärze gezogen.
Selbst als Madison mich darauf aufmerksam gemacht hat, wollte ich nicht wahrhaben, wie tot ich innerlich bereits war. Ich habe mich gegen meine Gefühle für sie gewehrt. Das, was sie sich von mir gewünscht hat, habe ich erst mit Händen und Füßen von mir gewiesen. Es hat gedauert, bis sie mit ihrem Sturkopf und ihrem unverbesserlichen Optimismus zu mir durchgedrungen ist. Sie wollte sich nicht mit dem zufriedengeben, was ihr Vater ihr ermöglicht hat. Sie wollte sich gegen seine Machenschaften zur Wehr setzen. Sie wollte sein Imperium zerstören. Wieso habe ich nicht sofort reagiert? Warum habe ich sie nicht nach unserem ersten Kuss in einen Wagen gepackt und bin mit ihr auf und davon? Wie viel Schmerz hätte ich ihr dadurch ersparen können!
Diese Gelegenheit kommt nie wieder. Ich habe zu lange gezögert, habe mich zu lange gegen das Unvermeidliche gesträubt. Und jetzt ist sie nicht mehr bereit, mich anzuhören und diesen Albtraum, diese Qual für mein Herz, zu beenden.
Ich habe es nicht anders verdient. Nach dem Tod meiner Schwester hätte ich mir Zeit zum Trauern nehmen sollen. Ich hätte in Ruhe verarbeiten sollen, was mit ihr passiert ist. Mein Rachefeldzug war eine Überreaktion, die mich unwiderruflich verändert hat. Ich wünschte, ich könnte an diesen Punkt zurückkehren und noch einmal von vorne anfangen. Dann würde ich niemanden verletzen, kein Verbrechen begünstigen, Ares nicht töten.
Natürlich könnte ich dann auch Madison nicht beschützen.
Nicht einmal in ihre Nähe wäre ich gekommen, hätte nicht für Ares gearbeitet und wäre nicht von ihm damit beauftragt worden, mich um Madison zu kümmern. Wir wären uns niemals begegnet. Und selbst, wenn ich auf irgendeine verrückte Art von ihrer Existenz erfahren hätte, wäre es mir niemals gelungen, auch nur ein Wort mit ihr zu wechseln.
Bedeutet das, ich soll doch froh über die zweifelhaften Entscheidungen sein, die ich getroffen habe?
Bei meinen Gedankenexperimenten komme ich immer wieder an diesen Punkt. Ich drehe mich im Kreis und gelange zurück an den Ausgangspunkt. Alles, was ich getan habe, hat mich Schritt für Schritt zu Madison geführt. Ich musste auf den falschen Weg geraten, um ihr zu begegnen. Ein Teil meiner Seele musste sterben, damit ich sie finden konnte.
Doch das alles liegt jetzt hinter mir. Für sie will ich zu einem besseren Menschen werden. Der Tag, an dem wir Morris gerettet haben, kennzeichnet den Moment, in dem ich das erste Mal versucht habe, mich zu ändern. Ich habe mich für das Richtige entschieden. Zu einem winzigen Teil für Morris, zu einem kleineren für mich und zum Hauptteil für Madison. Das ist mir in diesem Augenblick klar gewesen. Inzwischen weiß ich, Gutes für mich selbst tun zu müssen. Ich sollte den Schmerz wiedergutmachen, den ich anderen bereitet habe. Das wird mir gelingen, egal ob Madison dabei an meiner Seite ist oder nicht. Denn wenn ich mir eine zweite Chance bei ihr verdienen will, muss ich an mir arbeiten. Ganz ohne ihre Hilfe.
Auf dem Bildschirm erscheint eine Frau mit braunem, langem Haar, die mich an Madison erinnert. Meine Augen verfolgen sie, wie sie mit dem dämlichen Staubsauger durch den Raum wirbelt.
Ob ich die echte Madison irgendwann wiedersehen werde? Ob sie mir die Gelegenheit zu einer Aussprache geben wird?
Meine Hoffnungen, aus ihr und mir könnte noch einmal ein Paar werden, sind gering. Wir haben nicht viel Zeit miteinander verbracht. Wir haben nur wenig voneinander erfahren. Wir haben niemals testen können, wie wir in der Realität fernab der Ranch miteinander zurechtkommen würden. Vermutlich sind die Gefühle, die sie für mich gehegt hat, inzwischen abgekühlt. Entstanden in einer Extremsituation, haben sie höchstwahrscheinlich der Prüfung durch das echte Leben und der Enttäuschung durch meinen Schuss auf ihren Vater nicht standgehalten.
Ich werde sie immer lieben. Sie hat mich berührt, wie noch keine andere Frau zuvor. Sie bedeutet mir so viel, weil sie in der Lage war, das Gute in mir zu sehen, für das ich jetzt kämpfen will.
Genau das ist es, was ich ihr zeigen will. Ich möchte ihr beweisen, dass ihr Glaube an mich berechtigt war. Sie soll nicht enttäuscht sein, weil sie denkt, sich in mir geirrt zu haben. Ob sie in der Lage ist, meine Veränderung wertzuschätzen, obwohl ich für den Tod ihres Vaters verantwortlich bin? Wird sie irgendwann erkennen, dass ich keine andere Wahl gehabt habe, um sie zu retten?
Zu gerne würde ich mich noch ein einziges Mal in Ruhe mit ihr unterhalten. Mir ist bewusst, im Moment wäre das zu viel von ihr verlangt. Vielleicht habe ich dennoch irgendwann die Möglichkeit, sie um ein Gespräch zu bitten.
Special Agent Foster weiß von meinem Plan, vor einer Entscheidung für eine endgültige Unterbringung ein Zusammentreffen zu veranlassen. Ich hoffe, Madison stimmt zu, damit ich ihr erklären kann, wie es in mir aussieht. Würde sie das nicht, wäre mein Leben niemals wieder so hell, wie in den wenigen glücklichen Stunden nach unserer Flucht.