Isaac Asimov
EINBRUCH DER NACHT
Kämen die Sterne in tausend Jahren nur eine einzige Nacht zum Vorschein, wie würden die Menschen glauben und schwärmen, und über viele Generationen das Andenken an die Stadt Gottes bewahren?
Ralph Waldo Emerson
Wutentbrannt starrte Aton 77, Direktor der Saro-Universität, den jungen Mann von der Zeitung an. Seine geschürzten Lippen zitterten vor Zorn.
Theremon 762 nahm es gelassen. »Unmögliche« Interviews waren seine Spezialität; schon als blutiger Anfänger hatte er sich damit einen Namen gemacht, noch bevor sich seine vagen Ideen zu einer weit verbreiteten Kolumne gemausert hatten. Während der journalistischen Lehrjahre hatte er gehörig einstecken müssen, doch sie hatten ihm auch ein dickes Fell und eine gehörige Portion Selbstvertrauen verschafft.
Er ließ seine ausgestreckte Hand, die der andere so demonstrativ ignoriert hatte, einfach sinken und wartete in aller Ruhe ab, bis der alte Direktor sich einigermaßen beruhigt hatte. Astronomen waren oft schräge Vögel, und nach dem, was dieser Aton in den letzten zwei Monaten losgetreten hatte, handelte es sich bei ihm wohl um ein ganz ausgesuchtes Exemplar.
Schließlich fand Aton 77 seine Stimme wieder, und auch wenn sie aufgrund der nur mühsam beherrschten Gefühle noch leicht zitterte, ließ ihn seine gewählte, leicht pedantische Ausdrucksweise nicht im Stich.
»Sir«, hob er an, »mich mit einem derart impertinenten Vorschlag zu belästigen, stellt eine bislang unerreichte Dreistigkeit dar.«
Beenay 25, der breitschultrige Telephotograph des Observatoriums, fuhr sich mit der Zunge über die trockenen Lippen und warf nervös ein: »Bitte Sir, immerhin ...«
Mit erhobener Augenbraue wandte der Direktor sich zu ihm um. »Halten Sie sich da raus, Beenay. Sie mögen diesen Mann hier in guter Absicht hergebracht haben, aber ich verbitte mir in dieser Angelegenheit jeglichen Ungehorsam.«
Es war Zeit sich einzumischen, fand Theremon. »Direktor Aton, wenn Sie mich nur ausreden ließen ...«
»Ich glaube nicht, junger Mann, dass Sie nach dem, was Sie mit ihren täglichen Kolumnen während der letzten zwei Monate angerichtet haben, hier noch irgend etwas vorbringen können. Sie haben eine gewaltige Hetzkampagne gegen mich und meine Kollegen angeführt und unsere Versuche torpediert, die Welt gegen eine Bedrohung zu vereinen, die abzuwehren es nun zu spät ist. Sie haben wahrlich ganze Arbeit geleistet – nicht nur mich persönlich haben Sie angegriffen, sondern auch sämtliche Mitarbeiter dieses Observatoriums dem Gespött preisgegeben.«
Der Direktor nahm eine Ausgabe des Chronicle aus Saro-Stadt vom Tisch und fuchtelte damit drohend in der Luft, während er Theremon weiter anblitzte. »Sogar von Ihnen, der Sie für Ihre Unverschämtheiten bekannt sind, hätte ich mehr Anstand erwartet, als dass Sie mich jetzt auch noch bitten, hier heute Abend mit dabei sein zu dürfen. Von allen Reportern ausgerechnet Sie!«
Aton schleuderte die Zeitung zu Boden, stapfte zum Fenster und verschränkte die Arme hinter dem Rücken.
»Sie können gehen«, fauchte er Theremon über die Schulter hinweg an. Mit düsterem Blick starrte er auf die Skyline, hinter der Gamma, die hellste der sechs Sonnen des Planeten, gerade verschwand. Ihr Licht wurde schon schwächer und drang nur als gelber Schimmer durch die Schleier am Horizont. Niemals mehr würde er Gamma wiedersehen, das wusste Aton – nicht, so lange er noch bei Verstand war. Unvermittelt dreht er sich um. »Nein, warten Sie. Kommen Sie her!« Mit herrischer Geste winkte er Theremon zurück. »Sie bekommen Ihre Story.«
Der Reporter hatte noch gar keine Anstalten gemacht zu gehen und kam nun langsam auf den alten Mann zu. Aton deutete nach draußen. »Von den sechs Sonnen steht jetzt nur noch Beta am Himmel. Sehen Sie das?«
Die Frage bedurfte keiner Antwort. Beta stand nahezu im Zenit, und nun, da das Licht der untergehenden Gamma erloschen war, tauchten ihre rötlichen Strahlen die Landschaft in ein ungewohntes Orange. Beta durchlief gerade den Apher, daher wirkte die Sonne klein, kleiner als es Theremon je zuvor erlebt hatte, doch im Moment war sie der unbestrittene Herrscher an Lagashs Himmel.
Lagashs eigene Sonne Alpha, um die der Planet kreiste, befand sich gerade verdeckt auf der gegenüberliegenden Seite des heimatlichen Planeten, genau wie das weiter entfernte Doppelgestirn. Der rote Zwerg Beta, Alphas unmittelbarer Begleiter, stand mutterseelenallein am Himmel.
Atons himmelwärts gekehrtes Gesicht glänzte rötlich in den verbliebenen Sonnenstrahlen. »In weniger als vier Stunden endet die Zivilisation, wie wir sie kennen. Und zwar, weil Beta die einzige Sonne am Himmel ist, wie sie selbst sehen können.« Er lächelte grimmig. »Drucken Sie das! Es wird nur niemand mehr da sein, es zu lesen.«
»Aber wenn sich herausstellt, dass in vier Stunden gar nichts passiert? Und auch nicht nach weiteren vier Stunden?«, fragte Theremon leise.
»Darum machen Sie sich mal keine Sorgen. Es wird genug passieren.«
»In Ordnung. Und trotzdem – was, wenn nichts passiert?«
Zum zweiten Mal mischte sich Beenay 25 ein. »Sir, ich finde, Sie sollten sich anhören, was er zu sagen hat.«
»Lassen Sie Ihre Leute abstimmen, Direktor Aton«, schlug Theremon vor.
Ein Raunen ging durch das Grüppchen der fünf anwesenden Observatoriumsmitarbeiter, die sich bislang bedeckt gehalten hatten.
»Das wird nicht nötig sein«, beschied Aton mit knapper Stimme. »Da Ihr guter Freund Beenay nun einmal so sehr darauf besteht, gebe ich Ihnen fünf Minuten. Sprechen Sie.«
»Gut! Also, welchen Unterschied würde es machen, wenn ich Zeuge bei all dem sein dürfte, was hier geschieht? Falls sich Ihre Vorhersage bewahrheitet, ist meine Anwesenheit kein Schaden, denn in diesem Fall wird meine Kolumne nie geschrieben werden. Falls sich die Sache aber als falscher Alarm herausstellt, haben Sie herben Spott oder auch Schlimmeres zu erwarten. Es wäre klug, diesen Spott jemandem zu überlassen, der Ihnen wohlgesonnen ist.«
Aton schnaubte verächtlich. »Und Sie wollen behaupten, Sie wären so jemand?«
»Aber sicher!« Theremon setzte sich und schlug die Beine übereinander.
»Meine Kolumnen waren vielleicht nicht immer nett, aber zumindest habe ich Ihre Argumente ernst genommen. Immerhin leben wir nicht gerade in einem Jahrhundert, in dem Predigten vom Weltuntergang noch gut ankommen. Die Menschen von Lagash glauben nun mal nicht mehr an das Buch der Offenbarungen, und es ärgert sie gewaltig, dass die Wissenschaftler plötzlich eine Kehrtwende machen und uns erzählen, die Kultisten hätten doch recht gehabt, nach allem …«
»Davon kann keine Rede sein, junger Mann«, unterbrach ihn Aton. »Auch wenn wir den Kultisten viele Daten verdanken, haben unsere Ergebnisse nichts mit deren Mystizismus zu tun. Tatsachen bleiben nun mal Tatsachen, und der sogenannten Mythologie des Kults liegen tatsächlich gewisse Fakten zugrunde. Die haben wir zutage befördert und sie ihres Mystizismus entkleidet, und glauben Sie mir, der Kult hasst uns mehr als Sie.«
»Ich hasse Sie doch gar nicht. Ich versuche nur, Ihnen klarzumachen, dass die Öffentlichkeit aufgebracht ist. Die Leute sind wirklich ganz schön sauer.«
Aton verzog spöttisch das Gesicht. »Und wenn schon.«
»Ja, aber was wird morgen passieren?«
»Es wird kein morgen geben!«
»Aber wenn doch. Gehen wir doch einmal davon aus, nur um zu überlegen, was dann passieren würde. Diese ganze Wut könnte ernsthaft überkochen. Sie wissen ja bestimmt selbst, in was für einer Wirtschaftkrise wir stecken. Die Investoren glauben nicht wirklich an den Weltuntergang, rücken aber trotzdem kein Geld heraus, bevor alles vorbei ist. Lieschen Müller glaubt Ihnen auch nicht, aber die neue Couchgarnitur kann trotzdem noch ein bisschen warten, nur um sicherzugehen. Sie verstehen bestimmt, was ich meine. Sobald das alles vorbei ist, werden die Geschäftsleute Ihr Blut sehen wollen. Sie werden sagen, dass es dann, wenn ein paar Schwachköpfe – ich bitte um Verzeihung – nach eigenem Gutdünken mit ein paar absurden Behauptungen eine Wirtschaftskrise auslösen können, die Aufgabe des gesamten Planeten sei, etwas Derartiges künftig zu verhindern. Die Funken werden überspringen, Sir.«
Der Direktor sah den Kolumnisten mit ernster Miene an. »Und was war Ihr Vorschlag? Wie können Sie daran etwas ändern?«
»Nun ...« Theremon grinste. »... ich schlage vor, dass ich mich um die öffentliche Meinung kümmere. Ich kann dafür sorgen, dass man Sie einfach nur auslachen wird. Das wäre auch schon hart, das gebe ich zu, denn ich müsste Sie alle als einen Haufen Idioten darstellen, aber wenn ich die Sache ins Lächerliche ziehen kann, werden die Leute vielleicht ihren Ärger vergessen. Und alles, was meine Herausgeber als Gegenleistung dafür erwarten, ist eine exklusive Story.«
Beenay hatte mit einem Nicken zugehört. »Sir, wir anderen sind der Meinung, dass er recht hat«, platzte er heraus. »In den letzten beiden Monaten haben wir alles in Betracht gezogen, nur nicht die Eins-zu-einer-Million-Chance, dass etwas an unserer Theorie oder unseren Berechnungen fehlerhaft ist. Wir sollten auch dafür Vorsorge treffen.«
Unter den Männern, die um den Tisch herum saßen, erhob sich zustimmendes Gemurmel. Atons Miene glich der eines Mannes, der plötzlich etwas Bitteres im Mund hat, es aber nicht ausspucken kann.
»Dann bleiben Sie von mir aus. Unter der Bedingung, dass sie uns in keinster Weise bei unseren Pflichten in die Quere kommen. Und ich darf Sie auch daran erinnern, das ich bei allem hier die Leitung innehabe, und ich erwarte Ihre uneingeschränkte Kooperation und Ihren vollen Respekt, ungeachtet der Ansichten, die Sie in Ihrer Kolumne dargelegt …«
Die Hände hielt er noch immer hinter dem Rücken, und das von zahlreichen Falten durchzogene Gesicht reckte er beim Sprechen energisch nach vorne. Vielleicht hätte er in seiner Rede niemals ein Ende gefunden, hätte ihn nicht eine neue Stimme unterbrochen.
»Hallihallo«, tönte es in hohem Tenor, und das rundliche Gesicht des Neuankömmlings weitete sich zu einem freundlichen Lächeln. »Was soll diese Grabesstimmung? Wir werden doch jetzt nicht die Nerven verlieren?«
Aton fuhr überrascht zusammen. »Was in aller Welt tun Sie hier, Sheerin?«, fragte er verdrießlich. »Ich dachte, Sie hätten sich in die Zuflucht begeben?«
Sheerin lachte und ließ seinen untersetzten Leib in einen Stuhl plumpsen. »Zum Kuckuck mit der Zuflucht. So ein öder Ort. Ich wollte lieber hier sein, wo die Post abgeht. Bin schließlich auch nur ein Mensch, und zwar ein Mensch, den die Neugierde plagt: Ich möchte diese Sterne sehen, von denen die Kultisten schon so lange reden.« Er rieb sich die Hände und fuhr dann in etwas ernsthafterem Tonfall fort: »Es ist eiskalt da draußen. Der Wind ist so schlimm, dass einem Eiszapfen an der Nase wachsen. Aus dieser Entfernung scheint Beta überhaupt nicht mehr zu wärmen.«
Der weißhaarige Direktor biss in einem Anfall von Verzweiflung die Zähne zusammen. »Was sollen diese Mätzchen, Sheerin? Wozu wollen Sie hier gut sein?«
»Wozu bin ich dort gut?« Sheerin breitete in scherzhafter Resignation die Hände aus. »Ein Psychologe ist in der Zuflucht keinen Pfifferling wert. Die brauchen Männer der Tat, außerdem starke, gesunde Frauen, die Kinder gebären können. Und ich? Ich bin fünfzig Kilos zu schwer für Heldentaten, und fürs Kinderkriegen hab ich auch keine große Begabung. Warum sollte ich denen also ein zusätzliches Maul aufbürden, das sie stopfen müssen? Da bin ich doch lieber hier bei Ihnen.«
»Sir, was hat es mit dieser Zuflucht auf sich?«, schaltete sich Theremon unvermittelt ein.
Sheerin schien den Kolumnisten zum ersten Mal wahrzunehmen. Er runzelte die Stirn und blies die Luft aus seinen üppigen Wangen. »Und wer, in Lagashs Namen, sind Sie, Herr Rotschopf?«
»Das ist Theremon 762«, brachte Aton zwischen zusammengepressten Lippe hervor. »Der Kerl von der Zeitung. Ich nehme an, sie haben von ihm gehört.«
Der Kolumnist streckte die Hand aus. »Und Sie sind natürlich Sheerin 501 von der Saro-Universität. Ihr Name ist mir bekannt.« Dann wiederholte er: »Worum geht es bei der Zuflucht?«
»Nun«, antwortete Sheerin, »wir haben ein paar Leute von unserer Prophezeiung überzeugt – dass uns die, äh, Verdammnis bevorsteht, wenn man es dramatisch ausdrücken will, und diese wenigen Menschen haben nun Vorkehrungen getroffen. In erster Linie handelt es sich um die Familien der Observatoriumsmitarbeiter, ein paar Fakultätsangehörige der Universität und noch ein paar Außenstehende. Alle zusammen ungefähr dreihundert Menschen, dreiviertel davon sind Frauen und Kinder.«
»Ich verstehe! Sie sollen sich vor der großen Dunkelheit und den, äh, Sternen verstecken und dann dort ausharren, wenn der Rest der Welt sich verabschiedet.«
»Falls ihnen das gelingt. Leicht wird es nicht werden. Wenn die gesamte Menschheit wahnsinnig geworden ist und die großen Städte in Flammen aufgehen, dann haben wir hier ziemlich lebensfeindliche Bedingungen. Aber sie besitzen Essensvorräte, Wasser, Unterkünfte, Waffen …«
»Sie haben mehr«, sagte Aton. »Sie verfügen über alle unsere Aufzeichnungen, mit Ausnahme der des heutigen Tages. Um diese Aufzeichnungen geht es in Wahrheit, das ist es, was für den nächsten Zyklus überdauern muss. Der Rest kann zum Teufel gehen.«
Theremon stieß einen langen, leisen Pfiff aus und saß dann eine Weile gedankenversunken da. Die Männer um den Tisch hatten inzwischen ein Multischachbrett herausgeholt und eine Partie mit sechs Spielern begonnen. Rasch und schweigend führten sie ihre Züge aus. Alle Augen waren in trotziger Konzentration auf das Spielbrett gerichtet. Theremon schaute eine Weile gebannt zu, dann erhob er sich und ging zu Aton hinüber, der etwas abseits saß und sich leise mit Sheerin unterhielt.
»Hören Sie«, begann er, »lassen Sie uns irgendwo anders hingehen, wo wir Ihre Kollegen nicht stören. Ich würde Ihnen gerne ein paar Fragen stellen.«
Der alte Astronom blickte säuerlich drein, doch Sheerins Miene hellte sich auf. »Aber gerne. Ein Gespräch wird mir guttun, das tut es immer. Aton hat mir erzählt, wie die Öffentlichkeit Ihrer Meinung nach reagieren wird, wenn die Vorhersagen sich als falsch erweisen, und ich stimme Ihnen zu. Ich lese übrigens Ihre Kolumne ziemlich regelmäßig, und im Allgemeinen gefallen mir Ihre Ansichten.«
»Sheerin, ich bitte Sie«, knurrte Aton.
»Wie? Äh, nun gut. Gehen wir nach nebenan. Dort sind die Stühle auch bequemer.«
Im Nebenraum gab es nicht nur bequemere Stühle, sondern auch dicke rote Vorhänge an den Fenstern und einen bordeauxfarbenen Teppich. In Betas orangefarbenem Licht erinnerte das Interieur an geronnenes Blut.
Theremon fröstelte. »Ich würde zehn Credits dafür geben, wenigstens für einen Augenblick etwas weißes Licht zu haben. Ich wünschte, Gamma oder Delta ließen sich am Himmel blicken.«
»Wie lauten Ihre Fragen?«, wollte Aton wissen. »Bitte denken Sie daran, dass unsere Zeit begrenzt ist. In wenig mehr als ein und einer Viertelstunde gehen wir in das obere Stockwerk, und dann wird es keine Zeit mehr für Unterhaltungen geben.«
»Nun, also.« Theremon lehnte sich zurück und faltete die Hände auf seiner Brust. »Ihnen allen hier scheint es mit dieser Sache so furchtbar ernst zu sein, dass ich schon anfange, Ihnen Glauben zu schenken. Würden Sie mir vielleicht erklären, was genau los ist?
Aton explodierte. »Wie bitte? Sie sitzen hier und wollen mir erzählen, dass Sie uns die ganze Zeit mit ihrem Hohn überschüttet haben, ohne eine Ahnung davon zu haben, was wir zu sagen versuchen?
Der Kolumnist lächelte verlegen. »Ganz so schlimm ist es nicht, Sir. Im Groben weiß ich, worum es Ihnen geht. Sie behaupten, dass in ein paar Stunden eine weltweite Dunkelheit hereinbrechen und die gesamte Menschheit dann vollkommen wahnsinnig werden wird. Aber nun möchte ich auch etwas über die wissenschaftlichen Hintergründe hören.«
»Nein, das wollen Sie nicht, glauben Sie mir«, unterbrach ihn Sheerin. »Wenn Sie Aton danach fragen, würde er – einmal angenommen, er wäre in der Stimmung, Ihnen alles zu erklären – seitenweise Zahlen anführen und Ihnen ganze Bände voller wissenschaftlicher Abbildungen unter die Nase halten. Und Sie hätten keinen Schimmer, wovon er da eigentlich spricht. Fragen Sie hingegen mich, könnte ich es Ihnen als Laie erklären.«
»Also gut, ich frage Sie.«
»Dann brauch ich erst einen Drink.« Er rieb sich die Hände und blickte Aton an.
»Wasser?«, knurrte Aton.
»Seien Sie nicht albern!«
»Seien Sie nicht albern. Kein Alkohol heute. Es wäre nur zu leicht, meine Leute betrunken zu machen. Ich kann es mir nicht leisten, sie in Versuchung zu führen.«
Unter wortlosem Grummeln wandte sich der Psychologe wieder Theremon zu, musterte ihn mit scharfem Blick und begann.
»Ihnen ist sicherlich bekannt, dass die Geschichte von Lagashs Kulturen und Völkern zyklisch verlaufen ist – und ich meine im wahrsten Sinn des Wortes zyklisch.«
»Ich weiß, dass so die derzeitige Theorie der Archäologen lautet«, antwortete Theremon vorsichtig. »Ist das wirklich schon bewiesen?«
»Inzwischen schon, diese Vorstellung hat sich in diesem Jahrhundert allmählich durchgesetzt. Dieser zyklische Verlauf ist – oder eher, war – eines der großen Rätsel der Menschheit. Wir konnten eine ganze Reihe von Kulturen identifizieren, neun davon gab es mit Sicherheit, und wir haben Hinweise auf weitere. All diese Kulturen haben ein Niveau erreicht, das sich mit dem unseren vergleichen lässt, und alle wurden sie ausnahmslos durch Feuer zerstört, gerade, als sie sich auf ihrem Höhepunkt befanden. Und niemand weiß, warum. Alle kulturellen Hochburgen wurden vollständig vom Feuer ausgelöscht, es blieb nichts übrig, was einen Hinweis auf die Ursache geben könnte.«
Theremon hatte gespannt zugehört. »Hat es nicht auch eine Steinzeit gegeben?«
»Wahrscheinlich, aber darüber ist so gut wie nichts bekannt, außer dass die Menschen zu dieser Zeit nicht viel mehr als intelligente Affen waren. Das braucht uns nicht zu kümmern.«
»Ich verstehe. Fahren Sie fort!«
»Für diese wiederkehrenden Katastrophen hat es jede Menge Erklärungsversuchen gegeben, in der Regel irgendwelche Phantastereien. Manche fabulieren etwas von einem wiederkehrenden Feuerregen; andere meinen, Lagash durchquere in regelmäßigen Abständen eine Sonne, und es gibt sogar noch verrückteres Zeug. Eine Theorie aber hebt sich deutlich von den anderen ab, und die wird schon seit Jahrhunderten überliefert.«
»Ich weiß. Sie sprechen vom Mythos der ›Sterne‹ aus dem Buch der Offenbarungen, an den die Kultisten glauben.«
»Ganz genau«, bestätigte ihm Sheerin. »Die Kultisten sagen, dass Lagash alle zweieinhalb Jahrtausende in eine riesige Höhle gerate, die Sonnen sämtlich verschwänden und dass jedes Mal eine vollkommene Finsternis über die Welt hereingebrochen sei. Dann, sagen Sie, sei etwas erschienen, was sie Sterne nennen, und diese hätten die Menschen ihrer Seelen beraubt und sie als Unmenschen zurückgelassen, die ohne jeden Sinn und Verstand ihre eigene Zivilisation zerstört hätten. Natürlich wird das Ganze mit jeder Menge religiöser und mystischer Vorstellungen verbrämt, aber im Kern lautet die Geschichte so.«
Es entstand eine kurze Pause, während Sheerin tief durchatmete. »Und nun kommen wir zur Allgemeinen Gravitationstheorie.« Er sprach die beiden Worte mit deutlicher Betonung aus; im selben Moment wandte sich Aton mit einem kurzem Schnauben vom Fenster ab und stapfte aus dem Raum.
Die beiden starrten ihm hinterher. »Was ist los?«, fragte Theremon.
»Nichts Besonderes«, erwiderte Sheerin. »Zwei von seinen Leuten hätten schon vor Stunden hier sein sollen, sind aber nicht aufgetaucht. Das Personal ist natürlich äußerst knapp, denn alle wirklich wichtigen Männer sind in der Zuflucht.«
»Sie glauben doch nicht, dass die beiden abtrünnig geworden sind, oder?«
»Wer, Faro, und Yimot? Bestimmt nicht. Aber wenn sie nicht binnen einer Stunde zurück sind, könnte es brenzlig werden.« Plötzlich stand er auf, und in seine Augen trat ein Funkeln. »Immerhin, solange Aton nicht hier ist …«
Auf Zehenspitzen schlich er zum nächsten Fenster, ging in die Hocke und zog aus dem darunter aufgehängten Blumenkasten eine Flasche mit einer roten Flüssigkeit, in der es, als er sie schüttelte, vielversprechend gluckerte.
»Dachte ich mir doch, dass Aton hiervon nichts weiß«, frohlockte er, als er zum Tisch zurückkehrte. »Hier, bitte sehr! Wir haben nur ein Glas, das natürlich Sie als Gast bekommen. Ich nehme die Flasche.«
Andächtig füllte er den winzigen Becher. Theremon wollte schon protestieren, doch Sheerin warf ihm einen strengen Blick zu. »Keine Widerrede, junger Mann.«
Mit leicht verzweifelter Miene ließ sich der Reporter nieder. »Dann machen Sie schon, Sie alter Halunke.«
Der Adamsapfel des Psychologen hüpfte, als er mit zurückgelehntem Kopf die Flasche ansetzte, auf und ab. Mit einem Schnalzen und einem befriedigten Seufzen hob er dann von Neuem an zu sprechen. »Was wissen Sie vom Konzept der Gravitation?«
»Nichts, außer dass es sich um eine neue Theorie handelt, die noch nicht ganz anerkannt ist und deren Mathematik derart kompliziert ist, dass höchstens zwölf Männer auf Lagash sie verstehen.«
»Ach was, Unsinn! Schmarren! Ich kann Ihnen die nötige Mathematik in einem Satz erklären. Das Gesetz der Allgemeinen Gravitation besagt, dass alle Körper im Universum sich gegenseitig anziehen und dass die Kraft, mit der sich zwei Körper anziehen, proportional zum Produkt ihrer Masse ist, geteilt durch die Quadratwurzel der Entfernung zwischen ihnen.«
»Ist das alles?«
»Das ist eine ganze Menge. Es hat vierhundert Jahre gedauert, um diese Theorie zu entwickeln.«
»Warum so lange? So, wie Sie es ausdrücken, hört es sich ganz simpel an.«
»Weil sich die Naturgesetze uns nicht in einem Blitz der Inspiration offenbaren, was immer Sie auch denken mögen. Typischerweise bedarf es dafür der gemeinsamen Arbeit einer ganzen Welt voller Wissenschaftler, und das über Jahrhunderte. Seit Genovi 41 herausgefunden hat, dass Lagash um Alpha kreist und nicht umgekehrt, haben die Astronomen unermüdlich geforscht und geschuftet, inzwischen seit vierhundert Jahren. Sie haben die komplizierten Bewegungen von sechs Sonnen festgehalten, sie auseinandergenommen und analysiert. Immer wieder wurden Theorien aufgestellt, überprüft und noch mal überprüft, modifiziert, verworfen, wieder neu entdeckt und zu etwas anderem weiterentwickelt. Es war eine höllische Arbeit.«
Theremon nickte nachdenklich und hielt sein Glas für Nachschub hin. Mit sichtlichem Widerwillen trennte sich Sheerin von ein paar roten Tropfen.
»Vor zwanzig Jahren«, fuhr er fort, nachdem auch er sich die Kehle noch einmal befeuchtet hatte, »wurde schließlich endgültig bewiesen, dass das Gesetz der Allgemeinen Gravitation die Bahnen der sechs Sonnen exakt erklären kann. Es war ein Triumph sondergleichen.«
Sheerin stand auf und ging durch den Raum, die Flasche noch immer in der Hand. »Und jetzt kommen wir zum entscheidenden Punkt. Während der letzten zehn Jahre wurden die Bewegungen von Lagash um Alpha entsprechend dem Gravitationsgesetz errechnet, aber die Berechnungen stimmten nicht mit den Beobachtungen überein; auch nicht, als man den Einfluss der anderen Sonnen in die Berechnungen miteinbezog. Entweder war das Gesetz falsch, oder es gab noch einen anderen, bislang unbekannten Faktor.«
Theremon gesellte sich zu Sheerin und blickte aus dem Fenster, auf die Turmspitzen von Saro-Stadt, die jenseits der bewaldeten Hügel blutrot am Horizont schimmerten. Dem Reporter war allmählich recht mulmig geworden; nervös blickte er zu Beta empor. Die zwergenhafte Sonne glühte rot und bösartig hoch am Himmel.
»Sprechen Sie weiter, Sir«, sagte er leise.
»Die Astronomen haben sich über Jahre hinweg abgemüht«, erwiderte Sheerin, »brachten eine haltlose Theorie nach der anderen hervor – bis Aton plötzlich eine Eingebung hatte und sich an den Kult wandte. Dessen Anführer, Sor 5, hatte Zugang zu gewissen Daten, die das Problem erheblich vereinfachten. Aton entwickelte einen neuen Denkansatz und machte sich an die Arbeit.
Was, wenn es neben Lagash noch einen weiteren nichtleuchtenden Himmelskörper gäbe? Sie müssen wissen: Würde ein solcher Körper existieren, könnte man ihn höchstens durch das Licht sehen, das er reflektiert. Und wenn er wie Lagash aus überwiegend blauem Gestein bestünde, dann wäre er an unserem roten Himmel unsichtbar – die Sonnenstrahlen würde ihn vollständig überdecken.«
Theremon stieß einen Pfiff aus. »Das ist ja eine verrückte Idee!«
»Sie halten das für verrückt? Dann stellen Sie sich einmal das Folgende vor: Nehmen Sie an, dieser Himmelskörper würde Lagash in exakt der Entfernung umkreisen, mit genau der Masse und auf der Umlaufbahn, damit sein Einfluss die Abweichungen von der Theorie erklären könnte – wissen Sie, was dann passieren würde?«
Der Kolumnist schüttelte den Kopf.
»Nun, manchmal würde dieser Körper zwischen uns und eine Sonne geraten.« Sheerin leerte die Flasche in einem letzten Zug.
»Und das tut er auch, nehme ich an«, sagte Theremon matt.
»Ja! Aber es gibt nur eine Sonne, die mit seiner Umlaufbahn auf einer Ebene liegt.« Er deutete mit dem Daumen auf die geschrumpfte Sonne über ihnen. »Beta! Und wie sich herausgestellt hat, gerät dieser Himmelskörper ihr nur bei einer einzigen Konstellation in den Weg – wenn sich Beta allein auf ihrer Hemisphäre und im Apher, also in größtmöglicher Entfernung befindet, und zu diesem Zeitpunkt wiederum hat sich der Mond auf eine minimale Distanz angenähert. Der scheinbare Durchmesser des Mondes beträgt dann das Siebenfache von Beta, und die Verfinsterung, die dabei entsteht, betrifft ganz Lagash und dauert weit länger als einen halben Tag an, sodass kein Fleck auf dem Planeten ihren Auswirkungen entgeht. Eine solche Sonnenfinsternis ereignet sich alle zweitausendundneununvierzig Jahre.«
Theremons Gesicht war nur noch eine ausdruckslose Maske. »Und das ist meine Story?«
Der Psychologe nickte. »Das ist alles. Zuerst schiebt sich der Mond vor die Sonne – das wird in einer dreiviertel Stunde beginnen –, dann kommt die völlige Finsternis und, vielleicht, diese geheimnisvollen Sterne, dann der Wahnsinn und das Ende des Zyklus.« Mit finsterer Miene starrte er vor sich hin. »Wir hier am Observatorium hatten zwei Monate Vorwarnzeit, und das hat nicht ausgereicht, um Lagash die Gefahr begreiflich zu machen. Vielleicht wären auch zwei Jahrhunderte nicht genug gewesen. Aber unsere Aufzeichnungen befinden sich in der Zuflucht, und heute werden wir die Sonnenfinsternis fotografieren. Der nächste Zyklus wird gleich von Anfang an mit der Wahrheit beginnen, und bei der nächsten Sonnenfinsternis wird die Menschheit wenigstens vorbereitet sein. Wenn ich darüber nachdenke – auch das ist ein Teil Ihrer Story.«
Ein leichter Wind bewegte die Vorhänge, als Theremon das Fenster öffnete und sich hinauslehnte, und fuhr ihm kalt durch die Haare. Er starrte auf seine Hand, die im Licht der Sonne purpurrot erschien.
In einem Anfall trotziger Auflehnung drehte er sich um. »Was soll schon dran sein an der Dunkelheit, dass ich davon wahnsinnig werden könnte?«
Sheerin lächelte in sich hinein, während er geistesabwesend die leere Schnapsflasche in seinen Händen drehte. »Junger Mann, haben sie jemals eine vollkommene Finsternis erlebt?«
Der Reporter stand gegen die Wand gelehnt da und überlegte. »Nein, kann ich nicht behaupten. Ich weiß, was das ist. Etwas wie … mhm …« Er machte eine vage Geste, dann erhellte sich seine Miene. »Es gibt einfach kein Licht. Wie in einer Höhle.«
»Sind Sie jemals in einer Höhle gewesen?«
»In einer Höhle? Nein, natürlich nicht!«
»Das dachte ich mir. Ich habe es letzte Woche einmal ausprobiert, nur aus Neugier. Ich bin so weit reingegangen, bis der Eingang nur noch als ein verschwommener Lichtfleck zu sehen war, überall sonst war es schwarz. Ich hätte nie gedacht, das ein Mensch mit meinem Gewicht so schnell rennen kann.«
Theremons Lippen kräuselten sich. »Also, ich glaube nicht, dass ich an Ihrer Stelle gerannt wäre.«
Der Psychologe runzelte irritiert die Stirn und musterte den jungen Mann eindringlich. »Sie nehmen den Mund aber voll. Trauen Sie sich doch mal, und ziehen Sie den Vorgang zu.«
Theremon sah überrascht aus. »Wozu sollte ich? Wenn da draußen vier oder fünf Sonnen am Himmel stünden, wäre ein bisschen Abdunkelung vielleicht ganz nett, aber wir haben doch so schon nicht genug Licht.«
»Darum geht es ja. Ziehen Sie einfach die Vorhänge zu, und dann kommen Sie hierher und setzten Sie sich.«
»Also gut.« Theremon griff nach der Schnur mit der Quaste daran und zog. Der rote Vorgang glitt vor das große Fenster; leise schrappten die Messingringe über die Vorhangstange, und ein dunkler, tiefroter Schatten legte sich über den Raum.
Theremons Schritte klangen hohl in der Stille; er ging auf den Tisch zu, hielt aber dann auf halbem Weg an. »Sir, ich kann Sie nicht sehen«, flüsterte er.
»Tasten Sie sich weiter«, befahl ihm Sheerin mit gepresster Stimme.
»Aber Sir, ich kann Sie nicht sehen.« Der Atem des Reporters ging inzwischen schwer. »Ich kann gar nichts sehen.«
»Was haben Sie denn erwarten?«, kam die grimmige Antwort. »Kommen Sie her und setzen Sie sich!«
Wieder hörte man Schritte, zögernd, die langsam näher kamen. Dann das Geräusch von jemand, der einen Stuhl zurechtrückt. »Hier bin ich. Alles … puh ... bestens.« Theremons Stimme klang dünn.
»Es gefällt Ihnen doch, oder?«
»N…nein. Es ist ziemlich unangenehm. Die Wände scheinen …« Er hielt inne. »Es ist, als ob die Wände immer näher kommen. Am liebsten würde ich sie die ganze Zeit von mir wegdrücken. Aber ich werde nicht wahnsinnig! Eigentlich fühlt es sich jetzt schon nicht mehr so schlimm an.«
»In Ordnung. Ziehen Sie die Vorhänge wieder auf.«
Wieder erklangen vorsichtige Schritte in der Dunkelheit, ein Rascheln des Vorhangs, als Theremon nach der Quaste tastete, und dann das triumphierende Wusch, als der Vorhang zur Seite glitt. Rotes Licht strömte in den Raum, und mit einem leisen Freudenschrei blickte Theremon zur Sonne empor.
Sheerin wischte sich mit der Rückseite einer Hand den Schweiß von der Stirn und sagte mit zittriger Stimme: »Und das war nur ein dunkler Raum.«
»Ist auszuhalten«, erwiderte Theremon leichthin.
»Ja, ein dunkles Zimmer schon. Aber waren Sie vor zwei Jahren bei der Hundertjahresausstellung von Jonglor?«
»Nein, das hat sich nicht ergeben. Eine Reise von zehntausend Kilometern war dann doch etwas viel, selbst für diese Ausstellung.«
»Nun, ich war dort. Haben Sie vom ›Tunnel der Mysterien‹ gehört, der im Freizeitpark alle Rekorde gebrochen hat – jedenfalls während etwa des ersten Monats?«
»Ja. Gab es wegen dem nicht einige Aufregung?«
»Eigentlich kaum, die Sache wurde unter den Teppich gekehrt. Sie müssen wissen, bei diesem ›Tunnel der Mysterien‹ handelte es sich einfach nur um einen Tunnel von etwa anderthalb Kilometern Länge ohne Lichter. Man stieg in einen kleinen offenen Wagen und rumpelte fünfzehn Minuten durch die Dunkelheit. Das war äußerst beliebt – solange es gut ging.«
»Beliebt?«
»Ja, natürlich. Von der Furcht geht eine gewissen Faszination aus, solange alles nur ein Spiel ist. Von Geburt an fürchtet sich ein Kind instinktiv vor drei Dingen: laute Geräusche, zu fallen und Dunkelheit. Deswegen finden wir es auch so lustig, jemanden zu erschrecken und laut ›Buh!‹ zu schreien, deshalb macht es auch so Spaß, Achterbahn zu fahren. Und aus diesem Grund war auch dieser ›Tunnel der Mysterien‹ zuerst ein solcher Abräumer. Die Leute tauchten zitternd aus dieser Finsternis auf, atemlos, halbtot vor Angst, aber sie wurden nicht müde, den Eintritt dafür zu lösen.«
»Warten Sie, jetzt erinnere ich mich. Manche Leute waren tot, als sie wieder herauskamen, oder? Darüber gab es doch Gerüchte, nachdem der Tunnel geschlossen wurde.«
»Ach was!« Der Psychologe schnaubte verächtlich. »Zwei oder drei sind gestorben. Das war gar nichts! Sie haben den Familien der Verstorbenen eine Entschädigung gezahlt und dann den Stadtrat von Jonglor dazu gebracht, die Sache unter den Teppich zu kehren. Schließlich, so lautete die Argumentation, waren die Menschen mit schwachen Herzen auf eigene Verantwortung in den Tunnel gefahren – und sie versprachen, so etwas würde nicht wieder geschehen. Fortan wurde am Eingang ein Arzt postiert, der jeden Fahrgast untersuchte, bevor der in den Wagen stieg. Das hat den Ticketverkauf erst richtig angeheizt.«
»Und, war es damit nicht gut?«
»Sie müssen wissen, da ist noch etwas anderes passiert. Manche Menschen kamen heraus, und es ging ihnen scheinbar bestens, außer dass sie sich von da an weigerten, Gebäude zu betreten. Und damit meine ich jede Art von Gebäude, seien es Paläste, Villen, Wohnblöcke, Mietshäuser, Landhäuser, Hütten, Bretterbuden, Schuppen oder Zelte.«
Theremon sah ihn bestürzt an. »Sie meinen, die weigerten sich, woanders zu sein als im Freien? Wo haben sie geschlafen?«
»Draußen unterm freien Himmel.«
»Man hätte sie zwingen sollen, hereinzukommen.«
»O, das hat man durchaus getan. Daraufhin wurden diese Leute hysterisch und haben alles versucht, um sich an der nächstgelegenen Wand das Hirn aus dem Schädel zu schlagen. Sobald sie einmal drinnen waren, konnte man sie nur mit einer Zwangsjacke oder einer schweren Dosis Beruhigungsmittel dort behalten.«
»Sie müssen geisteskrank gewesen sein.«
»Genau das waren sie. Einer von zehn Menschen, die in den Tunnel gingen, kam so wieder heraus. Man hat Psychologen zu Hilfe gerufen, und wir haben das einzig Mögliche getan. Wir haben die Anlage geschlossen.« Er breitete die Hände aus.
»Was war nur los mit diesen Menschen?«, fragte Theremon nach einer kurzen Pause.
»Im Grunde das Gleiche wie mit Ihnen, als Sie dachten, die Wände würden in der Dunkelheit auf Sie einstürzen. In der Psychologie gibt es einen Fachbegriff für die instinktive Angst vor der Dunkelheit. Wir nennen es ›Klaustrophobie‹, denn die Abwesenheit von Licht erleben wir immer nur in geschlossenen Räumen, sodass die Angst vor beidem Hand in Hand geht. Verstehen Sie?«
»Und was war mit den Menschen im Tunnel?«
»Die hatten das Pech, dass sie gegenüber einem Anfall von Klaustrophobie im Tunnel nicht genügend Widerstandskraft besaßen. Fünfzehn Minuten ohne Licht sind eine lange Zeit. Bei Ihnen waren es nur drei Minuten, und nach meinem Eindruck waren Sie ziemlich durcheinander. Die Menschen aus dem Tunnel hatten das, was wir eine ›klaustrophobische Fixierung‹ nennen. Ihre latente Angst vor der Dunkelheit und vor geschlossenen Räumen war mit einer solchen Intensität über sie hereingebrochen, dass sie nun dauerhaft fortbesteht, jedenfalls soweit wir das bislang beurteilen können. Und das ist das Ergebnis von nur fünfzehn Minuten im Dunkeln.«
Es entstand ein langes Schweigen, währenddessen sich Theremons Stirn allmählich in Falten legte. »Ich glaube nicht, dass das so schlimm ist.«
»Sie meinen, Sie wollen es nicht glauben«, fuhr ihn Sheerin an. »Sie haben Angst, es zu glauben. Schauen Sie aus dem Fenster!«
Theremon tat wie geheißen, und der Psychologe fuhr ohne Pause fort: »Stellen Sie sich die Finsternis vor – hier überall. Kein Licht, so weit Sie blicken können. Die Häuser, die Bäume, Felder, der Boden, der Himmel – schwarz! Und dazu dann noch Sterne, wie ich gehört habe – was immer das auch ist. Können Sie sich das vorstellen?«
»Ja, kann ich«, behauptete Theremon trotzig.
Mit plötzlicher Leidenschaft hieb Sheerin seine Faust auf den Tisch. »Sie lügen, das können Sie nicht! Ihr Gehirn ist für diese Vorstellung nicht geschaffen, genauso wie es auch nicht dafür gemacht ist, sich die Unendlichkeit oder die Ewigkeit vorzustellen. Alles, was Sie tun können, ist, darüber zu reden. Ein Bruchteil der Realität bringt Sie schon völlig durcheinander, und wenn es ernst wird, dann wird Ihr Gehirn mit einem Phänomen konfrontiert werden, das völlig außerhalb dessen liegt, was es begreifen kann. Sie werden vollkommen wahnsinnig werden, und das für immer! Daran gibt es keinen Zweifel!«
Traurig fügte er hinzu: »Und wieder werden die Leiden und Mühen von zwei Jahrtausenden vergeblich gewesen sein. Morgen wird auf ganz Lagash keine Stadt mehr unversehrt dastehen.«
Theremon kam nach einer vorübergehenden Verunsicherung wieder zu ich. »Aber das kann doch nicht sein. Ich glaube immer noch nicht, dass ich komplett durchdrehe, nur weil keine Sonne am Himmel ist – aber selbst wenn, und auch wenn jeder außer mir verrückt wird, warum sollten dadurch die Städte zerstört werden? Werden wir sie etwa in die Luft jagen?«
»Wenn Sie sich in völliger Finsternis befänden, was würden Sie mehr als alles andere wollen?«, konterte Sheerin ungehalten. »Wonach würden Sie mit jeder Faser Ihres Wesens streben? Licht, verdammt noch mal, es wäre Licht!«
»Ja, und?«
»Und woher würden Sie Licht bekommen?«
»Keine Ahnung.«
»Was ist die einzige Möglichkeit, ohne eine Sonne Licht zu erzeugen?«
»Woher soll ich das wissen?«
Sie standen einander nun direkt gegenüber, waren sich ganz nahe gekommen.
»Sie verbrennen etwas, mein Herr«, sagte Sheerin. »Haben Sie je einen Waldbrand gesehen? Waren Sie je zelten und haben sich über einem Holzfeuer etwas gekocht? Hitze ist nicht das Einzige, das entsteht, wenn man Holz verbrennt. Das Feuer strahlt auch Licht ab, und die Leute wissen das. Und wenn es dunkel wird, werden sie Licht wollen, und sie werden es bekommen.«
»Dann verbrennen sie also Holz?«
»Sie verbrennen, was immer ihnen zur Verfügung steht. Sie brauchen Licht, unbedingt. Sie müssen etwas verbrennen, haben gerade kein Holz – also werden sie verbrennen, was immer ihnen in die Hände fällt. Sie werden ihr Licht haben – und jedes bewohnte Gebiet wird in Flammen aufgehen.«
Die beiden Männer blickten einander direkt ins Gesicht, ganz so, als ginge es um etwas zutiefst Persönliches, als wollten sie ihre Willenskraft messen. Schließlich wandte Theremon wortlos den Blick ab; sein Atem ging rasch und keuchend, und er nahm kaum den Lärm wahr, der aus dem angrenzenden Raum zu ihnen herüberdrang.
Als Sheerin sprach, war er hörbar um einen gleichmütigen Tonfall bemüht. »Ich glaube, ich habe Yimots Stimme gehört. Anscheinend sind er und Faro zurück. Lassen Sie uns hinübergehen und schauen, was sie aufgehalten hat.«
»Ja, warum nicht«, murmelte Theremon. Er holte tief Luft und schien sich kurz zu schütteln. Die Anspannung hatte sich gelöst.
In dem Raum herrschte helle Aufregung; die Mitarbeiter des Observatoriums drängten sich um zwei junge Männer, die gerade ihre äußere Bekleidung ablegten und dabei von Fragen bombardiert wurden.
Aton drängte sich durch die Menge und trat den Neuankömmlingen mit strenger Miene entgegen. »Ist Ihnen klar, dass wir kaum noch eine halbe Stunde haben? Wo sind Sie beide gewesen?«
Faro 24 setzte sich und rieb sich die Hände, die Wangen von der Kälte gerötet. »Yimot und ich sind gerade erst mit einem kleinen verrückten Experiment fertig geworden, das wir zusammen durchgeführt haben. Wir wollten herausfinden, ob es uns durch einen Versuchsaufbau gelingen kann, die große Finsternis und die Sterne zu simulieren, sodass wir schon einmal eine Vorstellung davon hätten, wie es aussehen wird.«
Unter den Zuhörern entstand ein aufgeregtes Gemurmel, und Aton sah mit einem Mal interessiert aus. »Über so etwas haben wir noch nie diskutiert. Wie haben Sie das angestellt?«
»Nun«, antwortete Faro, »die Idee dazu ist mir und Yimot schon vor langer Zeit gekommen, und wir haben in unserer Freizeit daran gearbeitet. Yimot wusste von einem niedrigen Gebäude in der Stadt, nur ein Stockwerk hoch und mit einem kuppelförmigen Dach – ich glaube, es wurde früher als Museum genutzt. Was auch immer, wir haben es jedenfalls gekauft ...«
»Woher hatten Sie das Geld dazu?«, unterbrach ihn Aton mit scharfem Blick.
»Von unseren Bankkonten«, seufzte Yimot 70. »Es hat zweitausend Credits gekostet.« Fast entschuldigend fügte er hinzu: »Und wenn schon? Zweitausend Credits werden morgen nur noch wertloses Papier sein, nichts mehr.«
»Eben«, fuhr Faro fort. »Wir haben das Ding gekauft und von oben bis unten mit schwarzem Samt verkleidet, um so gut wie möglich eine vollkommene Finsternis zu erzeugen. Dann haben wir winzige Löcher durch das Dach und die Decke gebohrt und sie mit kleinen Metallkappen abgedeckt, die man mit einem Schalter alle gleichzeitig entfernen kann. Allerdings haben wir nicht alles selbst installiert – wir hatten außerdem einen Schreiner, einen Elektriker und ein paar andere. Geld spielte ja keine Rolle. Es ging uns darum, dass Licht durch diese Löcher im Dach dringt und es so ein bisschen wie Sterne aussehen würde.« In der darauffolgenden Stille war kein Atemzug zu hören. Etwas steif sagte Aton: »Sie hatten kein Recht, ein privates ...«
»Ich weiß, Sir«, gab Faro etwas kleinlaut zu, »aber offen gesagt hielten Yimot und ich das Experiment für ein wenig gefährlich. Wir haben halb damit gerechnet, verrückt zu werden, wenn es funktioniert – nach allem, was Sheerin erzählt hat, schien uns das sogar ziemlich wahrscheinlich. Wir wollten selbst das Risiko eingehen. Natürlich haben wir auch darauf spekuliert, dass wir, falls wir bei Verstand bleiben, eine Art Immunität für den Ernstfall entwickeln, und Sie alle dann derselben Behandlung aussetzen würden. Aber es hat nun mal überhaupt nicht funktioniert.«
»Warum, was ist passiert?«
Diesmal antwortete Yimot. »Wir haben uns selbst eingeschlossen und gewartet, bis sich unsere Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Das Gefühl dabei ist wirklich äußerst unheimlich, denn man meint, die Wände würden gleich auf einen einstürzen. Aber wir haben durchgehalten und schließlich den Schalter umgelegt. Die Kappen sind alle abgefallen, und das ganze Dach funkelte plötzlich, mit all den kleinen Lichtpunkten ...«
»Und dann?«
»Dann – war gar nichts. Das war ja das Verrückte. Es ist überhaupt nichts passiert. Da war einfach nur ein Dach mit Löchern darin, und es sah auch genauso aus. Wir haben es wieder und wieder versucht – deshalb sind wir so spät dran –, aber die Wirkung bleibt einfach aus.«
Es folgte bestürztes Schweigen, und alle Augen wandten sich Sheerin zu, der regungslos und mit offenem Mund dasaß.
Theremon war der Erste, der seine Sprache wiederfand. »Sie wissen, was das aus dieser ganzen Theorie macht, die Sie da entwickelt haben, Sheerin, nicht wahr?« Er grinste sichtlich erleichtert.
Doch Sheerin hob die Hand. »Nun mal langsam. Lassen Sie mich erst darüber nachdenken.« Plötzlich schnippte er mit den Fingern, und als er den Kopf hob, lagen weder Verwunderung noch Unsicherheit in seinen Augen. »Aber natürlich ...«
Er führte seinen Satz nie zu Ende. Von irgendwoher über ihnen hörte man ein lauten Krachen, Beenay fuhr in die Höhe, und mit einem »Was zum Teufel!« auf den Lippen jagte er die Treppe hoch. Die Übrigen folgten ihm.
Dann ging plötzlich alles sehr schnell. Oben in der Kuppel angekommen, fiel Beenays entsetzter Blick auf die zersprungenen photographischen Platten und den Mann, der über sie gebeugt dastand; dann stürzte er sich mit einem Satz auf den Eindringling und ging ihm an die Kehle. Kurz entstand ein wildes Gerangel, die anderen Astronomen gesellten sich dazu, und bald war der Fremde unter einem halben Dutzend wütender Männer begraben.
Als Letzter kam der schwer keuchende Aton die Treppe herauf. »Lassen Sie ihn los!«
Widerwillig ließen die Männer von dem Kampf ab, und der heftig atmende Fremde wurde, mit zerrissenen Kleidern und blutender Stirn, auf die Füße gestellt. Er trug einen kurzen, gelblichen Bart, nach dem Stil der Kultisten sorgfältig in Wellen gelegt. Beenay packte ihn am Kragen und schüttelte ihn voller Wut. »Spuck es aus, du Ratte, warum hast du das getan? Diese Platten ...«
»Um die ging es mir doch gar nicht«, gab der Kultist kalt zurück. »Das war ein Missgeschick.«
Beenay folgte seinem starren Blick. »Ich verstehe«, fauchte er. »Es ging dir um die Kameras. Dann kannst du dem Schicksal danken. Hättest du die Scharfe Bertha oder eine der anderen Kameras auch nur angerührt, du wärst unter langsamen Qualen gestorben. Aber so ...« Er holte mit der Faust aus.
Aton ergriff seinen Ärmel. »Schluss damit. Lassen Sie ihn los!«
Widerstrebend hielt der junge Techniker inne und ließ den Arm sinken. Aton stieß ihn beiseite und baute sich vor dem Kultisten auf. »Sie sind Latimer, nicht wahr?«
Der Kultist verbeugte sich steif und deutete auf das Abzeichen an seiner Hüfte. »Ich bin Latimer 25, Adjutant dritter Klasse von Ihrer Durchlaucht, Sor 5.«
»Sie ...« Atons weiße Augenbrauen gingen in die Höhe. »... waren doch dabei, als Seine Durchlaucht mir letzte Woche einen Besuch abstattete, nicht wahr?«
Latimer verbeugte sich ein zweites Mal.
»Und, was wollen Sie also hier?«
»Nichts, was Sie mir aus freien Stücken geben würden.«
»Ich nehme an, Sor 5 hat Sie geschickt – oder war das Ihre eigene Idee?«
»Darauf antworte ich nicht.«
»Wird es noch weitere Besucher geben?«
»Auch darauf antworte ich nicht.« Aton warf einen Blick auf sein Chronometer und verzog unwillig das Gesicht. »Reden Sie schon, was will Ihr Meister von mir? Ich habe meinen Teil des Handels erfüllt.«
Latimer lächelte kaum merklich, hüllte sich aber weiterhin in Schweigen.
»Ich habe ihn um Aufzeichnungen gebeten«, fuhr Aton zornig fort, »Daten, über die nur der Kult verfügt, und man hat sie mir gegeben. Dafür bin ich dankbar. Im Gegenzug versprach ich, den Beweis für die Wahrheit zu erbringen, die dem zentralen Glaubensbekenntnis des Kultes zugrunde liegt.«
»Dessen bedurften wir nicht«, kam die stolze Antwort. »Das Buch der Offenbarungen ist Beweis genug.«
»Für die paar Menschen, aus denen der Kult besteht, vielleicht schon. Tun Sie nicht so, als verstünden Sie nicht, was ich meine. Mein Angebot war, eine wissenschaftliche Basis für Ihren Glauben zu liefern. Und das habe ich getan!«
Die Augen des Kultisten verengten sich voll Bitterkeit. »Ja, das haben Sie getan – aber mit der Ihnen eigenen Schläue haben Sie uns übel ausgetrickst. Denn Ihre angeblichen Erklärungen stützen zwar unsere Glaubenssätze, machen Sie zugleich aber auch überflüssig. Sie haben die Große Finsternis und die Sterne zu Naturphänomenen herabgewürdigt und ihnen so jegliche tiefere Bedeutung genommen. Das war Blasphemie.«
»Wenn das so ist, dann liegt die Schuld nicht bei mir. Die Fakten existieren nun mal. Was kann ich anderes tun, als sie darzulegen?«
»Ihre ›Fakten‹ sind arglistische Täuschung.«
Wütend stampfte Aton auf. »Woher wollen Sie das wissen?«
In der Antwort schwang die absolute Sicherheit des Gläubigen mit: »Ich weiß es.«
Der Direktor lief rot an, und Beenay begann, hektisch auf ihn einzuflüstern. Mit einer knappen Geste brachte ihn Aton zum Schweigen. »Und was will Sor 5 denn nun von uns? Ich nehme an, er befürchtet immer noch, dass wir, indem wir die Welt warnen und drängen, sich vor dem drohenden Wahnsinn zu schützen, unzählige Seelen in Gefahr bringen. Aber es gelingt uns ja gar nicht, falls das ein Trost für ihn ist.«
»Allein der Versuch hat schon genug Schaden angerichtet. Ihre unseligen Bemühungen, mit Hilfe Ihrer teuflischen Instrumente weitere Informationen zu sammeln, müssen verhindert werden. Wir gehorchen dem Willen der Sterne, und ich bedaure nur meine Ungeschicklichkeit und dass es mir nicht gelungen ist, ihre Höllenmaschinen zu zerstören.«
»Das hätte Ihnen auch nicht viel genutzt«, erwiderte Aton. »Alle unsere Aufzeichnungen, mit Ausnahme der unmittelbaren Beweise, die wir gleich jetzt erbringen werden, sind bereits gut gesichert und unerreichbar für jeden böswilligen Zugriff.« Er lächelte grimmig. »Was allerdings nichts daran ändert, dass Sie hier nun als Einbrecher und Krimineller vor uns stehen.«
Er drehte sich zu den Männern hinter ihm um. »Jemand muss die Polizei in Saro benachrichtigen.«
Sheerin stieß einen gereizten Aufschrei des Unwillens aus. »Verdammt noch mal, Aton, was ist los mit Ihnen? Wir haben für so etwas keine Zeit. Hier ...« Er drängelte sich zwischen den anderen vor. »Überlassen sie das mir.«
Aton blickte den Psychologen von oben herab an. »Das ist nicht der richtige Zeitpunkt für Ihre Mätzchen, Sheerin. Gestatten Sie, dass ich das auf meine Art handhabe. Vergessen Sie nicht, dass Sie hier nur zu Gast sind.«
Sheerin verzog das Gesicht zu einem vielsagenden Lächeln. »Aber warum sollten wir so verrückt sein und uns die Mühe machen, die Polizei zu rufen – wenn dieser junge Mann uns doch gerne sein Ehrenwort geben wird, dass er hier bleiben und keinerlei Ärger mehr machen wird?«
Der Kultist antwortete ohne Zögern. »Das fällt mir im Traum nicht ein. Sie können tun, was Sie belieben, aber es ist nur fair, wenn ich Sie warne: Sobald ich die Möglichkeit habe, werde ich mein Vorhaben vollenden. Bevor Sie sich auf mein Ehrenwort verlassen, rufen Sie lieber die Polizei.«
Sheerin schenkte ihm ein freundliches Lächeln. »Sie sind mir ja ein wild entschlossener Bursche. Nun, dann will ich Ihnen mal etwas erklären. Sehen Sie diesen jungen Mann dort am Fenster? Ein ganz schöner Brocken, hat einen derben Schlag, und auch er ist hier nur zu Gast. Sobald die Sonnenfinsternis beginnt, wird es hier für ihn nichts weiter zu tun geben, als Sie im Auge zu behalten. Und ich werde ihm dabei zur Seite stehen – ich bin vielleicht nicht ganz in der Form für eine richtige Schlägerei, aber mithelfen werde ich schon können.«
»Na und, was soll das?«, wollte Latimer mit eisiger Stimme wissen.
»Spitzen Sie mal Ihre Ohren«, kam es zur Antwort. »Sobald die Sonnenfinsternis beginnt, werden Theremon und ich Sie schnappen und in die kleine Abstellkammer verfrachten, die keine Fenster hat, aber dafür eine Tür mit einem dicken Schloss. Dort werden Sie bleiben, so lange es dauert.«
»Aber danach wird es niemand mehr geben, der mich herauslässt«, keuchte Latimer erschreckt. »Ich weiß so gut wie Sie, was die Sterne bedeuten – ich weiß es sogar besser als Sie. Wenn von Ihnen keiner mehr bei Verstand ist, ist es unwahrscheinlich, dass mich jemand befreit. Was wird es sein – Ersticken oder ein langsamer Hungertod? Etwas anderes war von einem Haufen Wissenschaftler ja auch nicht zu erwarten. Aber mein Wort bekommen sie nicht. Es ist eine Frage des Prinzips, und ich werde darüber nicht mehr diskutieren.«
Selbst Aton wirkte bestürzt, seine altersblassen Augen blickten sorgenvoll drein. »Wirklich, Sheerin, ihn einzuschließen ...«
»Also bitte!« Ungeduldig bedeutete Sheerin ihm zu schweigen. »Ich gehe auch nicht eine Sekunde davon aus, dass wir die Dinge so weit treiben müssen. Latimer hat es gerade mit einem schlauen kleinen Bluff versucht, aber ich bin nicht Psychologe, weil ich das Wort so schick finde.« Er grinste den Kultisten an. »Nun kommen Sie schon, Sie glauben doch nicht ernsthaft, dass ich etwas so Plumpes wie den Hungertod mit Ihnen vorhabe. Man muss nicht viel über die grundlegenden Glaubenssätze des Kultes wissen, um zu verstehen, dass es für Sie den Verlust Ihrer unsterblichen Seele bedeutet, wenn Sie beim Erscheinen der Sterne vor ihnen verborgen sind. Aber ich gehe davon aus, dass Sie ein Ehrenmann sind. Ich werde also Ihr Wort als solcher akzeptieren, nicht länger das Geschehen hier zu sabotieren, wenn Sie es mir geben.«
An Latimers Schläfe sah man eine Vene pulsieren, und er schien in sich zusammenzusinken, als er mit belegter Stimme sagte: »Sie haben es!« Mit erneut aufflammendem Zorn fügte er hinzu: »Aber es wird mir ein Trost sein, dass Sie für Ihre heutigen Taten der Verdammnis anheimfallen.« Er machte auf dem Absatz kehrt und stolzierte zu dem hohen, dreibeinigen Hocker neben der Tür.
Sheerin nickte dem Kolumnisten zu. »Setzen Sie sich neben ihn, Theremon – nur der Form halber. He, Theremon!«
Doch der Zeitungsmann rührte sich nicht vom Fleck. Seine Lippen waren weiß geworden. »Schauen Sie sich das an!« Mit zitterndem Finger zeigte er auf den Himmel, und seine Stimme brach. Alle im Raum schienen im gleichen Moment aufzukeuchen, als sie dem ausgestreckten Finger mit den Augen folgten; für einen Moment standen sie wie erstarrt da, keiner atmete auch nur.
An einer Seite war ein Stück von Beta verschwunden!
Es war nur ein winziges Bisschen, eine Schwärze von der Breite eines Fingernagels, die sich an einer Seite über die Sonne schob, aber in den Augen der Zuschauer wirkte sie so groß wie der Spalt zu einem Höllenschlund.
Die stille Andacht dauerte nur einen Augenblick, wurde von einem noch kürzeren Moment hektischen Geschreis abgelöst, dann entstand eine perfekt durchchoreographierte Betriebsamkeit – jeder Mann verrichtete wie vorgesehen seine Arbeit. In dem entscheidenden Augenblick blieb keine Zeit für Emotionen. Diese Menschen waren in erster Linie Wissenschaftler, die eine Aufgabe hatten. Sogar Aton war in seine Arbeit versunken.
»Der erste Kontakt muss vor fünfzehn Minuten stattgefunden haben«, stellte Sheerin nüchtern fest. »Ein bisschen früh, aber nicht schlecht, wenn man die Unsicherheiten in den Berechnungen bedenkt.« Er sah sich um und ging dann auf Zehenspitzen zu Theremon, der noch immer aus dem Fenster starrte, und zog ihn sanft beiseite.
»Aton ist außer sich«, flüsterte er, »also gehen Sie lieber beiseite. Wegen diesem Unfug mit Latimer hat er den ersten Kontakt verpasst, und wenn Sie ihm in die Quere kommen, wird er Sie aus dem Fenster werfen lassen.«
Theremon nickte knapp und setzte sich hin.
Überrascht blickte ihn Sheerin an. »Teufel nochmal,« rief er aus, »Mann, Sie zittern ja.«
»Wie?« Theremon fuhr sich mit der Zunge über die trockenen Lippen und versuchte ein Lächeln. »Ich fühle mich nicht so gut, das ist schon wahr.«
Die Augen des Psychologen wurden ausdruckslos. »Sie verlieren doch nicht etwa die Nerven?«
»Nein!«, rief Theremon empört. »Geben Sir mir nur mal eine Chance, ja? Bis gerade habe ich diese ganze Geschichte gar nicht geglaubt – jedenfalls nicht wirklich. Lassen Sie mir einen Augenblick, mich an die Vorstellung zu gewöhnen. Sie selbst haben sich seit mindestens zwei Monaten darauf vorbereitet.«
»Damit haben Sie recht«, antwortete Sheerin nachdenklich. »Hören Sie, haben Sie eine Familie – Eltern, eine Frau, Kinder?«
Theremon schüttelte den Kopf. »Sie wollen auf die Zuflucht hinaus, nehme ich an. Nein, darum müssen Sie sich keine Sorgen machen. Ich habe eine Schwester, aber die lebt dreitausend Kilometer weit weg. Ich weiß noch nicht einmal ihre genaue Adresse.«
»Na, und was ist mit Ihnen selbst? Es ist noch Zeit, dorthin zu gelangen, und seit ich fort bin, ist ein Platz ohnehin nicht besetzt. Schließlich werden Sie hier nicht gebraucht, und Sie wären eine wirklich feine Ergänzung ...«
Müde blickte Theremon den anderen an. »Sie denken, ich mach mir vor Angst in die Hosen, nicht wahr? Aber ich bin Reporter, lassen Sie sich das gesagt sein, und ich wurde auf eine Sache angesetzt, über die ich berichten soll. Genau das habe ich auch vor.«
Ein schwaches Lächeln huschte über das Gesicht des Psychologen. »Ich verstehe. Berufsehre, ist es das?«
»Wenn Sie so wollen. Aber he, ich würde meinen rechten Arm hergeben für auch nur eine halbe Flasche von dem göttlichen Gesöff, dass Sie vorhin runtergekippt haben. Wenn je ein Mann einen Drink gebraucht hat, dann bin ich es hier und heute.«
Er brach ab, denn Sheerin hatte ihn gepackt und rüttelte ihn sanft. »Hören Sie das? Hören Sie mal zu!«
Theremon folgte dem Blick des anderen und starrte auf den Kultisten, der sich selbstvergessen dem Fenster zugewandt hatte und, mit einem Ausdruck von entrückter Verzückung im Gesicht, in einen eintönigen Singsang verfallen war.
»Was redet er da?«, flüsterte der Journalist.
»Er zitiert aus dem Buch der Offenbarungen, fünftes Kapitel«, sagte Sheerin. Und dann, drängend: »Seien Sie still und passen Sie gut auf!«
Die Stimme schwoll plötzlich in inbrünstigem Eifer an:
»Und es geschah zu dieser Zeit, dass die Sonne Beta einsame Wacht hielt am Himmel, und mit jedem Umlauf wurde ihre Wacht länger; und es kam eine Zeit, als sie hernieder schien für einen halben Umlauf, einzig am Himmel, kalt und zum Zwerg geworden.
Und die Menschen versammelten sich auf den Plätzen und Straßen, ob dieses Anblicks zu staunen und mit Worten zu streiten, denn eine seltsame Bedrückung hatte ihre Seelen befallen. Schwer war ihr Geist und ihre Sprache verwirrt, denn die Menschen erwarteten das Kommen der Sterne.
Und in der Stadt von Trigon trat Vendret 2 zur Mittagsstunde vor die Männer von Trigon und sprach: ›Sehet, ihr Sünder! Möget ihr auch den Pfad der Rechtschaffenheit verlassen haben, so wird doch die Zeit des Gerichts kommen. Denn sehet! In dieser Stunde nahet die Höhle der Finsternis, Lagash zu verschlingen, mit all seiner Fülle.‹
Und während er noch die Worte sprach, leckte die Höhle der Finsternis über Beta, so dass für ganz Lagash die Sonne den Blicken entschwand. Laut waren die Rufe der Männer bei ihrem Verschwinden, und groß war die Furcht, die in all ihre Herzen einkehrte.
Und so geschah es, dass die Große Finsternis der Höhle über Lagash kam, und auf ganz Lagash wurde es dunkel. Blindheit befiel die Menschen, es konnte ein Mann seinen Nächsten nicht sehen, und fühlte er doch dessen Odem auf seinem Antlitz.
Und in der Schwärze erschienen die Sterne, unendlich an der Zahl, zu Klängen von solcher Schönheit, dass selbst die Blätter der Bäume weinten in ihrem Staunen.
Und in eben jener Stunde fuhren die Seelen aus den Menschen, und ihre Leiber wurden wie Tiere, von solch rohem Wesen, dass sie schreiend durch die verfinsterten Straßen von Lagashs Städten rannten.
Und von den Sternen fuhr hernieder die Göttliche Flamme, und wo sie die Städte Lagashs berührte, da brannten diese zu Asche, sodass nichts übrig blieb von den Menschen und der Menschen Werke.
Und selbst dann ...«
Latimers Singsang veränderte sich plötzlich ganz leicht. Zwar blieb sein Blick starr und unbeirrt, doch offenbar war er sich der Aufmerksamkeit der anderen beiden bewusst geworden. Mühelos, ohne auch nur einmal Luft zu holen, wechselte der Klang seiner Stimme, die einzelnen Silben gingen nun flüssiger ineinander über.
Verdutzt starrte Theremon ihn an. Fast waren ihm die Worte noch vertraut, es war nur eine kaum fassbare Veränderung in der Aussprache, nicht mehr als eine geringfügig andere Betonung der Vokale – und doch war kein Wort mehr von dem zu verstehen, was Latimer sprach.
Sheerin lächelte mit wissendem Blick. »Er ist zu einer altzyklischen Sprache gewechselt, vermutlich die ihres traditionellen zweiten Zyklus. Sie wissen doch, das war die Sprache, in der das Buch der Offenbarungen ursprünglich verfasst wurde.«
»Spielt keine Rolle, ich habe genug gehört.« Theremon schob seinen Stuhl zurück und fuhr sich durch die Haare, seine Hand zitterte nicht länger »Mir geht es wieder viel besser.«
»Ach wirklich?« Sheerin schien etwas überrascht.
»Ich geb ja zu, vorhin hab ich wirklich die Nerven verloren. Ihnen zuzuhören, mit Ihrer Gravitation, und dann die Sonnenfinsternis zu sehen, das war beinahe zu viel für mich. Aber das« – er deutete verächtlich auf den Kultisten mit seinem gelben Bart – »das Zeug hat mir mein Kindermädchen immer erzählt. Mein ganzes Leben hab ich mich darüber lustig gemacht. Ich werde mir nicht jetzt von so was Angst einjagen lassen.«
Er holte tief Luft, und mit einer etwas aufgesetzten Fröhlichkeit fuhr er fort: »Aber um die gute Laune nicht zu verlieren, sollte ich meinen Stuhl wohl besser vom Fenster wegdrehen.«
»Und Sie sollten leiser sprechen«, warnte Sheerin. »Aton hat gerade seinen Kopf aus diesem Kasten, in den er ihn hineingesteckt hat, herausgezogen und Ihnen einen Blick zugeworfen, der hätte töten können.«
Theremon schob unwillig die Lippen vor. »Den alten Knaben hab ich ganz vergessen.« Mit Bedacht drehte er den Stuhl vom Fenster weg, blickte noch einmal voller Unbehagen zurück und sagte: »Gerade ist mir der Gedanke gekommen, dass es doch viele Menschen geben müsste, die immun gegen diese Sternenverrücktheit sind.«
Der Psychologe antwortete nicht sofort. Beta hatte den Zenit inzwischen überschritten, und das Rechteck aus blutrotem Sonnenlicht, dass sich durch das Fenster auf dem Boden gebildet hatte, war bis zu Sheerins Schoß hinaufgewandert. Gedankenverloren starrte er in das farbenprächtige Dämmerlicht, dann beugte er sich vor und spähte zur Sonne selbst empor.
Der kleine dunkler Splitter am Rand der Sonne war inzwischen auf eine Fläche angewachsen, die ein Drittel von Beta bedeckte. Ihn schauderte, und als er sich wieder aufrichtete, waren seine Wangen, die ehemals eine so gesunde Farbe gehabt hatten, deutlich blasser geworden.
Mit einem fast entschuldigenden Lächeln drehte auch er seinen Stuhl um. »In Saro-Stadt gibt es im Moment vermutlich zwei Millionen Menschen, die in einer riesigen Erneuerungsbewegung alle auf einmal dem Kult beitreten wollen.« Voller Ironie fuhr er fort: »Für den Kult wird da eine unerwartete Geldquelle sprudeln. Ich vertraue darauf, dass sie sie nach besten Kräften abschöpfen werden. Nun, was sagten Sie gerade?«
»Nur eine Sache. Wie haben es die Kultisten geschafft, dass das Buch der Offenbarungen von Zyklus zu Zyklus überliefert wurde, und wie um Lagashs willen wurde es überhaupt je schriftlich festgehalten?«
Sheerin sah den Fragesteller mit wehmütigem Blick an. »Nun, junger Mann, dafür gibt es keinen Augenzeugenbericht, aber wir haben einige ganz brauchbare Vorstellungen von dem, was passiert ist. Wissen Sie, es gibt drei Arten von Menschen, die vergleichsweise unberührt bleiben könnten. Zunächst einmal diejenigen, die die Sterne überhaupt nicht sehen: Menschen, die geistig schwer zurückgeblieben sind, oder diejenigen, die sich zu Beginn der Sonnenfinsternis bis zur Bewusstlosigkeit betrinken und bis zum Ende in diesem Zustand bleiben. Die können wir übergehen, denn es handelt sich ja nicht wirklich um Augenzeugen. Dann gibt es noch die Kinder unter sechs, für die die ganze Welt zu neu und zu seltsam ist, als dass Sterne und Dunkelheit sie allzu sehr ängstigen können. Für sie wäre es einfach noch etwas Unverständliches in einer ohnehin schon erstaunlichen Welt. Stimmen Sie mir so weit zu?«
Theremon nickte nachdenklich. »Ich denke schon.«
»Zuletzt gibt es noch diejenigen, deren Geist zu grob gestrickt ist, als dass irgend etwas sie völlig aus der Bahn werfen könnte. Wer sehr abgestumpft ist, wäre auch nicht weiter erschüttert – Menschen wie einige von unseren älteren, völlig abgearbeiteten Bauern. Nun, die Kinder hätten nur sehr flüchtige Erinnerungen, und zusammen mit dem wirren, unzusammenhängenden Gestammel von ein paar halb verrückten Schwachköpfen war das die Grundlagen für das Buch der Offenbarungen. Ganz zwangsläufig basiert das Buch in erster Linie auf den Zeugnissen jener, die sich am wenigsten als Historiker eignen – Kinder und Geistesschwache. Und höchstwahrscheinlich ist es mit jedem Zyklus immer wieder neu überarbeitet worden.«
»Glauben Sie«, unterbrach ihn Theremon, »dass sie das Buch auf ähnliche Weise durch die Zyklen gerettet haben, wie wir jetzt das Geheimnis der Gravitation weitergeben wollen?«
Sheerin zuckte mit den Schultern. »Vielleicht, aber das genaue Vorgehen spielt keine Rolle. Irgendwie klappt es eben. Worauf ich hinaus will: Selbst wenn das Buch auf Fakten beruht, dann ist es doch unweigerlich eine immense Verfälschung. Erinnern Sie sich zum Beispiel an das Experiment mit den Löchern im Dach, das Faro und Yimot unternommen haben, und das nicht funktioniert hat?«
»Ja.«
»Sie verstehen doch, warum es nicht ...« Er hielt inne und stand erschrocken auf, denn Aton kam mit völlig verzweifelter Miene näher. »Was ist passiert?«
Aton zog ihn beiseite, und Sheerin konnte spüren, wie die Finger des Astronomen an seinem Ellbogen zuckten.
»Nicht so laut!« Aton sprach leise und wie unter Qualen. »Ich habe gerade auf einer privaten Leitung Nachricht von der Zuflucht erhalten.«
»Sind sie in Schwierigkeiten?«, platze Sheerin ängstlich heraus.
»Nicht sie.« Aton betonte deutlich das letzte Wort. »Sie haben sich schon vor einer Weile abgeschottet, und sie werden dort vergraben bis übermorgen ausharren. Sie sind in Sicherheit. Aber die Stadt. Sheerin – es ist ein einziges Schlachtfeld. Sie haben ja keine Ahnung ...« Die Stimme versagte ihm.
»Ja und?«, fuhr ihn Sheerin ungeduldig an. »Was ist damit? Es wird noch schlimmer werden. Warum zittern Sie deswegen so?« Dann, plötzlich argwöhnisch: »Wie fühlen Sie sich?«
Atons Augen blitzten ob der Unterstellung kurz auf, dann wurden sie wieder trüb vor Angst. »Sie verstehen nicht. Es sind die Kultisten. Sie hetzen die Leute auf, das Observatorium zu stürmen – versprechen ihnen die sofortige Gnade, versprechen ihnen die Erlösung, versprechen ihnen einfach alles. Was sollen wir nur tun, Sheerin?«
Sheerin ließ den Kopf sinken, und für eine Weile starrte er in Gedanken auf seine Zehen. Schließlich klopfte er sich mit einem Knöchel gegen das Kinn, blickte auf und fragte mit rauer Stimme: »Tun? Was gibt es da schon zu tun? Gar nichts. Wissen die Männer davon?«
»Nein, natürlich nicht!«
»Gut! Belassen Sie es dabei. Wie lange noch bis zur Totalen?«
»Nicht ganz eine Stunde.«
»Wir können es nur darauf ankommen lassen. Es wird einige Zeit dauern, eine wirklich durchschlagende Meute zu organisieren, und es wird noch länger dauern, sie hierher zu bringen. Es sind gut acht Kilometer von der Stadt bis zu uns ...«
Düster blickte er aus dem Fenster, auf das sanft abfallende Farmland bis hin zu den Vororten, den Ansammlungen weißer Häuser und zur Metropole selbst, die verschwommen am Horizont in Betas schwindendem Schein zu erkennen war.
Ohne sich umzudrehen wiederholte er: »Es wird eine Weile dauern. Arbeiten Sie weiter, und beten Sie, das die Totale zuerst kommt.«
Beta war inzwischen zur Hälfte bedeckt; die Schnittkante grub sich in einer leichten Wölbung in den noch leuchtenden Teil der Sonne. Es war, als ob sich ein gigantisches Augenlid ganz langsam über dem Licht einer Welt schlösse.
Die Geräusche im Raum drangen mit einem Mal nur noch schwach an sein Ohr, und er nahm nur noch die tiefe Stille wahr, die sich über die Felder da draußen legte. Sogar die Insekten schienen ängstlich verstummt. Düsternis hatte sich über die Welt gesenkt.
Er fuhr zusammen, als er eine Stimme direkt an seinem Ohr vernahm. »Stimmt etwas nicht?«, fragte Theremon.
»Was? Äh – nein. Setzen Sie sich wieder. Wir sind hier im Weg.« Sie huschten zurück in ihre Ecke, aber für eine Weile sagte der Psychologe kein Wort. Er hob einen Finger und lockerte seinen Kragen. Mehrmals verdrehte er den Hals, fand aber keine Erleichterung. Plötzlich blickte er auf.
»Bekommen Sie noch ausreichend Luft?«
Der Mann von der Zeitung riss die Augen weit auf und atmete zwei, drei Mal tief durch. »Ja. Warum?«
»Wahrscheinlich habe ich zu lange aus dem Fenster geschaut. Die Dämmerung hat mich erwischt. Atemnot ist eines der ersten Symptome eines klaustrophobischen Anfalls.«
Theremon holte ein weiteres Mal tief Luft. »Nun, bislang bin ich verschont geblieben. Schauen Sie, da kommt ja einer der Herren Wissenschaftler.«
Beenay stand vor ihnen im Licht, und Sheerin blinzelte nervös zu ihm empor. »Hallo Beenay.«
Der Astronom trat von einem Fuß auf den anderen und lächelte schwach. »Ist es Ihnen recht, wenn ich mich eine Weile zu Ihnen geselle? Meine Kameras sind alle aufgebaut, und bis zur Totalen gibt es nichts weiter zu tun.« Er hielt inne und musterte den Kultisten, der vor fünfzehn Minuten ein kleines, in Leder gebundenes Buch aus seinem Ärmel gezogen hatte und seither tief darin versunken war. »Diese kleine Ratte hat doch keine Schwierigkeiten gemacht?«
Sheerin schüttelte den Kopf. Er zog die Schultern zurück und zwang sich mit konzentriertem Blick dazu, regelmäßig zu atmen. »Haben Sie irgendwelche Schwierigkeiten beim Atmen, Beenay?«, wollte er wissen.
Beenay sog nun seinerseits prüfend die Luft ein. »Mir kommt es hier nicht stickig vor.«
»Ein kleiner Hauch von Klaustrophobie«, erklärte ihm Sheerin entschuldigend.
»Ach so! Bei mir wirkt es sich anders aus. Mir ist, als ob mich meine Augen im Stich lassen. Die Dinge erscheinen verschwommen und ... nun, es ist einfach nichts klar zu erkennen. Und kalt ist es außerdem.«
»Na ja, kalt ist es wirklich. Das ist keine Einbildung.« Theremon verzog das Gesicht. »Meine Zehen fühlen sich an, als ob ich sie in einem Kühllaster übers Land geschickt hätte.«
»Was wir brauchen«, warf Sheerin ein, »ist eine geistige Beschäftigung, mit ganz unerheblichen Dingen. Theremon, vor einer Weile habe ich Ihnen gesagt, warum bei Faros Experimenten mit den Löchern im Dach nichts herausgekommen ist.«
»Sie hatten gerade erst angefangen«, erwiderte Theremon. Er umfasste mit beiden Armen ein Knie und drückte sein Kinn dagegen.
»Nun, wie ich vorhin schon sagen wollte, sie haben den Fehler gemacht und das Buch der Offenbarungen wörtlich genommen. Es war vermutlich ganz falsch, sich die Sterne als wirkliche physische Objekte vorzustellen. Verstehen Sie, es könnte sein, dass der Geist in der vollkommenen Finsternis einfach ganz zwangsläufig von Licht phantasiert. Es könnte sein, das die Sterne nichts weiter als eine Illusion sind.«
»In anderen Worten«, mischte sich Theremon ein, »Sie meinen, dass die Sterne eine Folge des Wahnsinns sind und nicht eine seiner Ursachen. Aber wozu sollen Beenays Aufnahmen dann überhaupt gut sein?«
»Vielleicht um zu beweisen, dass es sich um eine Illusion handelt. Oder von mir aus auch um das Gegenteil zu beweisen. Andererseits ...«
Aber Beenay hatte seinen Stuhl näher herangezogen, und auf seinem Gesicht erschien ein Ausdruck plötzlichen Eifers. »Ich muss sagen, ich bin froh, dass Sie diese Frage ansprechen.« Seine Augen wurden schmal, und er hob einen Finger. »Ich habe schon eine Weile über diese Sterne nachgedacht und bin auf einen wirklich ulkigen Gedanken gekommen. Es ist natürlich ziemlich aus der Luft gegriffen, keine ernsthafte Wissenschaft, aber mir erscheint es doch spannend. Möchten Sie davon hören?«
Er schien hin- und hergerissen, doch Sheerin lehnte sich zurück und sagte: »Legen Sie los! Ich lausche.«
»Nun, dann nehmen Sie einmal an, es gäbe im Universum noch andere Sonnen.« Etwas verlegen hielt er inne. »Ich meine Sonnen, die so weit weg sind, dass man sie nicht sehen kann. Ich schätze, dass hört sich nun so an, als ob ich was von diesem Phantastikzeug gelesen hätte.«
»Nicht unbedingt. Aber dennoch, können wir diese Möglichkeit nicht ausschließen, weil sie sich nach dem Gravitationsgesetz dann durch ihre Anziehungskräfte bemerkbar machen müssten?«
»Nicht, wenn sie weit genug weg wären«, fiel Beenay ein, »ich meine wirklich weit – vielleicht so weit wie vier Lichtjahre, oder sogar noch mehr. Dann wären wir niemals in der Lage, ihren Einfluss zu bemerken, der wäre viel zu schwach. Und nehmen wir einmal an, es gäbe so weit weg eine Menge Sonnen, vielleicht ein oder zwei Dutzend.«
Theremon stieß einen langen Pfiff aus. »Na, das wäre mal eine Idee für eine Sonntagsbeilage. Zwei Dutzend Sonnen in einem Universum, das acht Lichtjahre durchmisst. Wow! Unsere Welt würde in der Bedeutungslosigkeit versinken. Die Leser würden es verschlingen.«
»Es ist ja nur eine Idee«, sagte Beenay mit einem Grinsen, »aber Sie verstehen, was ich meine. Während einer Sonnenfinsternis würden diese Dutzende von Sonnen plötzlich sichtbar werden, weil es kein echtes Sonnenlicht mehr gibt, das sie überstrahlt. Da sie so weit weg sind, würden sie uns klein erscheinen, vielleicht wie kleine Murmeln. Die Kultisten sprechen natürlich von einer Million Sterne, aber das ist wohl eine Übertreibung. Es gibt im Universum schlicht keinen Platz, um eine Million Sonnen unterzubringen – nicht ohne dass sie sich gegenseitig berühren.«
Sheerin hatte mit wachsendem Interesse zugehört. »Ein interessanter Gedanke, Beenay. Eine Übertreibung – das ist genau das, was passieren würde. Wie Sie vermutlich wissen, kann der menschliche Geist keine Zahl, die größer als fünf ist, unmittelbar erfassen. Darüber gibt es nur das Konzept von ›vielen‹. Ein Dutzend würde daher im Handumdrehen zu Millionen werden. Eine verdammt gute Idee!«
»Und ich habe noch einen ulkigen Gedanken für Sie«, erwiderte Beenay. »Haben Sie sich jemals vorgestellt, zu welch simplem Problem die Gravitation geriete, wenn das System nur hinreichend einfach wäre? Stellen Sie sich ein Universum vor, in dem es nur einen Planeten mit nur einer Sonne gibt. Der Planet würde in einer perfekten Ellipse um die Sonne kreisen, und die Natur der Schwerkraft wäre so offensichtlich, dass man sie als Axiom akzeptieren könnte. In einer solchen Welt würden die Astronomen die Gravitation vermutlich verstehen, bevor sie noch ein Teleskop erfunden hätten. Beobachtungen mit dem bloßen Augen wären genug.«
»Aber wäre die Dynamik eines solchen Systems stabil?«, fragte Sheerin voller Zweifel.
»Ja, klar! Man nennt so etwas den Eins-zu-eins-Fall. Mathematisch ist das bereits dargelegt worden, aber mich interessieren daran die philosophischen Implikationen.«
»Eine faszinierende Vorstellung«, gab Sheerin zu, »eine hübsche Abstraktion – wie ein ideales Gas oder der absolute Nullpunkt.«
»Natürlich gibt es dabei das Problem«, fuhr Beenay fort, »dass Leben auf einem solchen Planeten unmöglich wäre. Er würde nicht genug Wärme und Licht bekommen, und im Fall einer Rotation läge er den halben Tag in absoluter Dunkelheit. Unter diesen Umständen würde wohl kaum Leben entstehen, denn Licht ist dafür nun mal unerlässlich. Außerdem ...«
Sheerins Stuhl kippte nach hinten, als er plötzlich aufsprang und Beenay rüde unterbrach. »Aton hat die Lichter rausgebracht.«
»Was?« Beenay drehte sich erschrocken um, grinste dann aber in offensichtlicher Erleichterung von einer Backe zur anderen.
Aton trug ein halbes Dutzend daumenstarke Stangen von etwa dreißig Zentimeter Länge in seinen Armen. Er warf seinen versammelten Mitarbeitern einen zornigen Blick zu. »Gehen Sie wieder an Ihre Arbeit, und zwar alle. Sheerin, kommen Sie und helfen Sie mir!«
Sheerin eilte an seine Seite, und dann steckten die beiden in völligem Schweigen Stange um Stange in behelfsmäßige, metallene Halter, die an den Wänden befestigt waren.
Mit andächtigen Bewegungen, als ob er eine religiöse Zeremonie vollzöge, entzündete Sheerin mit einiger Mühe ein großes Streichholz und reichte es an Aton weiter, der die Flamme zu dem oberen Ende von einem der Stäbe führte. Ein Weile umspielte das Feuer nur zögerlich das Ende der Stange, dann aber schoss eine knisternde Flamme empor und tauchte Atons zerfurchtes Gesicht in gelbes Licht. Er zog das Streichholz zurück, und spontane Beifallsrufe ließen die Fenster klirren.
Am Ende des Stabs loderten Flammen von fast zwanzig Zentimetern Länge! Mit ähnlicher Sorgfalt wurden auch die anderen Stäbe entzündet, und schließlich erfüllten die sechs Feuer den Raum bis in den hintersten Winkel mit gelbem Licht.
Das Licht war vergleichsweise schwach, schwächer noch als der spärliche Sonnenschein. Die wild zuckenden Flammen erzeugten schwankende, trunkene Schatten und sonderten obendrein einen höllischen Rauch ab – es roch, als sei in der Küche ein Malheur passiert. Doch die Fackeln verbreiteten gelbes Licht.
Nach den vier Stunden in Betas düsterer Dämmerung blieb dies nicht ohne Wirkung. Sogar Latimer hob den Blick von seinem Buch und sah voller Staunen auf die Flammen.
Sheerin wärmte sich an der nächstgelegenen die Hände, ohne sich um die Asche zu scheren, die als feines graues Puder auf ihn herabrieselte, und murmelte voller Begeisterung vor sich hin. »Wundervoll! Wundervoll! Ich habe gar nicht gewusst, wie schön die Farbe Gelb ist.«
Theremon allerdings musterte die Fackeln voller Misstrauen. Er rümpfte die Nase ob des ranzigen Geruchs und fragte: »Was sind das für Dinger?«
»Holz«, antwortete Sheerin knapp.
»Nein, das kann nicht sein. Sie verbrennen nicht. Die obersten Zentimeter sind schon verkohlt, und trotzdem schießen weiter wie aus dem Nichts Flammen daraus hervor.«
»Das ist ja das Schöne daran. Es handelt sich um einen wirklich effizienten Mechanismus, mit dem man künstliches Licht erzeugen kann. Wir haben ein paar hundert davon gemacht, die meisten natürlich für die Zuflucht. Man nimmt das Innere von grobem Schilfrohr, trocknet es gründlich und tränkt es dann mit Tierfett. Wenn man das Ganze dann ansteckt, verbrennt nach und nach das Fett. Diese Fackeln werden für fast eine halbe Stunde brennen. Genial, nicht wahr? Einer von unseren eigenen Leuten an der Saro-Universität hat das entwickelt.«
Nach der kurzen Aufregung war es in der Kuppel wieder still geworden. Latimer hatte seinen Stuhl zu einer der Fackeln getragen und seine Lektüre wieder aufgenommen. Unaufhörlich bewegten sich seine Lippen in der monotonen Aneinanderreihung von Anrufungen der Sterne. Beenay war wieder mit seinen Kameras beschäftigt, und Theremon ergriff die Gelegenheit, sich weitere Notizen für den Artikel zu machen, den er am nächsten Tag für den Chronicle von Saro-Stadt schreiben wollte – so wie er es schon während der letzten beiden Stunden getan hatte, mit großer Sorgfalt und Gewissenhaftigkeit, auch wenn er sich der völligen Sinnlosigkeit des Unterfangens wohl bewusst war.
Aber die konzentrierte Arbeit beschäftigte seinen Geist, wie es auch das amüsierte Funkeln in Sheerins Augen nahelegte; etwas zu tun, lenkte ihn von der Tatsache ab, dass der Himmel sich allmählich in ein grauenerregendes tiefes Dunkelviolett verwandelte, wie die Farbe einer riesigen, frisch geschälten Rote-Beete-Knolle; und so erfüllte die Sache ihren Zweck.
Die Luft schien sich zu verdichten. Die Dämmerung kroch wie ein fühlbares Wesen in den Raum, und immer schärfer zeichneten sich die tanzenden Kreise aus gelbem Licht um die Fackeln gegen das näherkommende Grau ab. Der Geruch von Rauch lag in der Luft, und nur noch das leise Glucksen der abbrennenden Fackeln war zu hören, dazu leise Schritte, als einer der Männer auf Zehenspitzen um seinen Arbeitstisch ging, und einem gelegentlichen schweren Atemzug, wenn einer der Männer um Fassung rang – angesichts einer Welt, die zusehends in Finsternis versank.
Theremon war der Erste, der die von außen hereindringenden Geräusche vernahm. Sie waren undeutlich, kaum wahrnehmbar und wären niemandem aufgefallen, hätte in der Kuppel nicht eine solche Grabesstille geherrscht.
Der Reporter richtete sich auf und legte seinen Notizblock beiseite. Er hielt den Atem an und lauschte; dann stand er auf, bahnte sich widerstrebend einen Weg zwischen dem Solarskop und Beenays Kameras hindurch und trat ans Fenster.
Sein erschrockener Aufschrei zerriss die Stille: »Sheerin!«
Alle Arbeit kam mit einem Schlag zum Erliegen, und im Nu war der Psychologe an seiner Seite. Aton folgte ihm gleich darauf. Sogar Yimot 70, der erhöht und in Rückenlage auf dem Sitz am Okular seines riesigen Solarskops saß, hielt inne und blickte herunter.
Draußen bestand Beta nur noch aus einem schwach glimmenden Splitter – die Sonne warf einen letzten verzweifelten Blick auf Lagash. Der östliche Horizont, an dem die Stadt lag, war in Finsternis versunken, und die Straße, die von Saro zum Observatorium führte, war nur noch eine dunkelrote Linie, die auf beiden Seiten von bewaldeten Gebieten gesäumt wurde; die einzelnen Bäume waren kaum mehr zu erkennen und verschmolzen zu einer zusammenhängenden dunklen Masse.
Alle Aufmerksamkeit richtete sich nun allerdings die Straße selbst, denn da war eine andere Masse im Anmarsch, finster und über alle Maßen furchterregend.
»Die Wahnsinnigen aus der Stadt!«, rief Aton mit sich überschlagender Stimme. »Sie sind gekommen!«
»Wie lange noch bis zur Totalen?«, wollte Sheerin wissen.
»Fünfzehn Minuten, aber ... die werden in fünf Minuten hier sein.«
»Kümmern Sie sich nicht darum, sondern sorgen Sie dafür, dass die Männer weiterarbeiten. Wir werden sie aufhalten. Dieses Gebäude ist wie eine Festung. Aton, behalten sie auf alle Fälle den jungen Kultisten im Auge. Theremon, kommen Sie mit mir.«
Sheerin war bereits zur Tür hinaus, und Theremon heftete sich an seine Fersen. Unter ihnen wand sich die Wendeltreppe in engen Kurven in die Tiefe, und in der feuchtkalten, grauen Düsternis war schon nach kurzer Zeit kaum noch etwas zu erkennen.
In der ersten Eile waren sie rasch etwa fünfzehn Meter tiefer gelangt; die Tür zur Kuppel mit ihrem schwachen, flackernden gelben Lichtschein war verschwunden, und von oben und von unten erdrückte sie das gleiche schattige Dunkel.
Sheerin blieb stehen und fasste sich mit seinen dicken Fingern an die Brust. Seine Augen traten hervor, und seine Stimme war nur ein trockenes Keuchen. »Kann nicht ... atmen ... Gehen Sie ... allein runter. Alle Türen schließen ...«
Theremon lief einige Schritte weiter hinunter und drehte sich dann um. »Warten Sie! Können Sie noch eine Minute durchhalten?« Auch sein Atem ging schwer. Die Luft in seinen Lungen war zäh wie Sirup, und bei der Vorstellung, ganz allein in die rätselhafte Dunkelheit hinabzusteigen, keimte entsetzliche Panik in ihm auf. Also hatte auch Theremon Angst vor der Dunkelheit!
»Bleiben Sie hier«, sagte er. »Ich bin gleich wieder da.« Mit jedem Schritt zwei Stufen nehmend rannte er nach oben. Sein Herz klopfte wie wild, und das nicht nur von der Anstrengung. Er stürzte in die Kuppel und riss eine Fackel aus ihrer Wandhalterung. Sie verströmte eine üblen Gestank, und vor lauter Rauch konnte er kaum noch etwas sehen, aber er umklammerte sie, als wollte er sie gleich mit Freudenküssen bedecken, und ihre Flamme loderte wie ein Schweif hinter ihm her, während er wieder die Stufen hinuntereilte.
Sheerin öffnete mit einem Stöhnen die Augen, als Theremon sich über ihn beugte. Theremon schüttelte ihn unbarmherzig. »Na los, reiß dich zusammen. Wir haben Licht.«
Er hielt die Fackel dicht über dem Boden und setzte, den schlotternden Psychologen am Ellbogen stützend, im schützenden Lichtkreis den Weg nach unten fort.
In den Büroräumen im Erdgeschoss gab es immer noch etwas Restlicht, und Theremon spürte, wie das Entsetzen ein wenig nachließ.
»Hier«, sagte er kurz angebunden und reichte Sheerin die Fackel. »Man kann die da draußen jetzt hören.«
Und so war es. Kurze Fetzen heiserer, wortloser Schreie.
Aber Sheerin hatte recht; das Observatorium war wie eine Festung gebaut. Es war im letzten Jahrhundert errichtet worden, als der neo-gavotische Baustil seinen hässlichen Höhepunkt erreicht hatte, und man hatte dabei mehr auf Festigkeit und Dauerhaftigkeit geachtet denn auf Ästhetik.
In die Fenster waren Gitter aus daumendicken Eisenstangen eingelassen, tief verankert in den Betonsimsen. Dem massiven Mauerwerk hätte selbst ein Erdbeben nichts anhaben können, und die Tür des Haupteingangs bestand aus wuchtigen Eichenbohlen und war an den entscheidenden Stellen mit Eisen verstärkt. Theremon schob die Bolzen vor, und mit einem dumpfen Knall rasteten sie ein.
Am anderen Ende des Flurs stieß Sheerin einen leisen Fluch aus. Er deutete auf das Schloss der Hintertür, das jemand aufgehebelt und dabei nahezu zerstört hatte.
»So muss Latimer hereingekommen sein«, sagte er.
»Nun, steh nicht einfach nur herum«, rief Theremon ungeduldig. »Hilf mir, die Möbel davorzuschieben – und bleib mir mit der Fackel vom Leib. Der Rauch bringt mich noch um.«
Noch während er sprach, wuchtete er den schweren Tisch gegen die Tür, und innerhalb von zwei Minuten hatte er eine Barrikade errichtet, die durch ihre schiere Masse wettmachte, was ihr an Ansehnlichkeit und systematischem Aufbau mangelte.
Irgendwo von Fern vernahmen sie schwach die Schläge nackter Hände gegen die Tür; die gellenden Schreie draußen hatten etwas Unwirkliches.
Nur zwei Dinge hatte diese wilde Horde im Sinn: Zum einen hoffte sie, das Observatorium zu zerstören und so die Erlösung zu erlangen, zum anderen wurde sie von nacktem Entsetzen getrieben, das sie fast lähmte. Sie dachte nicht an Bodenfahrzeuge, Waffen, an einen Anführer, und es gab keinerlei Organisation. Sie war zu Fuß zum Observatorium gelaufen und griff das Gebäude mit nackten Fäusten an.
Und gerade als die Menge dort angelangt war, flackerten Betas Strahlen ein letztes Mal auf, ein letzter Tropfen tiefroten Feuers fiel auf eine Menschheit, der nichts geblieben war als die schiere, allumfassende Angst!
Theremon stöhnte auf. »Lass uns wieder hoch zur Kuppel gehen!«
In der Kuppel war nur Yimot, der am Solarskop saß, an seinem Platz geblieben. Der Rest drängte sich um die Kameras, und Beenay gab mit heiserer, angestrengter Stimme Anweisungen.
»Reißt euch zusammen, Leute. Ich werde im allerletzten Augenblick vor der Totalen eine Aufnahme von Beta machen und dann die Platte wechseln. Damit bleibt an jeder Kamera einer von euch. Ihr alle wisst Bescheid, was die ... die Belichtungszeit angeht ...«
Ein atemloses Gemurmel antworte ihm.
Beenay hielt sich eine Hand über die Augen. »Brennen die Fackeln noch? Ah, alles klar, ich sehe sie!« Schwer sank er gegen eine Stuhllehne.
»Also denkt daran, versucht nicht ... versucht nicht besonders gute Einstellungen zu finden. Vergeudet keine Zeit damit, z-zwei Sterne auf einmal vor die Linse zu bekommen. Einer genügt. Und ... wenn ihr merkt, dass ihr die Kontrolle verliert, macht, dass ihr von den Kameras wegkommt.«
An der Tür angelangt flüsterte Sheerin Theremon zu: »Bring mich zu Aton. Ich sehe ihn nicht.«
Der Zeitungsmann antwortete nicht sogleich. Die schemenhaften Gestalten der Astronomen schwankten und verschwammen, und die Fackeln waren zu gelben Klecksen geschrumpft.
»Es ist dunkel«, wimmerte er.
Sheerin streckte seine Hand aus. »Aton.« Er stolpert vorwärts. »Aton.«
Theremon folgte ihm und griff nach seinem Arm. »Warten Sie, ich bringe Sie hin.«
Irgendwie schaffte er es, sich einen Weg durch den Raum zu bahnen. Er verschloss seine Augen vor der Dunkelheit und seinen Geist vor dem Chaos darin.
Niemand hörte oder achtete auf sie. Sheerin stolperte gegen die Wand. »Aton!«
Der Psychologe spürte, wie ihn zitternde Hände kurz berührten, und hörte dann eine Stimme: »Sind Sie das, Sheerin?«
»Aton!« Er kämpfte darum, normal zu atmen. »Machen Sie sich um die Meute da unten keine Sorgen. In dieses Gebäude kommen sie nicht hinein.«
Latimer, der Kultist, sprang auf, sein Gesicht eine Maske der Verzweiflung. Er hatte sein Wort gegeben, und durch einen Wortbruch würde er seine unsterbliche Seele in Gefahr bringen. Doch das Versprechen war ihm abgenötigt worden, er hatte es keineswegs freiwillig abgelegt. Bald würden die Sterne kommen! Er konnte nicht einfach nur dastehen und zulassen, dass ... Aber dennoch, er hatte sein Wort gegeben.
Beenays blickte zu Betas letzten Strahlen empor; sein Gesicht war von einer sanften Röte überzogen, und als Latimer sah, wie er sich über seine Kamera beugte, traf er seine Entscheidung. Vor lauter Anspannung bohrten sich die Fingernägel in das Fleisch seiner Handflächen.
Er schwankte wie ein Irrer, als er lospreschte. Vor ihm lag nichts als Schatten; selbst der Boden unter seinen Füßen hatte jede Substanz verloren. Und dann war jemand über ihm, packte ihn an der Kehle, und er ging zu Boden.
Er zog sein Knie an und rammte es dem Angreifer mit voller Kraft in den Unterleib. »Lass mich los, oder ich bring dich um!«
Theremon schrie laut auf und stammelte, blind und wirr vor Schmerzen: »Du miese, verlogene Ratte!«
Und dann schien es dem Reporter, als geschähe alles gleichzeitig. Er hörte Beenay krächzen: »Ich hab’s. An die Kameras, Leute!«, und dann überkam ihn die eigenartige Erkenntnis, dass der letzte dünne Faden Sonnenlicht abgerissen war.
Gleichzeitig hörte er Beenay ein letztes Mal röcheln und Sheerin einen seltsamen leisen Schrei ausstoßen, ein hysterisches Kichern, das abrupt in einem Krächzen endete – und dann nur noch Stille. Auch draußen herrschte ein seltsames, tödliches Schweigen.
Latimer war in seinem sich lockernden Griff erschlafft, und Theremon blickte in die gen Himmel starrenden Augen, in die Schwärze weit geöffneter Pupillen; der schwache gelbliche Schein der Fackeln spiegelte sich darin. Auf Latimers Lippen bildeten sich kleine Schaumblasen, und seiner Kehle entwich ein leises, animalische Wimmern.
Langsam erfasste ihn die Faszination der Furcht. Er stützte sich auf einem Arm auf und blickte hoch, hin zur der grauenhaften Finsternis des Fensters.
Und da sah er die Sterne!
Nicht die schwachen dreitausendsechshundert Sterne, die man von der Erde mit bloßem Auge sehen kann. Dreißigtausend gewaltige Sonnen schienen auf ihn herab, deren Pracht die Seele versengte und deren kalte Gleichgültigkeit furchterregender war als der bittere Wind, der über die entsetzlich düstere Welt fegte.
Theremon kam stolpernd auf die Beine, die Kehle zugeschnürt; sämtliche Muskeln seines Körpers verkrampften sich unter diesem wahnsinnigen, unerträglichen Schrecken. Er wusste, dass er den Verstand verlor, und irgendwo tief in seinem Inneren blieb noch ein letztes bisschen Klarheit, ein letzter Gedanke schrie auf und wehrte sich verzweifelt gegen den schwarzen Wahnsinn. Denn dies war wahrlich die Finsternis – die Finsternis und die ewige Kälte und Verdammnis. Die hellen Mauern des Universums waren zerschmettert worden, und ihre grauenhaften dunklen Überreste stürzten auf ihn herab, ihn zu zermalmen und zu zerquetschen und vollkommen auszulöschen.
Er stieß auf jemanden, der auf Händen und Knien dahinkroch, kletterte aber irgendwie über ihn hinweg. Seine Hände tasteten nach seiner zerquälten Kehle, und wie im Wahn wankte er vorwärts, auf die flammenden Fackeln zu, die alles waren, was er noch sehen konnte.
»Licht!«, schrie er.
Irgendwo konnte man Aton weinen hören, ein grässliches Wimmern wie von einem zutiefst verängstigten Kind. »Sterne – all die Sterne – und wir haben nichts davon gewusst. Wir haben überhaupt nichts gewusst. Wir dachten, sechs Sterne in einem Universum ist schon was, die Sterne nahmen überhaupt keine Notiz, das ist die ewige Dunkelheit, ewig, ewig, und die Wände stürzen ein, und wir haben es nicht gewusst, wir konnten es nicht wissen und gar nicht ...«
Jemand griff nach der Fackel, und sie fiel zu Boden und erlosch. Mit einem Satz stürzte die grauenhafte Pracht der gleichgültigen Sterne noch weiter auf sie zu.
Draußen, in der Richtung, in der Saro-Stadt lag, schimmerte schwach ein rötlicher Schein am Horizont, wurde heller, und es war nicht der Schein einer Sonne.
Die lange Nacht war wieder angebrochen.