Clifford D. Simak
ZUFLUCHT
Der Nieselregen fiel aus den bleiernen Wolken wie Rauch, der durch entblätterte Bäume treibt. Er zeichnete die Konturen der Hecken weicher, ließ die Umrisse der Gebäude verschwommen erscheinen und versperrte den Blick in die Ferne. Er glitzerte auf den metallenen Oberflächen der schweigenden Roboter und tauchte die Schultern der drei Menschen in Silber, die den Worten des schwarzgekleideten Mannes lauschten, der aus dem Buch las, das er in den Händen hielt.
»Denn ich bin die Auferstehung und das Leben ...«
Die moosbewachsene Grabfigur, die über der Tür der Krypta emporragte, schien sich nach oben zu recken; jeder Kristall des aufwärtsstrebenden Körpers schien nach etwas zu greifen, das niemand sonst sehen konnte. Nach oben gereckt wie seit jenem weit zurückliegenden Tag, an dem Menschen die Figur aus dem Granit gehauen hatten, um das Familiengrab mit einem Symbol zu schmücken. Ein Symbol für all das, was die letzten Lebensjahre des ersten John J. Webster verschönert hatte.
»Und wer auch immer lebt und an mich glaubt ...«
Jerome A. Webster spürte den festen Griff seines Sohnes an seinem Arm, hörte das leise Schluchzen seiner Mutter, sah die Reihe der bewegungslosen Roboter, die den Kopf beugten – aus Respekt vor dem Herrn, dem sie gedient hatten. Ihr Herr ging nun nach Hause, das letzte Zuhause für alle.
Benommen fragte sich Jerome A. Webster, ob sie verstanden – ob sie Leben und Tod verstanden –, ob sie verstanden, was es bedeutete, dass Nelson F. Webster hier in dem Sarg lag, dass ein Mann mit einem Buch Worte über ihn anstimmte.
Nelson F. Webster, der vierte des Webster-Zweigs, der auf diesem Gut gelebt hatte, der hier gelebt hatte und gestorben war, der es kaum einmal verlassen hatte – und jetzt fand er seine letzte Ruhestätte an dem Ort, den der erste von ihnen für alle übrigen vorbereitet hatte; für die lange Reihe der schattenhaften Nachkommen, die hier leben würden und all die Dinge und die Lebensweise pflegen würden, die John J. Webster begründet hatte.
Jerome A. Webster spürte, wie sich seine Kiefermuskeln spannten, spürte, wie ein leichtes Zittern seinen Körper erfasste. Einen Moment lang brannten ihm die Augen, der Sarg flimmerte, und die Worte, die der Mann in Schwarz sagte, wurden eins mit dem Wind, der in den Pinien flüsterte, die wie zur Totenwache dastanden. In seinem Kopf marschierten Erinnerungen – Erinnerungen an einen grauhaarigen Mann, wie er über Hügel und Felder schritt, wie er den Lufthauch eines jungen Morgens schnupperte, wie er breitbeinig, mit einem Glas Weinbrand in der Hand, vor dem flackernden Kaminfeuer stand.
Stolz – der Stolz auf Land und Leben; und die Bescheidenheit und die Größe, die ein ruhiges Leben in einem Menschen hervorbringt. Die Zufriedenheit gelegentlicher Mußestunden und die Sicherheit des Wollens. Die Unabhängigkeit ausgeprägter Gewissheit, die Annehmlichkeit vertrauter Umgebung, die Freiheit großer Güter.
Thomas Webster stieß ihn mit dem Ellbogen an. »Vater«, flüsterte er. »Vater.«
Der Gottesdienst war vorbei. Der schwarzgekleidete Mann hatte sein Buch geschlossen. Sechs Roboter traten vor und hoben den Sarg.
Gemessenen Schritts folgten die drei dem Sarg in die Gruft, standen stumm, während die Roboter ihn in seine Kammer gleiten ließen, die winzige Tür schlossen und die Platte anbrachten, auf der zu lesen war:
NELSON F. WEBSTER
2034–2117
Das war alles. Nur der Name und die Jahreszahlen. Und das, so dachte Jerome A. Webster bei sich, war genug. Es gab nichts, was sonst dort hätte stehen müssen. Wie bei allen anderen auch. All jene, die in der Familienchronik aufgeführt waren – sie begann mit William Stevens, 1920–1999. Opa Stevens hatten sie ihn genannt, so erinnerte Webster sich. Vater der Ehefrau des ersten John J. Webster, der selbst in dieser Gruft lag: 1951–2020. Und nach ihm sein Sohn, Charles F. Webster, 1980–2060. Und dessen Sohn, John J. II, 2004–2086. Webster konnte sich an John J. II erinnern – ein Großvater, der mit der Pfeife im Mundwinkel neben dem Kamin schlief, immer in Gefahr, dass seine Barthaare Feuer fingen.
Websters Augen schweiften zu einem anderen Schild. Mary Webster, die Mutter des Jungen an seiner Seite. Und doch kein Junge mehr. Er vergaß beständig, dass Thomas jetzt zwanzig war. In rund einer Woche würde er zum Mars aufbrechen, so wie er selbst in jüngeren Jahren zum Mars aufgebrochen war.
Hier sind sie alle beisammen, sagte er zu sich selbst. Die Websters und ihre Frauen und Kinder. Hier im Tod beisammen, wie sie zusammen gelebt hatten: Sie schliefen inmitten des Stolzes und der Sicherheit von Bronze und Marmor, mit den Pinien draußen und der symbolischen Figur über der mit den Jahren grün gewordenen Tür.
Die Roboter warteten, standen stumm, jetzt, da ihre Pflicht getan war.
Seine Mutter schaute ihn an.
»Jetzt bist du das Oberhaupt der Familie, mein Sohn«, sagte sie zu ihm.
Er streckte die Arme aus und drückte sie fest an seine Brust. Oberhaupt der Familie – was davon übrig geblieben war. Jetzt waren sie nur noch zu dritt. Seine Mutter und sein Sohn. Und sein Sohn würde sie bald verlassen und auf den Mars gehen. Aber er würde zurückkehren, mit einer Frau vielleicht, und die Familie würde weiterbestehen. Die Familie würde nicht zu dritt bleiben. Die meisten Räume des großen Hauses würden nicht verschlossen bleiben, wie sie jetzt verschlossen waren. Es hatte eine Zeit gegeben, da war das Haus vom Leben eines Dutzend Familienmitglieder erfüllt gewesen; sie hatten in getrennten Wohnungen unter einem einzigen großen Dach gelebt. Diese Zeit, das wusste er, würde wiederkehren.
Die drei drehten sich um und verließen die Gruft, schlugen den Pfad zurück zum Haus ein, das wie ein großer grauer Schatten im Nebel aufragte.
Im Kamin loderte das Feuer, und das Buch lag auf seinem Schreibtisch. Jerome A. Webster beugte sich hinüber und hob es hoch, las den Titel noch einmal: Die Physiologie der Marsbewohner, unter besonderer Berücksichtigung des Gehirns von Dr. med. Jerome A. Webster.
Dick und respekteinflößend – das Werk eines ganzen Lebens. Auf seinem Gebiet fast einzigartig. Auf Daten basierend, die während der fünf Seuchenjahre auf dem Mars gesammelt worden waren – Jahre, in denen er fast Tag und Nacht zusammen mit seinen Kollegen der medizinischen Kommission des Weltkomitees, zu einer Hilfsaktion auf den Nachbarplaneten entsandt, gearbeitet hatte.
An der Tür klopfte es.
»Herein!«, rief er.
Die Tür öffnete sich, und ein Roboter glitt hindurch. »Ihr Whisky, Sir.«
»Danke, Jenkins«, sagte Webster.
»Der Pfarrer ist gegangen, Sir«, sagte Jenkins.
»Ach ja. Ich nehme an, du hast dich gut um ihn gekümmert.«
»Das habe ich, Sir. Habe ihm die übliche Gebühr gegeben und etwas zu trinken angeboten. Das Getränk hat er abgelehnt.«
»Das war ein Fehler im Umgang«, erklärte Webster ihm. »Pfarrer trinken nicht.«
»Es tut mir leid, Sir. Das wusste ich nicht. Er bat mich, Sie zu bitten, gelegentlich in die Kirche zu kommen.«
»Hmm?«
»Ich sagte ihm, Sir, dass Sie niemals irgendwohin gehen.«
»Das war richtig so, Jenkins«, sagte Webster. »Keiner von uns geht jemals irgendwohin.«
Jenkins ging zur Tür, blieb stehen, bevor er sie erreichte, drehte sich um. »Wenn ich so sagen darf, Sir, der Gottesdienst in der Gruft war ergreifend. Ihr Vater war ein guter Mensch, der beste, den es je gab. Die Roboter sagten, dass der Gottesdienst sehr angemessen war. Irgendwie würdevoll, Sir. Wenn er dabei gewesen wäre, hätte es ihm gefallen.«
»Mein Vater«, sagte Webster, »hätte sich sogar noch mehr gefreut, wenn er dich das hätte sagen hören, Jenkins.«
»Danke, Sir«, sagte Jenkins und ging hinaus.
Webster setzte sich mit dem Whisky und dem Buch ans Feuer – er fühlte die Behaglichkeit des wohlvertrauten Zimmers ganz tief im Innern, fühlte die Sicherheit, die darin lag.
Das war sein Zuhause. Für die Websters war es seit dem Tag ihr Zuhause gewesen, als der erste John J. hierhergekommen war und die ersten Zimmer des wachsenden Hauses gebaut hatte. John J. hatte den Platz ausgewählt, weil es hier einen Forellenbach gab – jedenfalls hatte er das immer gesagt. Aber es war mehr als das. Unbedingt, dachte Webster sich, es muss mehr als das gewesen sein.
Oder vielleicht war es anfangs nur der Forellenbach gewesen. Der Forellenbach und die Bäume, und die Wiesen und der Felskamm, wo jeden Morgen der Nebel vom Fluss herüberzog. Vielleicht war alles Übrige gewachsen, allmählich mit den Jahren gewachsen, mit den Jahren der Vereinigung der Familie, bis schließlich ebendiese Erde mit etwas getränkt war, das nahezu – wenn auch nicht ganz – Tradition war. Etwas, das aus jedem Baum, jedem Felsen, jedem Fußbreit Erde einen Webster-Baum, einen Webster-Felsen oder eine Webster-Scholle gemacht hatte. Es gehörte alles zusammen.
John J., der erste John J., war nach der Auflösung der Städte hierhergekommen; nachdem die Menschen ein für allemal die Zufluchtsorte des zwanzigsten Jahrhunderts aufgegeben hatten. Sie hatten sich freigemacht vom Stammesinstinkt, sich gegen einen gemeinsamen Feind oder gegen eine gemeinsame Furcht in einer Höhle oder auf einer Lichtung zusammenzuschließen. Ein Instinkt, der überholt war, denn es gab weder Feinde noch Furcht. Der Mensch erhob sich gegen den Herdeninstinkt, den ihm wirtschaftliche und gesellschaftliche Bedingungen in vergangenen Epochen aufgezwungen hatten. Eine neue Sicherheit und ein neuer Wohlstand machten den Aufbruch möglich.
Diese Entwicklung hatte vor langer Zeit im zwanzigsten Jahrhundert begonnen; vor mehr als zweihundert Jahren zogen die Menschen aufs Land, der frischen Luft und der Bewegungsfreiheit wegen – einer Lebensqualität, die ihnen das städtische Leben nie gegeben hatte.
Und hier war das Endergebnis. Ein ruhiges Leben. Ein Friede, der nur zusammen mit angenehmen Dingen Bestand haben konnte. Eine Art zu leben, nach der sich die Menschen seit Jahren gesehnt hatten. Ein herrschaftliches Leben, das auf alten Familienhäusern und beschaulichen Landgütern beruhte, mit Atomenergie und Robotern anstelle von Dienern.
Webster lächelte angesichts des Kamins und der flammenden Holzscheite. Das war ein Anachronismus, aber ein schöner – etwas, das die Menschen aus den Höhlen mitgebracht hatten. Unnütz, weil die Atomheizung besser war – aber so war es angenehmer. Man konnte nicht vor der Atomkraft sitzen, sie beobachten, träumen, Schlösser bauen und in den Flammen Gestalten sehen, Gesichter.
Genau wie die Gruft dort draußen, wo sie seinen Vater an diesem Nachmittag zu Grabe getragen hatten. Auch das war Familie. Alles hing miteinander zusammen. Der düstere Stolz und das müßige Leben und der Friede. Früher wurden die Toten alle zusammen auf großen Grundstücken begraben, ein Fremder Seite an Seite mit einem Fremden ...
Er geht niemals irgendwohin.
Das hatte Jenkins dem Pfarrer gesagt.
Und das stimmte auch. Denn welchen Zweck hatte es, irgendwohin zu gehen? Hier gab es doch alles. Man brauchte nur eine Wählscheibe zu drehen und konnte sich von Angesicht zu Angesicht mit jedem gewünschten Gesprächspartner unterhalten, konnte mit den Sinnen, wenn schon nicht körperlich, an jeden gewünschten Ort gehen. Konnte ein Theater besuchen, ein Konzert hören oder in einer Bibliothek auf der anderen Seite des Globus herumschmökern.
Webster trank seinen Whisky und wandte sich dann dem Apparat neben seinem Schreibtisch zu.
Aus dem Gedächtnis drehte er die Scheiben, ohne auf das Verzeichnis zurückzugreifen. Er wusste, wohin er wollte.
Sein Finger legte einen Hebel um, und das Zimmer verschwamm allmählich – oder schien zu verschwimmen. Der Sessel, in dem er saß, blieb übrig, ein Teil des Schreibtischs, ein Teil des Apparats – und das war alles.
Der Sessel stand auf dem Hang eines Hügels, der mit goldenem Gras bedeckt war und auf dem einige dürre, windschiefe Bäume wuchsen. Der Hang erstreckte sich hinab bis zu einem See, der sich in die purpurfarbenen Ausläufer des Gebirges schmiegte. Die Berge, durch breite Streifen bläulich-grüner Pinienwälder dunkel gefärbt, stiegen in unregelmäßigen Stufen an. Sie verschmolzen mit den blaugetönten, schneebedeckten Gipfeln, die hinter und über ihnen wie ein gezacktes Sägeblatt aufragten.
Der Wind fuhr rau durch die geduckten Bäume und zauste mit jähen Böen das Gras. Die letzten Strahlen der Sonne schlugen Feuer aus den weit entfernten Berggipfeln.
Einsamkeit und Größe, die langen Flächen des zerklüfteten Landes, der romantische See, die messergleichen Schatten der weit entfernten Bergketten.
Webster saß entspannt in seinem Sessel und blinzelte beim Anblick der Gipfel.
Fast unmittelbar neben seiner Schulter sagte eine Stimme: »Darf ich reinkommen?«
Eine weiche, zischende Stimme, ganz und gar nicht menschlich. Aber eine Stimme, die Webster kannte.
Er nickte. »Aber natürlich, Juwain.«
Er drehte sich ein wenig und sah das kunstvoll gearbeitete Sitzpostament und den pelzigen, sanftäugigen Marsianer, der darauf kauerte. Fremdartige Möbel zeichneten sich undeutlich dahinter ab, die Einrichtung der Marswohnung war nur zu erahnen.
Der Marsianer wies mit der pelzigen Hand auf die Gebirgskette.
»Du liebst es«, sagte er. »Du kannst es verstehen. Und ich kann verstehen, wieso du es verstehst; aber für mich birgt es mehr Schrecken als Schönheit. Das ist etwas, das wir auf dem Mars nie haben konnten.«
Webster streckte eine Hand aus, aber der Marsianer bremste seine Bewegung.
»Lass es an«, sagte er. »Ich weiß, warum du hierhergekommen bist. Ich wäre nie zu einer solchen Zeit hierhergekommen, außer vielleicht mit dem Gedanken, dass ein alter Freund ...«
»Das ist nett von dir«, sagte Webster. »Ich bin froh, dass du gekommen bist.«
»Dein Vater«, sagte Juwain, »war ein großer Mann. Ich erinnere mich, wie du mir während der Jahre, die du auf dem Mars verbracht hast, von ihm erzählt hast. Damals hast du gesagt, du würdest einmal zurückkommen. Wie kommt es, dass du nie zurückgekehrt bist?«
»Nun«, erwiderte Webster, »ich bin einfach nie ...«
»Sag’s mir nicht«, unterbrach der Marsianer. »Ich weiß es schon.«
»Mein Sohn«, sagte Webster, »fliegt in wenigen Tagen zum Mars. Ich werde ihn bitten, dich aufzusuchen.«
»Das würde mich freuen«, sagte Juwain. »Ich werde ihn erwarten.«
Unruhig rutschte er auf dem Postament hin und her. »Vielleicht führt er die Tradition fort.«
»Nein«, sagte Webster. »Er studiert Ingenieurwissenschaften. Die Chirurgie hat ihn nie interessiert.«
»Er hat ein Recht darauf«, bemerkte der Marsianer, »sein eigenes Leben zu leben. Dennoch, es muss erlaubt sein, dass man sich etwas wünscht.«
»Das darf man«, stimmte Webster zu. »Aber damit ist es aus und vorbei. Vielleicht wird er einmal ein bedeutender Ingenieur. Ein Raumingenieur. Er spricht von Schiffen, die zu den Sternen fliegen.«
»Vielleicht hat deine Familie genug für die medizinische Wissenschaft getan«, gab der Marsianer zu bedenken. »Du und dein Vater ...«
»Und dessen Vater vor ihm«, warf Webster ein.
»Seit du dein Buch geschrieben hast«, erklärte Juwain, »steht der Mars tief in deiner Schuld. Vielleicht wird nun der marsianischen Eigenart mehr Aufmerksamkeit geschenkt. Meine Leute sind keine guten Mediziner. Merkwürdig, wie sich der Verstand der Spezies entwickelt. Merkwürdig, dass die Marsianer nie an Medizin gedacht haben. Im Wortsinn nie daran gedacht. Stattdessen haben wir diese Notwendigkeit mit einem fatalistischen Kult kompensiert. Während ihr sogar in eurer Frühgeschichte, als die Menschen noch in Höhlen lebten ...«
»Es gibt viele Dinge«, sagte Webster, »an die ihr gedacht habt – und wir nicht. Dinge, bei denen wir uns heute fragen, wie wir je ohne sie ausgekommen sind. Fähigkeiten, die ihr entwickelt habt und die wir nicht besitzen. Nimm nur dein eigenes Spezialgebiet, Philosophie. Sie ist anders als die unsere: eine Wissenschaft. Während unsere nie mehr war als strukturiertes Tasten. Eure Entwicklung der Philosophie war systematisch, logisch, praktisch, anwendbar, ein wirkliches Werkzeug.«
Juwain begann zu sprechen, zögerte, sprach dann weiter. »Ich nähere mich da einer Sache, etwas, das neu und verblüffend sein kann. Etwas, das für Menschen und Marsianer gleichermaßen ein Werkzeug sein kann. Ich habe Jahre daran gearbeitet. Ich habe mit bestimmten geistigen Begriffen angefangen, zu denen ich durch die Ankunft der Erdmenschen angeregt wurde. Ich habe nichts davon gesagt, weil ich nicht sicher sein konnte.«
»Und jetzt«, vermutete Webster, »jetzt bist du sicher.«
»Noch nicht ganz«, sagte Juwain, »nicht endgültig. Aber fast.«
Schweigend saßen sie da und beobachteten die Berge und den See. Ein Vogel flog heran, setzte sich in einen der dürren Bäume und zwitscherte. Dunkle Wolken ballten sich jenseits der Gebirgsketten zusammen, die schneebedeckten Gipfel ragten wie Grabsteine auf. Die Sonne versank in einem See von Blutrot und erlosch schließlich wie das Glühen eines heruntergebrannten Feuers.
Es klopfte an einer Tür, und Webster fuhr in seinem Sessel zusammen; plötzlich war er wieder in die Realität des Arbeitszimmers zurückversetzt und spürte den Sessel unter sich.
Juwain war verschwunden. Der greise Philosoph war gekommen, hatte mit seinem Freund eine Stunde der Besinnung verbracht und war dann leise davongeglitten.
Es klopfte noch einmal.
Webster beugte sich vor, legte den Schalter um – und die Berge verschwanden; das Zimmer wurde wieder ein Zimmer. Dämmerung fiel durch die hohen Fenster herein, und das Feuer war nur noch ein hellrotes Flackern in der Asche.
»Herein!«, sagte Webster.
Jenkins öffnete die Tür. »Das Abendessen ist fertig, Sir«, sagte er.
»Danke«, sagte Webster. Langsam erhob er sich aus dem Sessel.
»Ihr Platz, Sir«, sagte Jenkins, »ist von nun an am oberen Ende des Tisches.«
»Ach ja«, sagte Webster. »Danke, Jenkins. Vielen Dank, dass du mich daran erinnert hast.«
Webster stand an der breiten Rampe des Raumhafens und beobachtete die Rakete, die am Himmel immer kleiner wurde. Rote, schwach flackernde Lichtpunkte durchbohrten den winterlichen Sonnenschein.
Noch mehrere Minuten, nachdem die Rakete verschwunden war, stand er da; seine Hände hielten die Brüstung vor ihm umklammert, seine Augen starrten weiter gen Himmel.
Seine Lippen bewegten sich und sagten: »Auf Wiedersehen, mein Sohn.« Aber es war kein Laut zu hören.
Allmählich wurde er sich seiner Umgebung bewusst. Bemerkte, das sich Leute rund um die Rampe bewegten; sah, dass das Landefeld sich bis zum fernen Horizont zu erstrecken schien, da und dort von buckligen Gegenständen getupft – den wartenden Raumschiffen. Dahinflitzende Traktoren arbeiteten nahe bei einem Hangar und räumten die Reste des Schneefalls der vergangenen Nacht fort.
Webster schauderte und wunderte sich darüber, denn die Mittagssonne war warm. Und er erschauderte noch einmal.
Langsam wandte er sich von der Brüstung ab und ging auf das Verwaltungsgebäude zu. Einen schrecklichen Moment lang empfand er plötzlich Angst – eine unvernünftige und überraschende Angst, die ihn innerlich frösteln ließ, während er auf die Tür zuschritt.
Ein Mann, der eine Aktenmappe in der Hand schwenkte, kam auf ihn zu. Als er ihn sah, wünschte Webster inbrünstig, der Mann möge ihn nicht ansprechen.
Der Mann sagte nichts, blickte ihn beim Vorbeigehen kaum an, und Webster war erleichtert.
Sobald er wieder zu Hause wäre, sagte Webster sich, würde er zu Mittag essen und wäre dann für sein Mittagsschläfchen bereit. Das Feuer würde auf dem Rost lodern, und die Kaminfließen würden das Flackern der Flammen widerspiegeln. Jenkins würde ihm einen Likör bringen und ein oder zwei Worte sagen – unverbindliches Gerede.
Er eilte auf die Tür zu, beschleunigte seine Schritte, ängstlich bemüht, der Kälte der wuchtigen Rampe zu entkommen.
Seltsam, wie er sich wegen Thomas gefühlt hatte. Ganz natürlich, dass er ihn nur ungern gehen ließ. Aber es war völlig unnatürlich, dass er in diesen letzten Minuten eine solch schreckliche Angst in sich aufsteigen fühlte. Angst vor der Reise durch den Raum, Angst vor dem fremdartigen Mars – obwohl der Mars kaum noch fremdartig war. Über ein Jahrhundert lang erforschten die Menschen ihn nun schon, kämpften gegen ihn, lebten mit ihm; manche von ihnen hatten es sogar so weit gebracht, ihn zu lieben.
Aber nur äußerste Willensanstrengung hatten ihn in diesen letzten Sekunden vor dem Start des Schiffes daran gehindert, auf das Startfeld zu laufen, laut nach Thomas zu rufen; ihn anzuflehen, zurückzukommen, nicht fortzugehen.
Denn das wäre selbstverständlich unvorstellbar gewesen. Es wäre so etwas wie seelischer Exhibitionismus gewesen, demütigend und erniedrigend – etwas, das ein Webster nicht tun konnte.
Denn schließlich, so sagte er sich, war eine Reise zum Mars kein großes Abenteuer, jedenfalls jetzt nicht mehr. Es gab eine Zeit, da war sie es noch gewesen, aber diese Zeit war unwiderruflich vorüber. Er selbst hatte in jungen Jahren eine Reise zum Mars unternommen, war dort fünf lange Jahre geblieben. Das war schon – er atmete schwer, als er daran dachte – das war schon fast dreißig Jahre her.
Das Murmeln und Summen der Halle schlug ihm entgegen, als der Robot-Angestellte ihm die Tür öffnete; in dieses Gemurmel mischte sich ein Klang, der in ihm fast so etwas wie Entsetzen hervorrief. Einen Moment lang zögerte er, dann trat er ein. Sanft schloss sich die Tür hinter ihm.
Er blieb nahe an der Wand, um den Leuten nicht im Weg zu sein, und ging auf einen Sessel in einer Ecke zu. Er setzte sich und ließ sich zurücksinken, zwang seinen Körper tief in die Kissen hinein und beobachtete das quirlige Treiben der Menschen, die durch den Raum wimmelten.
Laute Leute, eilige Leute, Leute mit fremden, ungewöhnlichen Gesichtern. Fremde – jeder von ihnen. Kein Gesicht, das er kannte. Leute, die verreisten. Ihr Ziel waren die Planeten. Sie hatten es eilig. Und sorgten sich um die letzten Einzelheiten. Hasteten hin und her.
Aus der Menge tauchte ein vertrautes Gesicht auf. Webster beugte sich nach vorn.
»Jenkins!«, rief er und bedauerte sofort die laute Äußerung, obwohl niemand sie bemerkt zu haben schien.
Der Roboter bewegte sich auf ihn zu, stand vor ihm.
»Richte Raymond aus«, sagte Webster, »dass ich unverzüglich zurückkehren muss. Trage ihm auf, sofort den Copter zu holen.«
»Es tut mir leid, Sir«, sagte Jenkins, »aber wir können nicht gleich weg. Die Mechaniker haben einen Defekt in der nuklearen Brennkammer entdeckt. Sie installieren gerade eine neue. Es wird mehrere Stunden dauern.«
»Bestimmt kann das noch etwas warten«, meinte Webster ungehalten.
»Der Mechaniker hat das bestritten, Sir«, sagte Jenkins. »Sie könnte jede Minute hochgehen. Die ganze Energie ...«
»Ja, ja«, stimmte Webster ungeduldig zu. »Ich glaube das schon. Er muss es schließlich wissen.«
Unruhig spielte er mit seinem Hut. »Mir fällt gerade ein«, sagte er, »dass ich noch etwas zu erledigen habe. Etwas, das sofort erledigt werden muss. Ich muss nach Hause. Ich kann nicht ein paar Stunden warten.«
Er rutschte vor auf die Sesselkante, den Blick auf die wogende Menge gerichtet.
Gesichter ... Gesichter ...
»Vielleicht können Sie per Televisor Bescheid sagen«, schlug Jenkins vor. »Einer der Roboter könnte das erledigen. Da ist eine Zelle ...«
»Warte, Jenkins«, sagte Webster. Er zögerte einen Augenblick. »Zu Hause gibt es nichts zu erledigen. Überhaupt nichts. Aber ich muss hin. Ich kann hier nicht bleiben. Wenn ich hier bleiben muss, werde ich wahnsinnig. Draußen auf der Rampe hatte ich Angst. Hier bin ich völlig durcheinander. Ich habe ein Gefühl – ein merkwürdiges, schreckliches Gefühl. Jenkins, ich ...«
»Ich verstehe, Sir«, sagte Jenkins. »Ihr Vater hatte es auch.«
Webster keuchte. »Mein Vater?«
»Jawohl, Sir, deshalb ist er nie irgendwohin gegangen. Er war etwa in Ihrem Alter, Sir, als er es herausfand. Er versuchte eine Reise nach Europa zu unternehmen – und konnte es nicht. Er war auf halbem Wege und kehrte wieder um. Er hatte einen Namen dafür.«
Webster saß in verblüfftem Schweigen da.
»Einen Namen dafür«, sagte er schließlich. »Selbstverständlich gibt es einen Namen dafür. Mein Vater hatte es. Mein Großvater – hatte er es auch?«
»Das kann ich nicht wissen, Sir«, sagte Jenkins. »Ich wurde erst geschaffen, als Ihr Großvater schon älter war. Aber er könnte es gehabt haben. Er ging auch nirgendwohin.«
»Dann verstehst du es«, sagte Webster. »Du weißt, wie es ist. Ich fühle mich, als ob ich krank würde – körperlich krank. Schau bitte, ob du einen Copter mieten kannst – irgend etwas, nur damit wir nach Hause können.«
»Jawohl, Sir«, sagte Jenkins.
Er war schon im Weggehen, aber Webster rief ihn zurück. »Jenkins, weiß sonst noch jemand davon? Jemand ...«
»Nein, Sir«, sagte Jenkins. »Ihr Vater hat es nie erwähnt. Und irgendwie merkte ich, dass ich es auch nicht erwähnen sollte.«
»Danke, Jenkins«, sagte Webster.
Webster lehnte sich wieder tief in den Sessel zurück; er fühlte sich verzweifelt, einsam und deplatziert. Einsam in einer Halle, die von Leben erfüllt war – eine Einsamkeit, die an ihm zehrte, die ihn haltlos und schwach machte.
Heimweh. Maßloses, schamloses Heimweh. Etwas, das gewöhnlich kleine Jungen empfinden, wenn sie zum ersten Mal ihr Zuhause verlassen, wenn sie zum ersten Mal nach draußen gehen, um der Welt entgegenzutreten.
Es gab ein komisches Wort dafür: Agoraphobie, die krankhafte Angst, inmitten offener Plätze zu sein; aus dem Griechischen, wörtlich: ›Die Angst vor dem Marktplatz.‹
Wenn er den Raum zur Televisor-Zelle durchquerte, könnte er ein Gespräch anmelden, mit seiner Mutter oder mit einem der Roboter sprechen; oder besser noch – einfach sitzen bleiben, den Raum anschauen, bis Jenkins wieder zu ihm kam.
Er versuchte aufzustehen, sank aber wieder zurück in den Sessel. Es hatte keinen Sinn. Einfach mit jemandem zu sprechen oder die vertraute Umgebung anzusehen, war nicht das Gleiche wie dort zu sein. Er konnte die Pinien in der Winterluft nicht riechen; oder das vertraute Knirschen des Schnees unter seinen Füßen hören; oder seine Hand ausstrecken und eine der mächtigen Eichen berühren, die längs des Pfads wuchsen. Er konnte weder die Wärme des Feuers spüren, noch das Sicherheit verleihende Gefühl des Dazugehörens, des Einsseins mit einem Landstrich und den Dingen dort.
Und doch – vielleicht würde es helfen. Nicht viel, möglicherweise, aber ein wenig. Er erhob sich zögernd aus dem Sessel und fröstelte. Die wenigen kurzen Schritte zu der Zelle erfüllten ihn mit Schrecken, einem fürchterlichen, überwältigenden Schrecken. Wenn er hinüber wollte, musste er rennen. Rennen: um den Blicken zu entfliehen, den fremdartigen Lauten, der qualvollen Nähe fremder Gesichter.
Unvermittelt setzte er sich wieder.
Die schrille Stimme einer Frau tönte schneidend durch die Halle, und er zuckte vor ihr zurück. Er fühlte sich schrecklich. Und wünschte, Jenkins würde sich beeilen.
Der erste Hauch des Frühlings drang durchs Fenster und erfüllte das Arbeitszimmer mit der Verheißung schmelzenden Schnees, wachsender Blätter und Blumen; er verhieß Wasservögel, die in Keilformation von Norden her über den blauen Himmel zogen, und Forellen, die in den Teichen auf Fliegen lauerten.
Webster hob den Blick von dem Papierstapel auf seinem Schreibtisch, schnupperte den Windhauch und spürte sein kühles Flüstern im Gesicht. Er streckte die Hand nach dem Weinbrandglas aus, doch es war leer, und er stellte es wieder zurück.
Er beugte sich wieder über die Papiere, nahm einen Bleistift und strich ein Wort durch.
Kritisch las er die letzten Absätze:
Die Tatsache, dass von den zweihundertundvierzig Menschen, die zu einem Besuch bei mir eingeladen waren – vorwiegend mit Anliegen, die mehr als nur normale Bedeutung hatten –, nur drei kommen konnten, beweist nicht unbedingt, dass bis auf diese drei alle Opfer der Agoraphobie sind. Einige mögen verständliche Gründe dafür gehabt haben, dass sie nicht in der Lage waren, meine Einladung anzunehmen. Aber es weist doch auf Folgendes hin: Menschen, die mit der Daseinsweise leben, die sich nach dem Zusammenbruch der Städte einbürgerte, sind mehr und mehr abgeneigt, die vertraute Umgebung zu verlassen. Ihr instinktiver Wunsch, in der Umgebung und inmitten der Besitztümer zu bleiben, die sie mit Zufriedenheit und Annehmlichkeit gleichsetzen, hat sich vertieft.
Was das Ergebnis einer solchen Entwicklung sein wird, kann niemand völlig klar vorhersehen; denn sie betrifft nur einen kleinen Teil der Erdbevölkerung. Bei den größeren Familien zwingt wirtschaftlicher Druck dazu, dass einige der Söhne ihr Glück entweder in anderen Regionen der Erde oder auf einem der anderen Planeten suchen. Viele andere suchen freiwillig Abenteuer und Glück im Weltraum, während wieder andere Berufe ergreifen, die ein sesshaftes Leben unmöglich machen.
Er blätterte die Seite um und machte sich an die nächste. Es war ein guter Aufsatz, das wusste er, aber er konnte nicht veröffentlicht werden, jetzt noch nicht. Vielleicht nach seinem Tod. Niemand, soweit er überblicken konnte, hatte je so klar die Entwicklung verstanden; niemand hatte die Tatsache, dass die Menschen selten ihr Haus verließen, zum Anlass für irgendwelche Überlegungen genommen. Warum sollten die Menschen denn ihre Häuser verlassen?
Gewisse Gefahren mögen in ...
Der Televisor direkt neben ihm summte, und er streckte die Hand nach dem Schalter aus.
Das Zimmer verschwamm, und er sah sich einem Mann gegenüber, der hinter einem Schreibtisch saß; fast so, als säße er auf der anderen Seite von Websters Schreibtisch. Ein grauhaariger Mann mit traurigen Augen hinter dicken Brillengläsern.
Einen Augenblick lang starrte Webster ihn nur an, während sich in seinem Gedächtnis etwas regte.
»Ist es möglich ...?«, fragte er, und der Mann lächelte ernst.
»Ich habe mich verändert«, sagte er. »Und Sie auch. Mein Name ist Clayborne. Erinnern Sie sich? Die marsianische Medizinische Kommission ...«
»Clayborne! Ich habe oft an Sie gedacht. Sie sind auf dem Mars geblieben.«
Clayborne nickte. »Ich habe Ihr Buch gelesen, Doktor. Ein sehr wichtiger Beitrag. Ich habe oft daran gedacht, selbst eins zu schreiben, aber ich hatte keine Zeit dazu. Wie auch immer, ich hab’s nicht getan. Sie haben’s besser gemacht. Vor allem die Abschnitte über das Gehirn.«
»Das marsianische Gehirn«, sagte Webster zu ihm, »hat mich immer fasziniert. Gewisse Besonderheiten. Ich fürchte, ich habe von den fünf Jahren mehr Zeit damit verbracht, als ich sollte, Aufzeichnungen darüber zu machen. Es gab andere Dinge zu tun.«
»Sie haben gute Arbeit geleistet«, sagte Clayborne. »Deshalb rufe ich Sie jetzt auch an. Ich habe einen Patienten – eine Gehirnoperation. Nur Sie können sie ausführen.«
Webster schluckte, seine Hände zitterten. »Bringen Sie ihn hierher?«
Clayborne schüttelte den Kopf. »Er kann nicht transportiert werden. Sie kennen ihn, glaube ich. Juwain, der Philosoph.«
»Juwain!«, stieß Webster hervor. »Er ist einer meiner besten Freunde. Noch vor wenigen Tagen haben wir miteinander gesprochen.«
»Der Anfall kam plötzlich«, sagte Clayborne. »Er hat nach Ihnen gefragt.«
Webster schwieg, ihm wurde kalt – eine eisige Kälte, die von einer unbekannten Stelle aus an ihm hochkroch. Eine Kälte, die ihm den Schweiß auf die Stirn trieb und ihn seine Fäuste zusammenballen ließ.
»Wenn Sie umgehend starten«, sagte Clayborne, »können Sie rechtzeitig hier sein. Ich habe mit dem Weltkomitee schon arrangiert, dass Sie sofort ein Schiff zu Ihrer Verfügung haben können. Größte Eile ist freilich vonnöten.«
»Aber ich«, sagte Webster gequält, »ich ... kann nicht kommen.«
»Sie können nicht kommen?!«
»Es ist unmöglich«, sagte Webster. »Ich bezweifle auf jeden Fall, dass meine Anwesenheit nötig ist. Bestimmt könnten Sie selbst ...«
»Ich kann das nicht«, sagte Clayborne. »Keiner kann es außer Ihnen. Kein anderer hat die Kenntnisse. Juwains Leben liegt in Ihren Händen. Wenn Sie kommen, lebt er. Wenn Sie nicht kommen, stirbt er.«
»Ich kann nicht in den Weltraum hinaus«, sagte Webster.
»Jeder kann in den Weltraum«, stieß Clayborne hervor. »Das ist nicht mehr wie früher einmal. Jede gewünschte Konditionierung ist möglich.«
»Aber Sie verstehen nicht«, bat Webster. »Sie ...«
»Nein, ich verstehe nicht«, sagte Clayborne. »Um ganz offen zu sein, ich verstehe es nicht, wenn jemand es ablehnt, das Leben seines Freundes zu retten ...«
Die beiden Männer starrten einander einen langen Augenblick an, keiner von beiden sagte etwas.
»Ich werde dem Komitee sagen, es soll das Schiff direkt zu Ihnen nach Hause schicken«, sagte Clayborne schließlich. »Ich hoffe, bis dahin werden Sie bereit sein zu kommen.«
Clayborne verschwand, und die Wand wurde wieder sichtbar – die Wand und die Bücher, die Gemälde und der Kamin, die wohlgeliebten Möbel, die Verheißung des Frühlings, die durchs offene Fenster hereinwehte.
Webster saß wie erstarrt in seinem Sessel und betrachtete die gegenüberliegende Wand.
Juwain, das pelzige, runzlige Gesicht, das zischende Flüstern, die Freundlichkeit und das Verständnis, die ihm eigen waren. Juwain – wie er nach dem Stoff griff, aus dem die Träume waren, und ihn formte: zu Logik, zu Lebens- und Verhaltensregeln. Juwain – wie er die Philosophie als Werkzeug benutzte, als Wissenschaft, als Weg zu einem besseren Leben.
Webster ließ sein Gesicht in die Hände sinken und kämpfte gegen den furchtbaren Schmerz an, der in ihm aufstieg.
Clayborne hatte ihn nicht verstanden. Man konnte nicht erwarten, dass er es verstand, denn woher sollte er es wissen? Und selbst, wenn er es wüsste, würde er es dann verstehen? Auch er selbst, Webster, hätte es bei einem anderen nicht verstanden, bevor er es bei sich selbst entdeckt hatte: die schreckliche Angst davor, den eigenen Kamin, das eigene Land, die eigenen Besitztümer und die kleinen selbsterrichteten Symbole zu verlassen. Und nicht nur er selbst, sondern ebenso alle anderen Websters. Angefangen mit dem ersten John J. hatten Männer und Frauen einen Kult des Lebens, eine Tradition der Verhaltensweisen aufgebaut.
Er, Jerome A. Webster, war als junger Mann zum Mars geflogen und hatte das psychologische Gift, das durch seine Adern floss, nicht gefühlt und auch nichts davon geahnt. Selbst nicht, als Thomas vor einigen Monaten zum Mars aufgebrochen war. Aber ein dreißig Jahre währendes beschauliches Leben an dem Zufluchtsort, den die Websters ihr Zuhause nannten, hatte es hervorgebracht, ohne dass er selbst es überhaupt bemerkt hätte. Tatsächlich hatte es dazu gar keine Gelegenheit gegeben.
Es war offensichtlich, wie es sich entwickelt hatte – jetzt war es glasklar. Gewohnheit und Denkmuster und die Gleichsetzung von Glück mit bestimmten Dingen – Dinge, die keinen Wert an sich darstellten, denen aber ein Wert beigemessen wurde; denen eine Familie über fünf Generationen hinweg einen definitiven, konkreten Wert zugeschrieben hatte.
Kein Wunder, dass andere Orte fremdartig erschienen; kein Wunder, dass anderen Horizonten mehr als ein Hauch von Schrecken innewohnte.
Und es gab nichts, was er dagegen tun konnte – nichts; das heißt: außer man fällte jeden Baum, brannte das Haus nieder und änderte den Lauf der Bäche und Flüsse. Selbst das mochte nicht ausreichen – selbst das ...
Der Televisor schnurrte, Webster hob den Kopf, streckte die Hand aus und betätigte den Kippschalter. Ein weißlicher Farbton erschien, aber es tauchte kein Bild auf. Eine Stimme sagte: »Geheimer Anruf. Geheimer Anruf.«
Webster schob ein Stück der Verkleidung des Apparats beiseite, drehte einige Scheiben, und hörte das Summen der Energie, die einen Schirm errichtete, durch den das Zimmer nach außen blockiert wurde.
»Geheimschaltung steht«, sagte er.
Das weiße Schimmern verschwand schlagartig, und ein Mann saß ihm gegenüber am Schreibtisch. Ein Mann, den er vorher viele Male in Televisor-Übertragungen und in den Tageszeitungen gesehen hatte.
Henderson, Präsident des Weltkomitees.
»Ich habe einen Anruf von Clayborne erhalten«, sagte Henderson.
Webster nickte wortlos.
»Er sagte mir, Sie würden sich weigern, zum Mars zu fliegen.«
»Ich habe mich nicht geweigert«, sagte Webster. »Als Clayborne sich abmeldete, war diese Frage offen geblieben. Ich sagte ihm, es wäre mir unmöglich, zum Mars zu gehen, aber er bestritt das, schien es nicht zu verstehen.«
»Webster, Sie müssen gehen«, sagte Henderson. »Sie sind der einzige Mensch, der die erforderlichen Kenntnisse des marsianischen Gehirns besitzt, um diese Operation durchzuführen. Wenn es sich um eine einfache Operation handeln würde, könnte es vielleicht jemand anders tun. Aber das ist nicht der Fall.«
»Das mag stimmen«, sagte Webster, »aber ...«
»Es geht nicht nur darum, ein Leben zu retten«, unterbrach ihn Henderson. »Auch wenn es sich um das Leben einer so bedeutenden Persönlichkeit wie Juwain handelt. Es geht um mehr. Juwain ist ein Freund von Ihnen, vielleicht hat er Ihnen etwas über seine Entdeckung angedeutet.«
»Ja«, sagte Webster, »ja, das hat er. Ein neues philosophisches Konzept.«
»Ein Konzept«, erklärte Henderson, »ohne das wir nicht sein können. Ein Konzept, das das Sonnensystem völlig verändern, das die Menschheit innerhalb von zwei Generationen hunderttausend Jahre vorwärtsbringen wird. Eine neue Sinngebung, die ein Ziel ansteuert, das wir bisher nicht erahnen konnten, von dessen Existenz wir nicht einmal wussten. Eine völlig neue Wahrheit. Eine Wahrheit, auf die bislang noch nie jemand gestoßen ist.«
Websters Hände krampften sich um die Schreibtischkante, bis die Knöchel weiß hervortraten.
»Wenn Juwain stirbt«, sagte Henderson, »stirbt dieses Konzept mit ihm. Vielleicht geht es für alle Zeit verloren.«
»Ich werde es versuchen«, sagte Webster. »Ich werde es versuchen ...«
Hendersons Blick war eisig: »Ist das alles, was Sie tun können?«
»Das ist alles«, sagte Webster.
»Aber, Mann, Sie müssen doch einen Grund haben. Eine Erklärung.«
»Keine, die ich Ihnen geben möchte«, sagte Webster. Bedächtig griff er zum Schalter und stellte ihn auf »Aus«.
Webster saß am Schreibtisch, hielt die Hände vor sich und betrachtete sie. Kunstfertige Hände, die Kenntnisse enthielten. Hände, die ein Leben retten konnten, wenn es ihm gelang, mit ihnen zum Mars zu fliegen. Hände, die für das Sonnensystem, für die Menschheit, für die Marsianer eine Idee bewahren konnten, eine neue Idee, die sie innerhalb von zwei Generationen hunderttausend Jahre vorwärtsbringen würde.
Aber auch Hände, die von einer Phobie gefesselt waren, die aus diesem ruhigen Leben erwachsen war. Aus Dekadenz – eine seltsam schöne und zugleich tödliche Dekadenz.
Der Mensch hatte die überfüllten Städte, die Zufluchtsorte, vor zweihundert Jahren verlassen. Er hatte mit den alten Feinden und den vergangenen Ängsten, die ihn an das Lagerfeuer banden, Schluss gemacht. Er hatte die Gespenster zurückgelassen, die ihn seit der Zeit der Höhlen begleitet hatten.
Und doch ...
Hier war eine neue Zuflucht. Keine Zuflucht für den Körper, aber eine für den Geist. Ein psychologisches Lagerfeuer, das einen Menschen innerhalb seines Lichtkreises festhielt.
Dennoch wusste Webster, dass er dieses Feuer verlassen musste. Wie es die Menschen vor zwei Jahrhunderten mit den Städten getan hatten, musste er fortgehen und es verlassen. Und er durfte nicht zurückschauen.
Er musste zum Mars fliegen – oder sich zumindest dorthin auf den Weg machen. Es gab überhaupt keinen Zweifel. Er musste gehen.
Ob er die Reise überlebte, ob er, einmal angekommen, die Operation durchführen konnte: Er wusste es nicht. Er fragte sich, ob Agoraphobie tödlich sein konnte. Vermutlich könnte sie es in ihrer ausgeprägtesten Form.
Seine Hand griff zur Klingel, dann zögerte er. Es hatte keinen Zweck, Jenkins mit dem Packen zu beauftragen. Er würde es selbst tun – das würde ihn bis zur Ankunft des Schiffes beschäftigen.
Aus dem obersten Regal des Garderobenschranks im Schlafzimmer holte er eine Tasche und bemerkte, dass sie staubbedeckt war. Er blies, aber der Staub blieb immer noch haften. Er befand sich schon zu viele Jahre dort.
Während er packte, stritt das Zimmer mit ihm; es sprach mit ihm in der stummen Sprache, in der sich leblose, aber vertraute Gegenstände mit einem Menschen unterhalten können.
»Du kannst nicht gehen«, sagte das Zimmer. »Du kannst nicht gehen und mich verlassen.«
Und Webster ließ sich auf diese Diskussion ein, halb bittend, halb erklärend. »Ich muss gehen. Kannst du das nicht verstehen? Es handelt sich um einen Freund, einen alten Freund. Ich werde zurückkehren.«
Als er mit Packen fertig war, ging Webster ins Arbeitszimmer zurück und sank in seinen Sessel.
Er musste gehen – doch er konnte es nicht. Aber sobald das Schiff ankam, wenn die Zeit gekommen war, das wusste er, würde er aus dem Haus und auf das wartende Schiff zugehen.
Er richtete seinen ganzen Willen darauf, versuchte ihn in ein striktes Schema zu bringen, versuchte alles, außer dem Gedanken, dass er gehen würde, auszulöschen.
Die Gegenstände im Zimmer drängten sich in seine Gedanken, als wären sie Teil einer Verschwörung, um ihn hier zu halten. Gegenstände, die er so sah, als sähe er sie zum ersten Mal. Alte, wohlbekannte Gegenstände, die plötzlich neu waren. Die Uhr, die Erd- und Marszeit, Mondtage und Mondphasen anzeigte. Das Bild seiner verstorbenen Frau auf dem Schreibtisch. Die Auszeichnung, die er beim Präparationskurs gewonnen hatte. Die eingerahmte, recht kleine Getränkerechnung, die ihn auf seiner Reise zum Mars zehn Dollar gekostet hatte.
Er starrte sie an, zuerst fast gegen seinen Willen, dann geradezu begierig, und rief die Erinnerungen an sie wach. Jetzt sah er sie als einzelne Bestandteile eines Zimmers, das er all die Jahre als geschlossenes Ganzes wahrgenommen hatte; er hatte sich nie klargemacht, welche Vielfalt von Gegenständen es zu dem machte, was es war.
Die Dämmerung brach herein, die Dämmerung des jungen Frühlings, eine Dämmerung, die nach jungen Weidenkätzchen roch.
Das Schiff hätte schon längst eintreffen müssen. Er ertappte sich selbst dabei, wie er lauschte, auch dann noch, als er sich klarmachte, dass er es nicht hören würde. Ein Schiff mit Atomantrieb war lautlos, außer wenn es beschleunigte. Bei Start und Landung bewegte es sich so sanft wie Watte, ohne einen Laut.
Es würde bald hier sein. Es musste bald hier sein, sonst könnte er niemals gehen. Wenn er noch länger warten musste, das wusste er, würde sein hochgestimmter Entschluss wie ein Staubhügel in einem Regenguss zusammenschrumpfen. Er konnte seine Absicht nicht mehr länger aufrechterhalten – gegen das Flehen des Zimmers, gegen das Flackern des Feuers, gegen das Flüstern des Landes, auf dem fünf Generationen von Websters ihr Leben gelebt hatten und gestorben waren.
Er schloss die Augen und kämpfte die Angst nieder, die durch seinen Körper kroch. Jetzt durfte er nicht von ihr überwältigt werden, sagte er sich. Er musste durchhalten. Wenn das Schiff eintraf, musste er noch in der Lage sein, aufzustehen und durch die Tür zum Startplatz zu gehen.
Es klopfte an der Tür.
»Herein«, rief Webster.
Es war Jenkins; das Licht vom Kamin flackerte auf seiner glänzenden Metallhaut.
»Haben Sie vorhin schon einmal gerufen, Sir?«, fragte er.
Webster schüttelte den Kopf.
»Ich hatte schon befürchtet, sie hätten gerufen«, erklärte Jenkins, »und sich gewundert, warum ich nicht komme. Etwas wirklich Außergewöhnliches ist geschehen, Sir. Zwei Männer sind mit einem Schiff gelandet und haben behauptet, sie wollten Sie zum Mars bringen.«
»Sie sind da«, sagte Webster. »Warum hast du mir nicht Bescheid gegeben?«
Er stand mühsam auf.
»Ich habe nicht geglaubt, Sir«, sagte Jenkins, »dass Sie gestört werden wollten. Das schien doch zu unsinnig. Ich habe ihnen schließlich klargemacht, dass Sie auf gar keinen Fall zum Mars fliegen wollten.«
Webster erstarrte, spürte, wie Angst sich seines Herzens bemächtigte. Seine Hände klammerten sich um die Schreibtischkante; er sank in seinen Sessel, ahnte, wie sich die Wände des Zimmers um ihn schlossen – eine Falle, die ihn nie wieder entkommen lassen würde.