3. Vathin
Vathin war überrascht und enttäuscht zugleich. Die Stimme des weiblichen Wesens aus dem fremden Raumschiff hatte es ihm angetan. Als er nun sah, dass Jizi Huzzel ein winziges Geschöpf war, kleiner als Kutzi, das Haustier seiner Eltern, konnte er seine Verwunderung kaum verbergen.
Der große Fremde, der sich als Rainer Deike vorgestellt hatte, wirkte hingegen beeindruckend. Er trug einen Schutzanzug, der besser zu sein schien als alles, was Vathin je gesehen hatte. Offensichtlich besaßen die beiden Fremden eine überlegene Technik. Die kurze Zeit, die sie benötigt hatten, um die cloreonische Sprache zu verstehen, belegte das. Was Vathin nicht verstand, war das blaue Kleidungsstück aus einem flauschigen Gewebe, das Deike über dem Raumanzug trug. Dieser eher lockere Umhang ergab keinen Sinn, außer, dass in einer der beiden aufgenähten Taschen das kleine Wesen mit der sympathischen Stimme steckte.
»Hier herrscht ziemliche Hektik«, sagte der große Fremde. »Käpt'n, das ist unser Bordrechner, hat an die dreitausend Raumschiffe gezählt und erkannt, dass ihr euch im Aufbruch befindet. Was bedeutet der Aufmarsch, Vathin? Wir haben nur friedliche Absichten. Falls wir stören, ziehen wir uns wieder zurück.«
Der Oberwächter wusste in seiner ersten Überraschung nicht, wie er auf diese Feststellung reagieren sollte. Sein Zögern nutzte das kleine Wesen mit der sympathischen Stimme: »Wir sind nach Ciclaun gekommen, weil wir etwas über eine seltene Pflanze herausfinden wollen. Sie heißt Comanzatara.«
»Inhaftieren!«, brüllte Color dazwischen, der Führer der EXE-23. »Hier herrscht Krieg, auf den wir uns seit fünftausend Jahren vorbereitet haben. Der Ewige Krieger ...«
»Von Schlachten und Kriegen wollen wir nichts hören, Vieläugiger.« Deike fiel dem Kommandanten nicht nur ins Wort, er griff auch noch mit beiden Händen nach dessen kräftigen Oberarmen. »Krieg bringt immer nur Tod und Verwüstung«, sagte er. »Wir haben in dieser Galaxis schon eine ausgelöschte Welt
gesehen. Das sollte Ciclaun erspart bleiben, meint ihr nicht?«
»... und der Comanzatara«, meldete sich Jizi.
Sie hatte zwei winzige Arme und zwei kaum größere Beine. Das sah Vathin, weil sie endlich aus der Tasche des blauen Kleidungsstücks hervorschwebte. Sie flog ohne Flügelschlag, ohne sperrige Technik.
Vathins 36 Augen quollen auf, denn das kaum eine Handspanne messende weibliche Wesen mit der zartgrünen Haut verharrte vor seinem Gesicht. Ihm war, als musterte Jizi jedes seiner ringförmig um den Kopf verteilten Augen.
Wie gern hätte er sich darauf eingelassen, doch es war unmöglich. Die Letzte Schlacht, der sein Volk seit vielen Generationen entgegenfieberte, was wichtiger als diese Fremden. Sehr viel wichtiger.
»Tu endlich etwas, Vathin!«, schrie der Kommandant der EXE-23. »Du hast die Verantwortung ...«
Ja, die hatte er. Er gehörte zur Blauen Garde von Ciclaun und sein Platz war ihm zugewiesen, seit er denken konnte. Er musste seine Aufgabe erfüllen, das war seine Pflicht.
»Verschwinde!«, hörte Vathin sich sagen und fragte sich zugleich, ob er das tatsächlich wollte. Ja? Nein? Die beiden Fremden faszinierten ihn. Außerdem hatte Deike etwas gesagt, das in ihm nachschwang und ihn innerlich erschütterte: Krieg bringt immer nur Tod und Verwüstung.
»Wir wollten keine Konflikte zwischen euch heraufbeschwören.« Jizi Huzzels Stimme wischte Vathins Zwiespalt beiseite. Es war so wunderbar zu spüren, dass jemand sanft und ohne hörbaren Zwang redete. Da war kein militärischer Tonfall, kein Befehl, kein Schreien.
»Verschwinde!«, wandte Vathin sich an den Kommandanten und versuchte, ebenfalls leise zu reden. »Das hier ist meine Angelegenheit. Unteradmiral Lillingjoke hat mir die Sache übergeben.«
Was er tat, war Wahnsinn, das war ihm bewusst. Zugleich triumphierte er, denn Color wandte sich um und verließ die Andockkammer. Er, Vathin, der einfache Oberwächter, hatte einen Schiffskommandanten zur Räson gebracht. Wann hätte er das jemals vorhergesehen?
»Bitte, Freund, begleite uns an Bord unseres Schiffes«, sagte
Deike. »Wir haben dort eine Pflanze, die Comanzatara heißt. Sie sucht etwas, dabei wollen wir ihr helfen. Wir wissen, dass Comanzatara einmal auf Ciclaun gewesen ist. Ebenso auf Sans-Cror, auf Perpetim, Vilyandoc ...«
»Schon gut«, unterbrach der Oberwächter die Besucher. »Hört ihr mir bitte auch einmal zu?«
Deike schwieg. Sein Gesicht nahm einen Ausdruck an, den der Cloreone als entschuldigend verstand. Und Jizi sagte: »Selbstverständlich, Vathin. Verzeih unsere Unhöflichkeit. Wir wollen nur Comanzatara helfen. Diese Pflanze ist das einsamste Geschöpf des Universums.«
»Manchmal war mir, als sei ich das einsamste Lebewesen überhaupt«, entgegnete Vathin.
Weil Deike und die Winzige erwartungsvoll schwiegen, redete er weiter. Er erzählte vom Kodex des Ewigen Kriegers Kalmer, von Ciclaun und den Ereignissen, die vor langer Zeit geschehen waren. Auch von einem seiner Lehrer, der behauptet hatte, dass das Militärregime auf Ciclaun mehr wisse, als es jemals eingestehen würde. Über Cloreon. Über den Stillstand der technischen Entwicklung auf den Kolonialwelten. Und darüber, dass in den Kolonien sehr wohl vieles über die Organismus-Gesellschaft auf Cloreon bekannt war.
Unvermittelt wurde Vathin sehr unruhig. »Die EXE ist weg«, sagte er betroffen. »Ich habe meinen Einsatz auf der LEFLAHT versäumt. Color wird mich dafür vernichten.«
»Es gibt keine Vernichtung«, widersprach Jizi. »Du willst sie nicht, wir auch nicht. Käpt'n meint, das Flaggschiff der Ciclaun-Cloreonen heißt CICLANT. Käpt'n hört euren Funk ab und informiert den Langen und mich. Er sagt, auf der CICLANT fehlt ein Beibootpilot. Der dafür vorgesehene Cloreone trat seinen Dienst nicht an. Euer Admiral wird sich bestimmt freuen, wenn er dich bekommt.«
»Das sind Träume ...«, wehrte Vathin ab.
»Ich erfülle dir diesen Traum«, behauptete die kleine Frau. »Du sagst mir als Gegenleistung, wo Comanzatara auf Ciclaun war, und gibst mir jede Unterstützung, um die Rätsel der Pflanze zu lösen.«
»Ich kenne keine Pflanze Comanzatara«, entgegnete Vathin
niedergeschlagen. Seine Stimmung wechselte rasch. »Aber ich verspreche, eurem Forschungsdrang weiterzuhelfen, wenn ihr mich auf die LEFLAHT bringt.«
»Auf die CICLANT«, berichtigte Deike. »Und kein Widerspruch.«
Vathin empfand mit einem Mal Furcht. Er hatte sich verleiten lassen, hatte einem Gefühl nachgegeben und den Verstand und alles, was wirklich wichtig war, ignoriert. Er hatte das Vertrauen hintergangen, das Unteradmiral Lillingjoke in ihn setzte. Damit hatte er sein eigenes Grab ausgehoben. Waren das die beiden Fremden wert? Wo waren seine Träume von der Letzten Schlacht, die er siegreich schlagen wollte?
»Sieh dir Comanzatara wenigstens an«, bat Jizi. »Wir bringen dich danach zu deiner Flotte, zur LEFLAHT oder zur CICLANT, wie du willst. Wir tun das sogar, wenn du Comanzatara nicht sehen möchtest. Wir kennen keinen Zwang und fordern nichts gegen deinen Willen.«
Vathin winkte schwach ab. Seine Gedanken schwirrten durcheinander. Der Tag X ... Der Aufbruch der Flotte ohne ihn ...
Fast schon widerwillig folgte er dennoch den beiden so unterschiedlichen Fremden auf ihr Schiff.
Dort sah er die Schale mit dem weichen Bodensubstrat von Ciclaun – nur die Schale. Das Substrat wies ein paar Mulden auf, die vermuten ließen, dass da etwas gewurzelt hatte.
Comanzatara war nicht mehr da.
»Verrat!«, schrie Rainer Deike wütend auf. »Das können nur die beiden Maahks gewesen sein. Sie treiben ein übles Spiel.«
»Das ist ausgeschlossen«, meldete sich Käpt'n. »Ich hätte es registriert, wenn jemand während eurer Abwesenheit in den Wohnräumen oder Labors gewesen wäre.«
»Dann sag mir, wer Comanzatara entwendet hat!«
Der Cloreone Vathin stand hilflos zwischen den beiden Vironauten. Er verstand nichts und fühlte sich mit einem Mal hoffnungslos verloren. Offenbar hatte er so ziemlich alles falsch gemacht, was er hatte falsch machen können.
»Käpt'n«, hörte er Rainer Deike sagen, dessen Übersetzungsgerät unverändert arbeitete. »Du musst eine Lösung finden.«
»Ich kann nur vermuten«, antwortete die raue, fast beängstigende Stimme. »Da niemand in eurem Sektor war, kann nur einer für das Verschwinden der Pflanze verantwortlich sein.«
»Wer?«, kam es gleichzeitig von Deike und Jizi Huzzel.
»Sie selbst!«, behauptete Käpt'n.
»Das ergibt keinen Sinn«, wehrte der Terraner ab.
»Vielleicht doch, Langer!« Jizis eben schrill gewordene Stimme beruhigte sich wieder. »Was wissen wir wirklich über Comanzatara? So gut wie nichts. Also lass uns einen kühlen Kopf bewahren. Die Comanzatara ist rätselhaft. Dass sie womöglich nach etwas sucht, können wir uns bereits denken. Ich glaube, ihr Verschwinden hängt damit zusammen.«
»Ich will nicht unhöflich sein«, sagte Vathin matt, »aber bringt mich bitte zurück in die Außenstation. Ich muss dort warten, bis ich für das Kriegsgericht abgeholt werde.«
Deike reagierte mit einer heftigen Armbewegung, die nur seine Ablehnung ausdrücken konnte. »Das kommt schon gar nicht in Betracht«, sagte er heftig. »Wir haben dir diese Suppe eingebrockt, also löffeln wir sie auch aus. Wir bringen dich zur CICLANT oder zur LEFLAHT und stellen die Sache klar. Deine Admirale werden das schon kapieren.«
»Bestimmt nicht«, widersprach Vathin vorsichtig. »Du kennst unsere straffe militärische Organisation nicht. Ich gehöre an meinen vorherbestimmten Platz in der Letzten Schlacht und nicht hierher zu euch. Ich muss verrückt gewesen sein, dass ich ..., dass ich glaubte, es könnte anders ...«
»Alles lässt sich ausbügeln, glaube mir.« Deike lächelte.
»Da ist noch etwas«, sagte Vathin zögernd. »Ich finde euch beide sehr sympathisch, besonders Jizi. Aber ihr interessiert euch nur für eine verschwundene Pflanze und habt keinen Blick für das aktuelle Geschehen. Ich habe euch von der Letzten Schlacht berichtet.«
»Die interessiert uns wirklich nicht«, wehrte Deike ab.
»Ihr gehört zu den Truppen des Kriegers Kalmer, das ist mir viel zu langsam klar geworden. Damit sind wir Gegner. Unsere vereinten Flotten erreichen in Kürze Cloreon, wo die Bewährung stattfinden wird. Unsere Schiffe sind gestartet, weil eure erschienen sind. Die Letzte Schlacht ist unabwendbar. Kalmer wollte das schon vor
fünftausend Jahren, und niemand kann das ändern.«
»Du irrst dich!«, rief Jizi freundlich. »Wir gehören weder zu den Truppen eines Kriegers Kalmer, noch werden wir uns in irgendwelche Kämpfe verwickeln lassen. Wir sind in die Mächtigkeitsballung Estartu gekommen, weil Sotho Tal Ker uns die Galaxiengruppe mit ihren Wundern ans Herz gelegt hat.«
»Du nennst Begriffe, die ich nicht kenne«, wandte Vathin unsicher ein. »Wer ist ESTARTU? Und wer oder was ist Sotho Tal Ker?«
»Du weißt das nicht?«, fragte Jizi zurück. »Das ist für mich der Beweis, dass wir die Sache richtig sehen und du leider falsch. Ich kann nicht beurteilen, nach welchen Überlieferungen euer Militärregime aufgebaut ist, doch besonders schlau scheint ihr euch nicht verhalten zu haben. Vielleicht fehlt euch etwas der Überblick oder die Fähigkeit, euch selbst richtig einzuschätzen.«
Vathin schwieg. Die winzige Frau, fand er, war sehr überzeugend, sobald sie redete.
»Vielleicht sollten wir Bull und die anderen Vironauten warnen«, sagte Deike.
»Das habe ich bereits getan«, meldete Käpt'n.
»Bestens.« Deike klatschte in die Hände. »Dann bin ich diese Sorge schon mal los. Zurück zu dir, Vathin: Wir bringen dich zu deiner Flotte, und du wirst sehen, dass es keinen Kampf zwischen deinen Leuten und uns Vironauten gibt.«
»Das glaube ich nicht.« Vathin blinzelte mit mindestens der Hälfte seiner Augen. »Der Ehrenkodex des Kriegers ist unumstößlich. Ich ersuche euch innigst, mich in meine Station gehen zu lassen.«
»Ich bringe dich hin«, bot Jizi an. »Was auch geschehen mag, bei uns wird niemand gezwungen.«
»Was meinst du damit, Jizi?« Vathin fühlte plötzlich eine neue Unsicherheit. Vielleicht war es wirklich nicht seine beste Idee, zur Station zurückzukehren und damit vollends jede Chance zu vertun, an der Letzten Schlacht teilzunehmen.
»Ich denke, dass du weit besser beraten wärst, wenn du uns weiter begleiten würdest«, antwortete Jizi. »Wir bringen dich zu deinen Leuten, egal, was dort passiert.«
»Aus deinem Mund, kleine Frau, klingt das sehr ehrlich«, räumte Vathin ein. »Und da ich sowieso schon alles aufgegeben habe, nehme
ich dein Angebot an.«
Die beiden holten noch seine persönliche Ausrüstung an Bord. Danach flog ihr bizarres Raumschiff die Sonne Clore an, die sie Virgo-Tor nannten. Vathin kam aus dem Staunen nicht heraus, denn der Flug nahm nur wenig mehr Zeit in Anspruch als ein halbwegs ruhiger Atemzug.
Das Raumschiff selbst lieferte umgehend eine Fülle von Informationen. Es stellte mitten in Deikes Wohnraum dreidimensionale Bilder zur Verfügung, markierte die wie winzige Modelle dargestellten Schiffe der Kolonialflotte farbig und zeigte nicht nur Cloreon, sondern ebenso die fünf Elysischen Ringe. Vathin erkannte sogar die CICLANT und die LEFLAHT, die besonders hervorgehoben wurden.
»Keine Kampfhandlungen!«, staunte er. »Das verstehe ich nicht. Warum greifen unsere Verbände nicht sofort an?«
»Vielleicht haben die Admirale erkannt, dass es gar nicht so einfach ist, unsere Virenschiffe zu attackieren«, sagte Deike.