8. Vor der Schlacht
Die zweite Fabrik war eingenommen, Reginald Bull baute seine strategische Position aus. Doch dann trafen erste Meldungen ein, dass sich überall auf dem Planeten Raketensilos und andere Arsenale öffneten.
»Dreihundert Kilometer nördlich von uns wird eine Batterie von Hochleistungsstrahlern ausgefahren«, gab Admiral Quarskigar seine neuesten Informationen weiter. »Diese Energiegeschütze haben eine besonders große Reichweite und können Objekte außerhalb des Orbits angreifen.«
»Unseren Flotten werden sie nichts anhaben«, stellte Bull fest. »Die Organismus-Gesellschaft erkennt nicht, dass die Entscheidung hier auf dem Planeten fallen muss.« Er überlegte kurz. »Ich übergebe das Kommando vorerst an dich. Ich werde an Bord meines Flaggschiffs erwartet.«
Der Admiral stellte keine Fragen. Auch wenn ihn dieser Rückzug irritierte, hätte er einen Widerspruch niemals gewagt. Er befahl zwei Offizieren, den Krieger in den Orbit zu bringen.
20 Minuten später betrat Reginald Bull die EXPLORER, die unverändert in der Flotte der Kolonial-Cloreonen stand. Er nahm die Atemmaske ab.
»Hallo, Vi«, sagte er. »Ist außer mir jemand an Bord?«
»Stronker Keen«, antwortete das Schiff.
Bull überlegte kurz. »Dann stell mir ein Beiboot zur Verfügung, mit dem ich auf Eremit landen kann!«, befahl er.
»Warum das? Du kommst von dort.«
»Du hast mich schon richtig verstanden. Ich muss mit dem Kriegsbewusstsein reden.«
Nur Minuten später betrat Bully das Beiboot. Er ließ sich in den erstbesten Sessel sinken, lehnte sich zurück und schloss die Augen. Trotz seines Zellaktivators überkam ihn Müdigkeit. Vor allem war ihm, als trage er allmählich ein Bleigewicht an der linken Hand.
»Ist dir bekannt, dass das Kriegsbewusstsein keine Macht mehr über die Cloreonen ausübt?«, fragte die vertraute Vishna-Stimme.
Bully richtete sich jäh auf. »Sag das noch einmal!«
»Das Kriegsbewusstsein ist nicht länger der beherrschende Faktor auf Eremit.«
»Woher weißt du das?«
»Ich habe Funknachrichten analysiert.«
Das Beiboot hatte die Flotte schon hinter sich gelassen und trat in die Atmosphäre des Planeten ein.
»Dann rede ich eben mit dem Bewusstsein«, sagte Bully. »Wo liegt der Unterschied? Die drei Gehirnzellen-Typen kennen mich.«
»Die stationäre Verteidigung reagiert auf unseren Anflug«, teilte Vi mit. »Unterschiedlichste Waffensysteme sind auf uns gerichtet. Ich habe dem Bewusstsein der Cloreonen soeben mitgeteilt, dass ich den Ewigen Krieger an Bord habe.«
»Gut, dann eröffnen sie wenigstens nicht das Feuer auf uns.«
Das Virenboot fiel die letzten Kilometer durch die Atmosphäre und landete sanft wie eine Feder. Das war zweifellos eine Demonstration für die von allen Seiten anrückenden Antikörper-Cloreonen und ihr Heer eigener Kampfmaschinen.
Gehorchten die Verteidiger wirklich wieder dem Bewusstsein, der ursprünglichen Regierung von Eremit? Am Vorabend der Letzten Schlacht hatten offenbar überall Machtkämpfe stattgefunden. Wie bei den Flotten der Kolonial-Cloreonen war auch auf dem Planeten die Führungsspitze ausgewechselt worden.
Sie wehren sich gegen das Schicksal!, erkannte der Krieger Bull. Sie sind selbst nach fünf Jahrtausenden nicht bereit für die Letzte Schlacht und entsprechen nicht dem notwendigen Ideal.
Er legte eine Atemmaske an und verließ das Boot. Fordernd winkelte er den linken Arm an, damit alle Antikörper-Cloreonen die Faust des Kriegers sehen konnten.
»Ich habe mit dem Bewusstsein zu reden!«, rief er. Dass Hunderte von tödlich wirkenden Waffen auf ihn gerichtet waren, interessierte ihn in keiner Weise.
Ein Offizier näherte sich ihm. »Ich geleite dich«, sagte der Antikörper-Cloreone.
Reginald Bull blickte kurz zum wolkenverhangenen Himmel auf. Eine tiefschwarze Wolkenwand zog von Süden her auf.
Sie betraten ein schräg abwärtsführendes Transportband. An Heerscharen von Robotern und schwer bewaffneten Antikörper-Typen vorbei erreichte Bull einen tief unter der Oberfläche liegenden Bunker.
Der Offizier geleitete ihn in einen großen Raum. In leidlich bequem anmutenden schüsselähnlichen Tragen kauerten die drei Cloreonen des Bewusstseins. Ihre verkümmerten Körper waren kaum in der Lage, die auf das Sechsfache der normalen Größe angeschwollenen Köpfe zu tragen. Die drei Cloreonen mussten jeder von mehreren Organzellen-Typen gestützt werden. Sichtlich irritiert blickten sie Bull entgegen.
»Ich bin gekommen, um mich euch als Feldherr anzubieten.« Bull streckte die linke Hand mit der Faust drohend aus. Für ihn als Ewigen Krieger war dieses Angebot selbstverständlich.
Die Cloreonen blickten ihn fassungslos an.
Für die meisten Vironauten nahm das Leben seinen eigenen Gang. Henriett Jimdrix, eine temperamentvolle junge Frau, suchte nach einigen Kolleginnen. Eher zufällig betrat sie einen Raum ihres Virenschiffs, in dem Jenny Groma, die rothaarige Chris Wayman und mehrere Männer sich die Zeit mit einem Holorama vertrieben. Bei diesem oft langwierigen Spiel ging es darum, eigene Figuren zu erschaffen und diese in eine turbulente Handlung zu schicken. Das Gelächter verriet Henriett, dass es recht lustig zuging.
Sie blieb im offenen Türschott stehen. Ihr fiel sofort auf, dass Jenny Groma eine Figur geschaffen hatte, die Doran Meinster verblüffend ähnlich sah. Äußerst spärlich bekleidet tappte diese Figur durch die Szenerie und verhielt sich so linkisch, dass die Mitspieler sich vor Lachen kaum halten konnten.
»He, Henriett!«, schrie Jenny, als sie die Besucherin bemerkte. »Komm her! Keine hat den Bully so gut drauf wie du. Wir könnten noch eine total ausgeflippte Figur gebrauchen.«
»Ja, los, Henriett!«, rief einer der Männer. »Komm schon. Eine Bully-Figur wäre ideal für uns.«
Henriett Jimdrix versuchte die Szene zu enträtseln, die sich ihr bot, aber es gelang ihr nicht. Die Figuren bildeten mit einem Segelschiff, zwei Robotern und etlichen Kamelen ein chaotisches Durcheinander. Henriett konnte sich auch nicht erklären, was eine Reginald-Bull-Figur darin bewirken sollte.
»Also ausgeflippt ist Bully nun gerade nicht«, sagte sie. »Und da wir schon von ihm reden: Jeremdrow hat Funksprüche der Cloreonen abgehört.«
»Muss das sein?«, maulte Chris Wayman. »Du versaust uns die Stimmung.«
Henriett strich sich eine Locke aus der Stirn. »Ich weiß nicht«, entgegnete sie unsicher. »Es sieht so aus, als ob Bully einen fürchterlichen Krieg auf dem Planeten entfesselt.«
»Tut er das?«, gluckste Jenny Groma.
»Es geht um die Letzte Schlacht.«
»Letzte Schlacht ist gut«, kicherte Chris. »Wenn es die letzte Schlacht ist, hört der Unsinn mit diesem Krieg, den alle seit Jahrtausenden erwarten, wohl endlich auf.«
Die anderen lachten. Es klang nicht wirklich amüsiert.
»Meint ihr nicht, dass wir etwas tun müssten?«, fragte Henriett.
»Wir? Ausgerechnet?«
»Ja – wir!«
»Mensch, Henriett, drehst du durch?« Jenny seufzte. »Wir haben Terra und die Milchstraße nicht verlassen, um uns an so etwas Verrücktem wie Krieg zu beteiligen. Wenn die Cloreonen da unten so blöd sind, sich gegenseitig die Köpfe von den Schultern zu schießen, dann sollen sie das meinetwegen tun. Vor allem, wenn sie nichts Besseres können. Ich denke nicht daran, da mitzumischen.«
»Henriett, setz dich endlich zu uns!«, bat Chris Wayman. »Du könntest Bully als den großen Krieger der Letzten Schlacht darstellen. Das würde prima in unser Chaotenspiel passen.«
Die anderen lachten, während Henriett Jimdrix vergeblich nach dem Witzigen in der Bemerkung suchte. Zögernd ließ sie sich nieder.
Jenny Groma legte ihr die Hand aufs Knie. »Ehrlich, Henriett«, sagte sie. »Die Cloreonen haben eine Meise, wenn sie Krieg machen. Und Bully hat erst recht einen Vogel, wenn er dabei mitspielt.«
»Er spielt nicht nur mit, Jenny, er scheint sogar eine Art Dirigentenrolle übernommen zu haben.«
»Dann hat er sich den Kopf angestoßen, ganz sicher! So – und nun klink dich endlich ins Spiel ein.«
Henriett zog die Steuerung an sich. Ihr war klar geworden, dass sie an Bord keinen finden würde, der sich für das Geschehen um Eremit und die Letzte Schlacht interessierte. Als Vironauten waren sie alle nicht in die endlose Ferne aufgebrochen, um irgendwo Krieg zu spielen. Sie suchten das Abenteuer, aber keinesfalls waren sie gewillt, für andere, die offenbar den Verstand verloren hatten, Kopf und Kragen zu riskieren.
»Genau das habe ich befürchtet«, sagte Agid Vendor. »Wir haben alle Welt auf uns aufmerksam gemacht.«
Die ARMAGEDDON war vor wenigen Sekunden gestartet und flog endlich das ursprüngliche Ziel an. Die Bemerkung der Hanse-Spezialistin galt dem Ortungsbild. Zahlreiche Objekte näherten sich dem Virenraumschiff.
Eine Rakete oder was immer es gewesen sein mochte, explodierte im Schutzschirm.
»Wir bleiben auf Kurs.« Meinsters pausbäckiges Gesicht rötete sich. »Ich bin sicher, dass uns in Volcayrs Nähe niemand mehr angreifen wird.«
Weitere Geschosse explodierten im Kurs des Schiffes.
»Sieh dich um, Doran!«, verlangte Agid. »Wir haben eine ziemliche Meute am Hals. Wie heißt das uralte Sprichwort? Viele Hunde ...«
»Ihr solltet aussteigen!«, unterbrach das Virenschiff.
»Wie bitte?«, fragte Meinster entgeistert.
»Aussteigen!«, wiederholte Bytargeau. »Mit einem schnellen Gleiter verschwinden, während Vi die Verfolger ablenkt.«
»Das war meine Empfehlung«, bestätigte das Schiff.
Fünfzehn Raumer griffen an. Sie waren keinesfalls aus dem Weltraum gekommen, sondern stammten aus den subplanetaren Depots der Organismus-Gesellschaft. Die Chance der ARMAGEDDON, ihnen zu entkommen, wurde erst außerhalb der Atmosphäre besser, sobald Vi ihre Vorteile richtig ausreizen konnte.
»Einverstanden«, bestätigte Meinster. »Wir nähern uns einem Archipel aus zahlreichen Inseln. Vi, du gehst bis dicht über die Wasseroberfläche. Sobald wir zwischen den Inseln einigermaßen Deckung haben, setzen wir uns mit dem Gleiter ab.«
Das Virenschiff änderte den Kurs und sackte dabei mehrmals durch. Für die Cloreonen mochte es aussehen, als habe der kleine Raumer Schäden davongetragen. Fast tauchte die ARMAGEDDON schon in die Wellen ein, dann beschleunigte sie und näherte sich schnell der Inselgruppe.
Meinster und seine Gefährten hatten die SERUNS schon geschlossen und stiegen soeben in den Gleiter.
Das Außenschott des Hangars löste sich auf. In derselben Sekunde startete Meinster. Gischt peitschte den Gleiter und drückte ihn zur Seite. Für Augenblicke hatte es den Anschein, als werde die Maschine unter Wasser gezogen, doch die Automatik steuerte dagegen an.
Die ARMAGEDDON hatte sofort abgedreht, war schon etliche Kilometer entfernt und gewann rasch an Höhe. Nicht eine Strahlsalve der Verfolger galt dem Gleiter. Keine Raketengeschosse explodierten. Das Absetzmanöver war tatsächlich unbemerkt geblieben.
»Ob Volcayr uns beobachtet?«, fragte Agid.
»Er hat anderes zu tun«, antwortete Meinster.
»Du meinst, er beobachtet, wie Kolonisten und Organismus-Cloreonen anfangen, sich gegenseitig umzubringen.« Mirandola Cainz lachte gequält.
»Es spricht einiges dafür«, bestätigte Meinster. »Obwohl: Begeistert wird der Elfahder nicht sein. Was die Cloreonen bisher gezeigt haben, war alles andere als überwältigend. Das gilt für beide Seiten.«
»Ich bin froh, dass es so ist«, gestand Agid Vendor. »Andernfalls hätten wir das Nachsehen.«
»Alles halb so schlimm«, beschwichtigte Meinster.
Er flog den Gleiter mit Höchstgeschwindigkeit dicht über der Wasseroberfläche. Alles blieb ruhig.
Eine halbe Stunde verging, in der kaum einer redete. Jeder der vier hing seinen eigenen Gedanken nach, und unaufhörlich gingen die Blicke suchend in die Runde.
»Weit voraus wird Volcayrs Insel sichtbar«, sagte Agid Vendor, die die schärfsten Augen von allen hatte. »Ich kann den Turm schon erkennen.«
Mirandola Cainz hatte am Funkgerät Platz genommen. Sie suchte vergeblich nach irgendwelchen Sendern. »Überall Stille«, stellte sie fest. »Ist euch klar, was das bedeutet?«
»Wir haben die Ruhe vor dem Sturm.« Agid seufzte.
Der Turm wurde schnell deutlicher. Mit seinen 500 Metern Höhe schien er im Ozean der Südhalbkugel völlig fehl am Platz zu sein schien.
»Ein seltsames Bauwerk«, kommentierte Agid Vendor. »Er wirkt auf mich, als sei er aus unregelmäßigen Kugelschalen zusammengesetzt.«
»... die bestimmt irgendeine Bedeutung haben«, überlegte Mirandola Cainz.
Die Insel ließ schon von Weitem dichtes Grün erkennen. Kein Dschungel aus gigantischen mannshohen Pilzen, wie die vier Hanse-Spezialisten ihn erst hinter sich gelassen hatten, sondern ein dichter Wald aus Schachtelhalmen. Bis zu 20 Meter hoch ragten die wuchtigen Stämme auf. Der Gleiter scheuchte Schwärme von Vögeln auf, die lärmend flohen.
Meinster umkreiste den Turm in gebührendem Abstand. Schließlich landete er auf einer nahen Lichtung.
»Und nun?«, fragte Colophon Bytargeau. »Rufen wir den Elfahder über Funk?«
»Abwarten. Er wird sich schon melden.«
Mirandola schüttelte den Kopf. »Was macht dich so sicher?«, fragte sie gereizt.
Auch die anderen spürten eine wachsende Anspannung. Keiner von ihnen konnte sich dem entziehen. Es war wie ein letztes Atemholen, ehe alles im Geschützfeuer der Raumschiffe unterging.
Mirandola Cainz versteifte sich. Eine steile Falte entstand auf ihrer Stirn. »Hör ihr das?«, hauchte sie.
Ein feines Klirren ertönte. Es klang wie ein von schwachem Windhauch bewegtes Glasspiel. Doch schnell wurde der metallische Charakter des Geräuschs deutlich.
»Volcayr kommt«, raunte Meinster.
Agid Vendor lachte nervös.
Meinster verließ eilig den Gleiter. Die anderen folgten ihm dichtauf.
Ein wuchtiges Fahrzeug schob sich klirrend und blitzend aus einer Senke hervor, dabei war nicht zu erkennen, ob es sich mechanisch bewegte oder dicht über dem Boden schwebte. Der Panzer war weit größer, als die Hanse-Spezialisten erwartet hatten. Mit einem Ruck kam er nahe vor ihnen zum Stillstand.
»Wir haben dich gesucht, Volcayr!«, rief Doran Meinster. »Wir wollen mit dir reden.«
»Ihr habt einige Mühe auf euch genommen«, erklang eine Lautsprecherstimme, ein eigenartig melodiöser Singsang.
»Wir hatten größere Schwierigkeiten vonseiten der Cloreonen erwartet«, gestand Meinster ein. »Die Vorbereitungen für die Letzte Schlacht lenken sie wohl ab. Sollen sie ihre Welt ruhig in eine lebensfeindliche Wüste verwandeln, wir haben mit diesem Planeten wenig zu tun. Wir sind auch nicht hier, um über die Letzte Schlacht zu diskutieren. Wir wollen dir unsere Dienste anbieten. Ich glaube, du beobachtest uns seit einiger Zeit und kannst beurteilen, wer wir sind.«
»Ihr sucht euren Weg«, entgegnete Volcayr. »Seid ihr ebenso bereit, euch Höherem unterzuordnen und zu dienen?«
»Das sind wir.«
»Und werdet ihr Niederrangige unterwerfen, wenn ich es befehle, um sie dienen zu lassen?«
»Wir werden jedem deiner Befehle gehorchen.«
»Das werden wir«, stimmten Mirandola Cainz, Colophon Bytargeau und Agid Vendor zu. Für Homer G. Adams und die Kosmische Hanse wären sie sogar bereit gewesen, ihre Seele zu verkaufen.
»Ich bin einverstanden«, sagte Volcayr. »Ihr steht in meinen Diensten.«