13. Paratau
Nachdem der Weise von Fornax sich noch einmal gemeldet und die Koordinaten einer Tauregion genannt hatte, die nahe daran war, überkritisch zu werden, ging die BASIS in die Überlichtphase. Diesmal waren strengste Sicherheitsvorkehrungen getroffen – für den Fall, dass das Fernraumschiff erneut in einen Psi-Sturm geriet.
Eineinhalb Stunden später fiel die BASIS in den Normalraum zurück. Alles blieb ruhig. Die Panoramagalerie zeigte im Backbordsektor jedoch ein unheimlich lebendig wirkendes Glitzern und Funkeln.
»Paratau!«, sagte Ras Tschubai fast andächtig. »Ich fühle geradezu eine innere Verwandtschaft mit der Psi-Materie.«
»Ich ebenso«, bestätigte Fellmer Lloyd.
»Und ich möchte geradezu mit beiden Händen hineingreifen«, schwärmte der Ilt.
»Denkt an die furchtbare Wirkung, die Psi-Materie erzielen kann!«, warnte Perry Rhodan.
»Halb so schlimm!«, rief Gucky, »Diese Psi-Materie ist nicht mit der zu vergleichen, die Ribald herstellte. Ich spüre das. Sie ist ebenfalls Psi-Materie, aber in einer anderen Zustandsform.«
Lloyd nickte zustimmend. »Es ist wie der Unterschied zwischen Nitroglyzerin und Dynamit. Nitro kann bei der geringsten Erschütterung oder Temperaturerhöhung in die Luft gehen; Dynamit glost nur müde vor sich hin, falls es dir überhaupt gelingt, es anzuzünden.«
»Beides kann euch umbringen!«, warnte Rhodan. »Also keine Experimente! Jedenfalls nicht ohne perfekte Sicherheitsvorkehrungen. Außerdem wollen wir die Materie vorerst nur bergen.«
Die BASIS glitt scheinbar gemächlich parallel zu dem Schleier aus Paratau dahin. Die Traktorstrahler des Schiffes bildeten ein gigantisches unsichtbares Schleppnetz, dessen Öffnung über den Kopf des Paratau-Schleiers glitt und die Tropfen aus gläsern wirkender halbstofflicher Psi-Materie einfing.
Rhodan rechnete mit Zwischenfällen. Deshalb hatten die Hamiller-Tube, die Fangmannschaft und der Kommandant eine Vielzahl an Eingriffsmöglichkeiten und Notfallschaltungen vorbereitet. Im schlimmsten Fall mussten das Netz gekappt und die BASIS mit ihrem Paratronschirm geschützt werden.
Doch alles verlief reibungslos. Zwar konnte nicht der gesamte Paratau dieser Region eingefangen werden, aber die Masse, die in einen geräumten Hangar gesaugt und abgeschirmt wurde, war groß genug, diese Tauregion für einige Zeit zu entlasten.
Perry Rhodan wischte sich den Schweiß von der Stirn, als Waylon Javier ihm endlich meldete, dass das Paratronfeld im Hangar geschlossen und stabil sei.
»Ich danke allen, die mitgeholfen haben, diesen Erfolg zu sichern«, sagte Rhodan über Interkom. »Wir haben unsere Verpflichtung erfüllt, der Flug geht weiter.«
Jemand lachte.
Der Aktivatorträger sah sich überrascht um. Da war niemand, der derart frivol hätte lachen können. Das war überhaupt niemand mehr, denn Rhodan befand sich allein in der Hauptzentrale.
Er hatte den Paratau unterschätzt, das war ihm sofort klar. Die Psi-Materie wirkte sogar durch den Paratronschirm hindurch und löste irreale Phänomene aus.
»Hamiller?«, sagte Rhodan.
Nur ein eigenartiges Echo hallte von allen Seiten zurück. Sonst nichts. Das konnte nur ein Trugbild sein.
»Was ist eigentlich los, bei allen Kreaturen?«, zwitscherte unvermittelt eine schrille Stimme an der Grenze des Hörbaren.
Rhodan fuhr auf dem Absatz herum, überzeugt, den Blue Si'it zu sehen. Doch er blickte in das grotesk wirkende Gesicht eines riesenhaften Wurmes, der sich gut zwei Meter hoch aufgebäumt hatte und auf ihn herabsah.
»Wer bist du?«, fragte Rhodan, obwohl er die Antwort ahnte.
»Ich bin Si'its Muurt-Wurm. Du musst mir helfen, diesen ungeschickten Jülziish zu finden, der die beste Delikatesse verschmäht.«
»Verschwinde!«, herrschte Rhodan den Wurm an. »Für solche Dummheiten habe ich derzeit nicht den Nerv.«
»Warum eigentlich nicht?«, fragte der Muurt-Wurm, aber da stand er nicht mehr wie ein Racheengel vor dem Terraner, sondern planschte in einem an den Rändern ausgefransten Becken in einer sämigen Flüssigkeit.
Rhodan verdrehte anklagend die Augen. »Bist du dafür verantwortlich, ES?«, fragte er in den Raum hinein.
Der Wurm planschte stärker. »Koste endlich!«, forderte er. »Es ist die köstlichste Rahmsoße, die du je geschmeckt hast.«
»Vor allem ist es völlig ungefährlich«, sagte eine dumpfe männliche Stimme. »Niemand wird herauskommen, wenn er nicht zuvor hineingegangen ist.«
ES? Perry Rhodan lauschte dem verhallenden Klang. Er war sich seiner Vermutung nicht völlig sicher, und wohl gerade deshalb verspürte er den Drang, aus der Haut zu fahren. Trotzdem atmete er nur ein paar Mal tief durch.
Im nächsten Moment war der riesige Muurt-Wurm samt seinem Becken voller Rahmsoße nicht mehr da. Rhodan sah das als gutes Omen. Er war sicher, dass alles sich normalisierte, solange er einen kühlen Kopf bewahrte.
Eine Viertelstunde später war von dieser Sicherheit nicht mehr allzu viel übrig. Rhodan hatte die Hauptzentrale einige Mal quer durchschritten, ohne irgendwo anzustoßen – als sei sie nichts anderes als ein Holo und er ein hilfloser Gefangener inmitten dieser Projektion.
»Es ist zwecklos«, seufzte er. Gleichzeitig wechselte seine Umgebung. Er stand nicht länger in der Hauptzentrale, sondern in dem Nebenraum mit der großen Schalt- und Kontrollwand der Hamiller-Tube.
»Hamiller!«, sagte Rhodan fast schon erleichtert.
»Ja, Sir?«
»Du bist real?«
»Warum sollte ich das nicht sein, Sir?«
Unvermittelt erklang die Stimme Waylon Javiers im Interkom: »Hier spricht der Kommandant. Ich bitte alle Besatzungsmitglieder, Ausschau nach Perry Rhodan zu halten. Er ist während der soeben beendeten unerklärlichen Überlichtphase aus der Hauptzentrale verschwunden.«
»Ich soll verschwunden sein?«, rief Rhodan.
»Sie befinden sich tatsächlich nicht in der Hauptzentrale, Sir«, sagte die Hamiller-Tube.
Rhodan schüttelte seine Entrüstung ab. »Ja, ich bin verschwunden«, bestätigte er. »Aber eben war es noch anders, da ...«
»Keine nachträgliche Aufregung, Sir«, unterbrach ihn die Positronik. »Wir werden alles aufklären. Und falls nicht: Es ist kein Schaden entstanden.«
»Wie schön«, sagte Rhodan mit leichtem Sarkasmus.
Er bekam keine Antwort, aber er erwartete auch keine.
Gesil verfolgte über die Bord-Info, wie der Paratau eingesammelt und in den Hangar gebracht wurde.
Augenblicke danach war sie irgendwo anders. Sie hatte zumindest den Eindruck, dass sie nicht mehr körperlich existierte, sondern nur als Konglomerat von Gedanken und Gefühlen. Sie reagierte ratlos und verzweifelt darauf, denn sie hatte keine Ahnung, was mit ihrem Kind geschehen war, als ihre körperliche Existenz aufgehört hatte.
Nichts hat aufgehört!, dachte sie. Ich bin nur Bestandteil eines dimensional übergeordneten Kontinuums. Dabei hörte sie sich reden, obwohl sie keinen ihrer Gedanken laut aussprach – nicht aussprechen konnte. Es mutete sie an, als wäre ihr Bewusstsein in unzählige Teile zersplittert, die alle unabhängig voneinander denken konnten.
So einfach ist es nicht!, mahnte sie sich – aber eigentlich nicht sie selbst, denn ein anderer ihrer Bewusstseinssplitter hatte es gedacht. Ein anderer als der, in dem sie sich fühlte.
Harmonische Klänge erfüllten Gesil, erweiterten ihr Bewusstsein und ließen sie ringsum und in ihr selbst Schwingungen spüren, die den Kosmos seit Urzeiten durchpulsten. Farben breiteten sich zwischen den Universen aus und verwoben sich zu einem vibrierenden Netz, in dem die Schwingungen des Kosmos sich fingen und in Gleichklang gebracht wurden. Gesils Empfindungen waren plötzlich über dieses gigantische n-dimensionale Netz verteilt. Ihr vielfältiges Ich nahm wahr, was im gesamten Universum zu allen Zeiten geschah, geschehen war und geschehen sein würde. Eine unendliche Traurigkeit und zugleich ein endloses Glücksgefühl beherrschten alle Bewusstseinssplitter.
Diese »Zeitlosigkeit« währte indes nur einen Lidschlag, jedenfalls für Gesils Wahrnehmung, schon fand sie sich körperlich wieder, als sei nichts geschehen. Sie lag in ihrem Bett in der Bordklinik der BASIS – aber sie erinnerte sich, dass sie eine Vision gehabt hatte, eine Art Erleuchtung. Ihr war visuell und emotional deutlich geworden, welcher Weg nach EDEN II führte.
Es war der Weg in das n-dimensionale Netz, das den Kosmos erfüllte. Das geistige Zentrum der Mächtigkeitsballung konnte nirgendwo anders existieren als in diesem dimensional übergeordneten Kontinuum – und nur, wer damit verschmolz, würde es jemals erreichen.
Gesil spürte zudem, wer ihr diese Erkenntnis vermittelt hatte. Nicht ES, auch keine andere Superintelligenz, sondern ein Teil ihrer eigenen Existenz. Als sie mit dem übergeordneten Kontinuum verschmolzen war und ihr Bewusstsein sich in zahllose Bruchteile aufgesplittert hatte, war ihr der mentale Einblick in das Bewusstsein des Wesens ermöglicht worden, das sie in sich trug ...
... in das Bewusstsein ihres Kindes. Ihrer und Perry Rhodans Tochter.
Diese enge mentale Verbindung hatte maßgeblich die Vision bestimmt, die ihr den Weg nach EDEN II wies. Ihr ungeborenes Kind hatte ihr zu der Erkenntnis verholfen, wie sie und alle an Bord der BASIS ihr Ziel erreichen konnten.
Das bedeutete zugleich, dass diese Information irgendwo und irgendwie im Bewusstsein oder im Unterbewusstsein ihres Kindes verankert sein musste. Auf welche Art und Weise, das würde wahrscheinlich ein Rätsel bleiben. Eigentlich nur auf genetischem Weg.
Informationsgene? Gesil fröstelte, weil sie spontan an Gene dachte, die körperliche Merkmale vererbten. Informationsgene waren jedoch etwas, das seit dem Beginn des Universums existieren musste.
Bei den meisten Intelligenzen schlummerte die Möglichkeit, Einblick in die größten Geheimnisse des Universums zu erlangen, ihr Leben lang. Nur ausnahmsweise offenbarte sie sich, meist bedingt durch äußere Einflüsse.
Die psionischen Entladungen des Parataus?
Gesil nahm ihr Armband und rief nach ihrem Mann. Rhodan meldete sich fast sofort.
»Mit mir ist alles in Ordnung«, sagte sie schnell, um Fragen zuvorzukommen. »Der Paratau ist nützlich, aber auch gefährlich. Was ist passiert?«
Ihr Mann lächelte beruhigend.
»Es besteht keine Gefahr mehr«, antwortete er. »Die Mutanten haben festgestellt, dass die psionischen Phänomene, die unter anderem zu einer Kurztransition der BASIS führten, nicht durch den an Bord befindlichen Paratau hervorgerufen wurden. Schuld daran waren die Reste des Parataus, die wir nicht aufnehmen konnten. Inzwischen sind wir wieder auf Überlichtphase und haben Fornax verlassen.«
»So werden wir EDEN II nicht finden!«, rief Gesil.
Perrys Blick verdüsterte sich. »Vielleicht nicht«, gab er zu. »Trotzdem dürfen wir es nicht unversucht lassen.«
»Es geht anders«, sagte Gesil. »Wir alle müssen mithilfe des Parataus Psi-Fähigkeiten erwerben, einen Gruppengeist bilden und uns auf EDEN II konzentrieren. Nur dann können wir uns auf das dimensional übergeordnete Niveau begeben, auf dem die Kunstwelt existiert.«
Ihr Mann blickte sie durchdringend an.
»Es ist so, Perry«, sagte Gesil eindringlich. »Einen anderen Weg nach EDEN II gibt es nicht für uns.«
»Das klingt so einleuchtend, dass ich mich davor fürchte, dich zu fragen, woher du dieses Wissen hast«, stellte Rhodan leise fest.
»Es muss mit den vom Paratau hervorgerufenen Psi-Phänomenen zu tun haben.« Gesil scheute davor zurück, ihrem Mann schon die ganze Wahrheit zu offenbaren. »Ich hatte eine Vision und sah dabei die psionischen Feldlinien, die das Universum durchziehen. Nur über sie kann das geistige Zentrum von ES erreicht werden.«
»Der Weg nach EDEN II!«, flüsterte Rhodan. »Das muss er sein! Ich komme sofort zu dir, wir besprechen alles. Es muss gut überlegt werden. Ich komme mit Gucky.«
»Nein!«, entfuhr es Gesil, denn sie fürchtete jäh, der Ilt könnte telepathisch ihr Geheimnis aufdecken.
»Warum nicht?«, fragte Rhodan verwundert.
Gesil neigte den Kopf. »Doch, bring Gucky mit! Immerhin geht es um psionische Phänomene.«
»Erst nein, dann ja.« Perry Rhodans Miene sprach Bände, doch sofort lächelte er verständnisvoll. »Bis gleich«, versprach er.
Gesil schaltete ab. »Du hast einen wundervollen Vater«, flüsterte sie vor sich hin. »Wir werden ihm unser kleines Geheimnis bald verraten können. Nur jetzt noch nicht. Er hat zu viel am Hals, als dass er Zeit fände, sich angemessen darüber zu freuen. Gucky wird uns verstehen – und er wird uns nicht verpetzen, falls er dahinterkommen sollte.«
Sie nickte glücklich, weil eine Welle von Liebe und Zustimmung durch ihr Bewusstsein flutete ...