16. Shrou
Gesil landete auf EDEN II.
Den Impulsaktivator fest im Griff, betrat sie eine graue Ebene, die sich scheinbar endlos nach allen Seiten erstreckte. Hier gab es weder Pflanzen noch Tiere. Nichts regte sich, nirgendwo unterbrachen Hügel oder gar Felsen die Monotonie. Eine trübe Helligkeit lag über diesem Land. In weiter Ferne, verschwommen im Dunst, glaubte Gesil, die Umrisse einer gigantischen Stadt erkennen zu können.
Sie wollte sich in diese Richtung wenden, da erschien eine Gestalt vor ihr aus dem Nichts. Dieses Wesen war unzweifelhaft menschlicher Herkunft, aber es blieb blass und durchscheinend wie ein Gespenst.
»Wer bist du?«, fragte Gesil. »Hat ES dich geschickt, damit du mich unterstützt?«
Ein kaum erkennbarer Mund bewegte sich in dem durchscheinenden Gesicht. »Hilf mir!«, bat der Fremde so leise, dass Gesil ihn nur mit Mühe verstand, obwohl es totenstill in der Ebene war.
Sie schluckte ihre Enttäuschung hinunter und sagte sich, dass sie es hätte wissen müssen. Das halbstoffliche Wesen war zweifellos ein Konzept, eines der ungezählten Bewusstseine, die ES irgendwann in sich aufgenommen hatte. Die Konzepte, die nun nach und nach materialisierten, unterlagen zugleich dem Einfluss des Herrn der Elemente.
Gesil wollte weiter, um den Angreifer zu suchen. Es galt, keine Zeit zu verlieren. Aber sie konnte nicht ausschließen, dass das Konzept eine Aufgabe im Sinn von ES zu erfüllen hatte – und abgesehen davon machte die Gestalt einen bedauernswerten Eindruck.
»Was kann ich für dich tun?«, fragte sie.
»Etwas zieht mich dorthin«, wisperte das Konzept und deutete mit seiner kaum erkennbaren rechten Hand zum verhangenen Horizont. »Dort ist etwas, das mich ängstigt. Es hat mich ES entrissen und es wird mich nicht nur von EDEN II entfernen, sondern mich aufsaugen.«
»Du sprichst von den psionischen Wirbelfeldern, den Nega-Psis«, sagte Gesil. »Es gibt zwanzig davon; sie haben einen Ring um EDEN II gebildet.«
»Um ES zu vernichten«, vermutete das Konzept. »Und uns dazu.«
»Ja.«
»Ich will nicht zu diesem Nega-Psi!«
»Dann kämpfe gegen den Zwang an!«
»Ich ... schaffe es nicht«, wisperte das Konzept. »Es zerrt an mir.«
»Du musst ...« Gesil verstummte, denn das Konzept warf sich herum und lief los. Mit weiten Sprüngen rannte es dem fernen Horizont entgegen, wobei es immer deutlicher sichtbar wurde.
»Du musst dich zur Wehr setzen!«, rief sie dem Wesen hinterher, das vielleicht sogar mehrere Bewusstseine in sich vereinte. »Komm zurück!«
Das Konzept reagierte nicht darauf. Es entfernte sich mit großer Geschwindigkeit und ohne erkennbare Mühe. Ihr erschien es sogar, als würden die Füße dieses Wesens den Boden kaum berühren. Bald war das Konzept nur noch ein winziger Punkt in der Weite der Ebene.
Gesil spürte einen zufriedenen Impuls in ihr aufsteigen und erschrak darüber.
»So darfst du nie denken«, raunte sie. »Ich weiß, dass ich eine Aufgabe habe und es mir eigentlich nicht erlauben kann, mich mit den Nöten eines einzelnen Konzepts aufzuhalten. Aber es ist ein Wesen, das sich in Not befindet. Ich musste wenigstens versuchen, ihm zu helfen!«
Sie erhielt keine Antwort. Anstelle von Zufriedenheit empfand sie mit einem Mal Furcht und eine Andeutung von Schuldbewusstsein.
»Ich muss es ja nicht gleich übertreiben«, raunte sie.
Das Schuldbewusstsein blieb.
»Wie du meinst.« Gesil wurde nachdenklich. »Vielleicht ist es sogar ganz gut so.«
Sie blickte weit über die Ebene und drehte sich dabei langsam im Kreis. Hier und da sah sie weitere Konzepte, die langsam materialisierten und sich schon während ihrer Verstofflichung in Richtung auf das nächste Nega-Psi in Bewegung setzten. Keines dieser Wesen traf Anstalten, sich Gesil zu nähern oder sie wenigstens auf sich aufmerksam zu machen.
»Es ist offensichtlich kein Bote von ES dabei«, seufzte sie. »Falls ES überhaupt in der Lage ist, einen Boten zu senden ...«
Ein Geräusch ließ sie herumfahren. Ein schon weitgehend stabilisiertes Konzept kam schnell auf sie zu.
»Geh in die Stadt!«, rief es Gesil zu, dann verlor es den Halt, stürzte und blieb besinnungslos liegen.
»Das war
offenbar ein Bote«, sagte Gesil erschüttert.
Wieder lauschte sie in sich hinein. Sie spürte das Bedürfnis, dem Hinweis zu folgen. Es war ein vages Gefühl, nicht mehr, aber es war vorhanden.
»Nun mal langsam«, mahnte sie. »Wir werden in die Stadt gehen, allerdings hat es keinen Sinn einfach loszulaufen. Wir wissen nicht einmal, welche Stadt gemeint ist.«
Das stimmte nicht, und sie wusste es. Nur eine einzige Stadt kam infrage: Jene, deren verschwommene Umrisse sie am Horizont sah.
»Na schön«, murmelte Gesil. »Doch wir werden den Boten nicht zurücklassen. Er ist bewusstlos, aber sobald er wieder zu sich kommt, kann er uns vielleicht wichtige Hinweise geben.«
Sie spürte keinen inneren Widerstand. Also setzte sie die Möglichkeiten des SERUNS ein, hob die reglose Gestalt auf und flog mit hoher Geschwindigkeit weiter.
Die Stadt war merkwürdig, mit riesigen turmartigen Gebäuden und engen, unebenen Straßen, die von hohen Mauern gesäumt wurden. Hinter den Mauern lagen leere Höfe und Plätze. Nirgends gab es Anzeichen dafür, dass diese Stadt jemals bewohnt gewesen war.
»Keine Konzepte«, sagte Gesil zu sich selbst, nachdem sie den Bewusstlosen auf dem Dach eines Gebäudes abgelegt hatte. »Niemand, der mir Auskunft geben kann. Ich glaube nicht, dass diese Stadt gemeint war.«
Sie lauschte in sich hinein und spürte bohrende Ungeduld. »Keine Angst«, sagte sie, »ich werde ihn schon zum Sprechen bringen.«
Der Fremde machte bereits einen recht stabilen Eindruck. Zumindest war er so weit materiell, dass Gesil ihn an den Schultern fassen und schütteln konnte. Er reagierte nur nicht darauf.
»Was nun? Ich kann ihm kein Medikament geben, womöglich würde ich ihn damit umbringen.«
Sie trat an den Rand des Daches und blickte hinab. In den engen Straßen, die eher an schmale Canyons erinnerten als an moderne Verkehrswege, rührte sich nichts. Draußen, in der Ebene, stieg dichter Nebel auf, der alles verdeckte, was es möglicherweise zu sehen gegeben hätte.
Gesil musterte das Konzept. Es war ein älterer Mann mit dunkler Hautfarbe und dichtem, tiefschwarzem und krausem Bart. Sie zerbrach sich den Kopf darüber, ob sie ihn vielleicht schon einmal in irgendwelchen Aufzeichnungen gesehen hatte, doch sie erinnerte sich beim besten Willen nicht.
Ungeduldig wartete sie, blickte immer wieder über die Stadt hinweg und hoffte auf irgendein Zeichen oder einen Hinweis.
Als sie sich wieder einmal umwandte, um nach dem Konzept zu sehen, war der Fremde verschwunden. Vielleicht war er aufgewacht. Allerdings konnte er keineswegs unbemerkt davongegangen sein – offenbar hatte er sich einfach aufgelöst.
»Wunderbar«, sagte Gesil sarkastisch. »Wir haben unsere Zeit verschwendet – das ist alles.«
Ein deutliches Gefühl ließ sie spüren, dass dies nicht alles sein konnte. Das Konzept hatte ihr gesagt, sie solle in die Stadt gehen. Es musste einen Grund dafür gehabt haben.
Ungeduld erfasste sie. Es war ihr ungeborenes Kind, das sich bemerkbar machte.
»Warte«, bat Gesil. »Es geht nicht immer alles so schnell, wie man sich das wünscht.«
Die Ungeduld wurde prompt so quälend, dass sie das Dach schon verließ, kaum dass sie den Satz zu Ende gebracht hatte.
Gesil überquerte einige Straßenschluchten, und überall bot sich ihr dasselbe trostlose Bild. Die Stadt leer und einsam, ohne Leben.
»Mir reicht es«, sagte sie schließlich. »Hier werden wir keinen Hinweis darauf finden, wo sich der Herr der Elemente versteckt hält.«
Dann stutzte sie, weil sie in einem der Höfe einen grünen Fleck entdeckte. Entschlossen ging sie darauf zu.
Der größte Teil des großen Hofes war steril wie alles in der Stadt. In einer Ecke wuchsen jedoch alte, knorrige Bäume, und zwischen ihnen Gras und Blumen. Ein schmaler Trampelpfad führte in den
Bereich, in dem die Mauern in flachem Winkel aneinanderstießen. Gesil folgte dem Pfad erst zögernd und vorsichtig, doch schon nach wenigen Dutzend Metern verflog ihr Misstrauen.
Dieser Pfad führte in eine Welt voller Schönheit und Harmonie. Selbst die hohen Mauern muteten in diesem Teil des Hofes weder steril noch abweisend an. Sie ähnelten eher Felswänden, die von unzähligen Pflanzen besiedelt waren.
Gesil hörte das Plätschern von Wasser und schritt schneller aus. Sie entdeckte ein kleines Steinhaus, das sich vor der hoch aufstrebenden Mauer und den im Hintergrund sichtbaren Turmbauten sehr sonderbar ausnahm. Ein Bach entsprang an der Wand nahe dem Haus, mäanderte über die Lichtung und verlor sich im Halbdunkel unter den Bäumen.
»Ist jemand da?«, rief Gesil halblaut.
Niemand antwortete. Sie ging weiter, erreichte das Haus und stieß die hölzerne Tür auf. Ein schauerliches Knarren ließ sie zusammenzucken.
»Hallo!«, rief sie, trat ein und bückte sich instinktiv, denn der Raum war keine zwei Meter hoch. Dicke Balken bildeten die Decke, und an ihnen hingen allerlei Utensilien und zu Büscheln gebundene getrocknete Kräuter.
War dies der Ort, an dem ein Bote warten mochte, jener Ort, den das Konzept gemeint hatte?
Gesil entdeckte eine niedrige Tür, die in einen Nebenraum führte. Auch diese Tür knarrte grässlich. Gesil blickte in ein winziges finsteres Gelass. Das einzige Fenster war klein, verschmutzt und wies auf die massive Mauer hinter dem Haus – da kam fast kein Licht hindurch. Es roch dumpf, nach Staub und Moder. In einer Ecke raschelte es.
»Hier ist auch niemand«, sagte Gesil und wollte die Tür wieder schließen. Ein Impuls veranlasste sie jedoch, einen Moment zu warten.
Es raschelte erneut, diesmal länger und lauter.
»Wer bist du?«, fragte Gesil vorsichtig. »Komm heraus!«
»Wünsch dir das lieber nicht!«, sagte eine spöttisch klingende Stimme hinter ihr. »Ich nehme an, es ist ein Kalag. Giftige, kleine Biester sind das, boshaft und bissig. Komm weg von hier!«
Das Rascheln wurde heftiger, ein kichernder Laut erklang. »Kalag, Kalag«, schwatzte ein geschäftiges, dünnes Stimmchen, und ein pelziges Wesen mit langen, spitzen Ohren hoppelte über den schmutzigen Boden auf Gesil zu. »Kalag lieb, Kalag streicheln, lieb streicheln. Komm, streicheln!«
Das Wesen setzte sich vor Gesil und kratzte sich ausgiebig hinter dem rechten Ohr. Es blickte sie mit kleinen, feuchten, sehr schwarzen Augen an. »Streicheln?«, wiederholte es fragend und ein wenig melancholisch.
»Dieses Geschöpf soll gefährlich sein?«, fragte Gesil, ohne sich umzuwenden.
»Es beißt!«, warnte die spöttische Stimme hinter ihr.
»Kalag lieb!«, versicherte das Pelzwesen.
Es war etwa doppelt so groß wie ein terranisches Kaninchen und sehr possierlich. Gesil spürte den Wunsch, das Tier hochzuheben.
»O nein!«, sagte sie energisch. »Das geht zu weit!«
Sie trat einen Schritt zurück. Der Kalag richtete seine langen Ohren auf und zwitscherte freundlich. Gesil zögerte.
»Kalag lieb«, behauptete das Wesen erneut. Dann schnellte es in die Höhe und sprang Gesil an. Sie spürte nadelspitze Krallen am Hals. Große, scharfe Zähne schnappten vor ihrem Gesicht zu.
Gerade noch rechtzeitig hatte sie die Hände hochgerissen und den Kalag gepackt. Er war schwer und zappelte heftig.
»Kalag lieb, lieb!«, schrie der Kleine wutentbrannt, während er sich hartnäckig bemühte, Gesils Handgelenke zu erreichen. Seine kräftigen Kiefer schnappten auf und zu.
»In der Tat, sehr lieb«, keuchte Gesil. »Verschwinde, du Giftzwerg!« Sie warf den Kalag in die Ecke zurück, aus der er gekommen war. Er schwatzte zornig vor sich hin, aber Gesil trat den Rückzug an.
Nun erst hatte sie Gelegenheit, sich mit dem Fremden zu befassen, der so unverhofft erschienen war. Er stand am Eingang und hielt ihr die Tür auf. Sie sah ihn nur als dunkle, leicht gebeugte Silhouette vor dem hellen Hintergrund.
Der Kalag hoppelte schon wieder heran und schnatterte wütend. Glücklicherweise war er recht tapsig und bewegte sich so langsam, dass Gesil und der Fremde das seltsame Haus vor ihm verlassen und
die Tür schließen konnten.
»Hat er dich gebissen?«, fragte der Fremde besorgt.
»Nein.« Gesil betastete ihren Hals. »Aber gekratzt.«
»Das ist nicht schlimm. Die Krallen sind harmlos, nur die Zähne enthalten Gift.«
»Entzückend.« Gesil seufzte. »Was ist das für ein Bursche? Wie kommt er hierher?«
»Ich nehme an, dass er aus dem Zoo entwischt ist.«
»Zoo?«, rief Gesil verblüfft.
»Eine Sammlung von Tieren und Pflanzen aus verschiedenen Galaxien. ES dürfte ein wenig die Kontrolle darüber verloren haben.«
»Aber dieser Kalag ist offensichtlich kein Tier und gehört nicht in einen Zoo. Er ist intelligent.«
»Das scheint nur so. Er plappert nach. Kalags sind Raubtiere, nur nicht schnell genug, um eine Beute zu erwischen. Sie entnehmen den Gedanken ihrer Opfer, auf welche Weise sie sie beruhigen können. Dann machen sie ihre Beute unvorsichtig, und dabei sind sie sehr erfolgreich. Du solltest in Zukunft besser aufpassen. Es dürfte allerlei Getier unterwegs sein.«
Gesil wollte sagen, dass sie durchaus vorsichtig war – es war ihr Kind, das diese Kreatur falsch eingeschätzt hatte –, doch sie ließ es bleiben. Es war schwierig genug, selbst damit zurechtzukommen.
»Bist du der Bote, den ich in dieser Stadt treffen sollte?«, fragte sie stattdessen.
»Bote?« Der Fremde sah sie erstaunt an. »Nein, ich bin kein Bote. Du wirst auch keinen finden, der eine solche Funktion erfüllen könnte.«
»Ich dachte, du kommst von ES!«
»Sicher komme ich von ES. Woher sollte ich auf diesem Planeten auch sonst kommen?«
»Du hast wirklich keine Informationen, die du mir überbringen sollst?«, fasste Gesil nach.
»ES sendet keine Botschaften, ES ist gelähmt. Es gibt keine Möglichkeit, mit ihm in Verbindung zu treten.«
»Kann es nicht wenigstens ein paar Konzepte geben, die weiterhin dazu imstande sind?«
»Nein. Wenn die Verbindung weg ist, dann ist sie weg. Es betrifft uns alle gleich.«
»Aber du bist nicht auf dem Weg zu den Nega-Psis.«
Der Fremde blickte nachdenklich in die Ferne. »Noch nicht«, sagte er. »Trotzdem: Ich werde früher oder später nachgeben müssen. Übrigens, ich heiße Shrou. Mein Nachname wird dich kaum interessieren.«
»Warum kannst du dem Sog der Nega-Psis widerstehen?«, wollte Gesil wissen, nachdem sie sich vorgestellt hatte.
»Ich schätze, das ist reine Willenssache«, antwortete Shrou. »Ich wehre mich einfach dagegen.«
»Das tun andere auch, leider sind sie nicht so erfolgreich dabei.«
Shrou lächelte schief. Er war groß und hager, und obwohl er eine sehr helle Hautfarbe hatte, haftete ihm etwas Düsteres an. In seinen Augen lag ein fanatisches Glühen.
»Ich habe nie getan, was alle anderen tun«, erklärte er schleppend. »Ich bin ein Außenseiter, verstehst du?«
»Du bist ein Konzept.«
»Ja, und dagegen kann ich leider nichts tun. Niemand kann mich dazu zwingen, diesen Zustand zu mögen. Ich ziehe es vor, richtig körperlich zu existieren.«
»Das hört sich an, als wärst du mit dem derzeitigen Zustand ganz zufrieden.«
»So ist es. Nur dieser Sog stört mich. Gibt es nichts, womit man ihn ausschalten kann?«
»Ich habe eine Waffe ...« Gesil erschrak: »Ich habe sie in der Hütte gelassen!«
»Dann musst du sie holen«, stellte Shrou gelassen fest. »Ich halte dir die Tür auf!«
»Zu freundlich.« Gesil musterte die Tür mit großer Abneigung. Sie hörte den Kalag – er kratzte mit seinen Krallen am Holz und schwatzte unaufhörlich vor sich hin.
»Er ist sehr wütend«, meinte Shrou. »Sei vorsichtig, sonst erwischt er dich.«
»Zu zweit könnten wir leichter mit ihm fertigwerden.«
»Mag sein«, stimmte Shrou zu. »Trotzdem habe ich nicht die Absicht, mich von dem Biest beißen zu lassen. Du
hast die Waffe
vergessen.«
»Und es geht unter anderem auch um deine Existenz«, konterte Gesil verärgert.
»Wenn der Kalag mich erwischt, ist es zehn Minuten später aus mit mir«, entgegnete Shrou. »Andernfalls halte ich es ein paar Tage länger aus. Ich ziehe das größere Stück des Kuchens vor. Im Übrigen würde ich mich an deiner Stelle beeilen. Dieses Gerede führt zu nichts.«
Gesil schüttelte innerlich den Kopf über das Konzept. Aber sie musste sich mit den Gegebenheiten abfinden. Sie wünschte, dass sie bald auf andere, ebenso widerstandsfähige, hoffentlich hilfsbereitere Konzepte treffen würde.
Shrou stieß die Tür auf. Der Kalag versicherte mit zornigem Geschrei, wie friedlich er sei, schoss um die Ecke und schnappte nach Shrous Stiefeln. Das Konzept schüttelte das pelzige Wesen hastig ab und trat die Flucht an. Gesil nutzte die günstige Gelegenheit, sprang in die Hütte und sah sich hastig um.
Da lag die speerförmige Waffe auf dem verdreckten Boden, und ein faustgroßes Pelzbündel hockte daneben und fiepte durchdringend. Es ging Gesil durch und durch, als ihr bewusst wurde, dass dies ein junger Kalag war, noch ein Baby und nicht einmal imstande, verständliche Laute zu formen. Das Verhalten des erwachsenen Tieres bekam plötzlich ein anderes Gewicht – es war gar nicht bösartig, sondern bemühte sich verzweifelt, in dieser leeren Stadt, in der es sonst kein Leben gab, Futter für sein Junges zu beschaffen.
Von draußen nahte mit »Kalag lieb!«-Geschrei die Mutter des Pelzbündels.
Gesil zwang sich zu nüchternem Denken und drängte ihre Gefühle zurück. Sie hob die Waffe auf, bemüht, dem Pelzbündel nicht zu nahe zu kommen. Die Tür schloss sich ruckend und knarrend. Gesil riss sie wieder auf, sah die Kalag-Mutter auf sich zukommen und huschte schnell an ihr vorbei. Das Tier warf sich herum und versuchte, unbeholfen hoppelnd, seine Beute zu verfolgen.
»Tut mir leid«, murmelte Gesil.
Dann kam ihr ein Gedanke. Sie holte einen Konzentratriegel aus der Tasche und warf ihn dem Kalag zu. Das Tier stutzte und schnüffelte aufgeregt, setzte die Verfolgung danach aber fort. Es
hatte keine Chance, Gesil zu erreichen, denn es war einfach zu langsam.
Unter den Bäumen, in sicherer Entfernung, hockte Shrou auf dem grasbewachsenen Boden und inspizierte seine Füße.
»Ich hatte großes Glück«, stellte er fest. »Das Biest hat die Stiefel fast durchgebissen. Wie ist es mit dir?«
Er betrachtete Gesil von oben bis unten, als überlege er bereits, welche Teile ihrer Ausrüstung ihm von Nutzen sein konnten.
»Ich habe eine schlechte Nachricht für dich«, sagte Gesil grob. »Ich bin unbeschadet davongekommen.«
Shrou warf den Kopf zurück und lachte.
»Wir sollten von hier verschwinden«, verkündete er, nachdem er seiner Heiterkeit lange genug freien Lauf gelassen hatte. »Diese Biester sind hartnäckig. Übrigens, es war ein sinnloser Versuch, ihn mit Konzentraten zu füttern. Kalags nehmen nur lebende Nahrung an.«
»Ach nein. Und womit wurden sie in diesem Zoo gefüttert?«
»Mit ungehorsamen Konzepten«, behauptete Shrou spöttisch.
Gesil wusste, dass es ein Scherz sein sollte, aber die gedanklichen Assoziationen, die sich ihr aufdrängten, waren ziemlich unerfreulich. Sie spürte einen Anflug von Panik, der indes nicht aus ihrem eigenen Bewusstsein stammte.
»Wir sollten uns trennen«, entschied sie schroff. »Ich glaube nicht, dass du mir helfen kannst.«
»Sag das nicht! Ich kenne mich auf EDEN II recht gut aus.«
»In einer Welt, in der sich ohnehin fortwährend alles verändert?«
»Ich bin imstande, mich zu orientieren, und das ist weit mehr, als ich dir zutraue. Du wirst schon merken, dass es gar nicht einfach ist, sich zurechtzufinden. ES hat mich oft hier draußen herumlaufen lassen, das kann jetzt für dich von Vorteil sein.«
Gesil antwortete nicht. Sie war böse auf Shrou, weil er ihr Kind erschreckt hatte und weil er feige und selbstsüchtig war. Sie wünschte sich, er würde einfach verschwinden, wie das Konzept auf dem Dach des Turmes. Doch Shrou blieb und stapfte neben ihr durch das Halbdunkel unter den alten Bäumen, bis sie den sterilen Teil des Hofes erreichten.
»Ich trage einen SERUN, wie du wohl erkennen kannst«, sagte sie
zu Shrou. »Ich werde jetzt starten. Ich kann dich leider nicht mitnehmen.«
»Du könntest schon, du willst nur nicht«, stellte das Konzept fest.
»So ist es«, sagte sie und hob vom Boden ab, steuerte über die Mauer hinweg einen der Türme an und blickte erst wieder nach unten, als sie den Rand der Stadt erkennen konnte und wusste, wohin sie sich wenden musste.
Shrou kam soeben hinter der Mauer hervor. Er stand auf einer kleinen Antigravscheibe, die er steil in die Höhe zog, und winkte ihr fröhlich zu.
»Den werden wir nicht so schnell los«, sagte Gesil seufzend zu sich selbst und zu ihrem Kind. »Wer weiß, vielleicht ist er tatsächlich zu etwas nutze!«
Sie hatte nicht nur ein ungutes Gefühl, während sie dem Rand der Stadt entgegenflog, sie fühlte sich derart unbehaglich, dass ihr beinahe übel wurde.
»Wohin willst du eigentlich?«, rief Shrou ihr von seiner Antigravscheibe aus zu.
»Ich suche den Herrn der Elemente!«, antwortete sie.
»Ist das der Bursche, der ES lahmgelegt hat?«
»Er ist kein Bursche, sondern ein unglaublich mächtiges Wesen«, sagte Gesil streng. Shrou hatte weit genug aufgeschlossen, dass sie sich in normaler Lautstärke verständigen konnten.
»Wenn er ES lähmen konnte, muss er das wohl sein«, gab Shrou zu. »Wo willst du nach ihm suchen?«
»Ich weiß nicht recht. Er will ES vernichten. Also nehme ich an, dass es so etwas wie ein Zentrum geben muss. Oder vielleicht hat ES sich ein Versteck gesucht. Ich hatte gehofft ...«
Gesil verstummte. Es hatte sicher wenig Sinn, dem eigensüchtigen Konzept gegenüber zuzugeben, dass sie auf seine Hilfe gehofft hatte.
»Der Herr der Elemente hat ES überrumpelt«, überlegte Shrou. »Ich nehme nicht an, dass ES Zeit hatte, über ein Versteck nachzudenken. Es ist zudem nicht seine Art, sich zu verstecken. Wenn du mich fragst, dann ist ES im Zentrum von EDEN II zu finden.«
»Das denke ich ebenfalls. Ich werde es zuerst dort versuchen.«
»Warum fliegst du dann zum Rand?«
»Das tue ich gar nicht.«
»Und wie. Ich hatte dir gleich gesagt, dass es nicht einfach ist, sich hier zu orientieren. Wir müssen dort hinüber.« Shrou deutete auf eine Bergkette, eine Phalanx von Gipfeln, bei deren Anblick Gesil schon Beklemmung spürte. Dennoch wusste sie sofort, dass Shrou recht hatte – dort, und nirgendwo sonst, lag ihr Ziel.
»Wenn du das so genau weißt, hättest du es mir gleich sagen können«, bemerkte sie ärgerlich.
»Ich konnte es dir erst sagen, nachdem ich wusste, wohin du willst«, entgegnete Shrou gekränkt.
Gesil verzichtete auf die Klarstellung, dass sie ihn gar nicht gemeint hatte.
»Wie weit ist es?«, fragte sie.
Shrou sah sich im Flug um. »Rund viertausendfünfhundert Kilometer. An und für sich kein Problem ...«
»Aber?«
»Wir werden einige Überraschungen erleben. ES war immer dafür gut. Nachdem die Dinge seiner Kontrolle entgleiten, wird es sogar schlimmer sein. Denk an den Kalag.«
Gesil verzog die Mundwinkel. Wenn sie auf nichts Bedrohlicheres als auf ein aggressives Fellknäuel stießen ...
»ES hat recht unangenehme Dinge in seine diversen Sammlungen aufgenommen«, warnte Shrou, und das hörte sich ausnahmsweise sehr ernsthaft an.
»Ich denke, du wirst mich rechtzeitig warnen«, meinte Gesil leichthin.
Shrou machte ein verblüfftes Gesicht – und schwieg.
»Was warst du früher?«, fragte Gesil, während sie über die weite Ebene flogen. »Ich meine, bevor du zum Konzept geworden bist.«
»Ich habe dich schon verstanden«, murmelte Shrou. »Warum interessiert dich das?«
»Damit ich dich besser einschätzen kann.«
»Wenn du es unbedingt wissen willst: In der Zeit der Aphilie war ich so etwas wie ein Kopfjäger. Ich habe Immune aufgespürt und zur Strecke gebracht. Schockiert dich das?«
Gesil war nicht so leicht zu erschrecken, und die Aphilie lag weit in
der Vergangenheit. Aber das ungeborene Leben in ihr war empfindlich und verletzbar. Sie spürte Abscheu und Furcht in ihr aufsteigen und wünschte Shrou zum Teufel. Andererseits schien er sich gut auszukennen. Sie brauchte ihn, jedenfalls für eine Weile.
»Es ist lange her, und es spielt heute keine Rolle mehr«, sagte sie beruhigend. »Kümmere dich nicht darum.«
»He!«, rief Shrou belustigt. »Du musst mich nicht trösten. Ich komme mit meiner Vergangenheit gut zurecht.«
Gesil schwieg. Sie blickte angespannt nach unten, um sich und ihr heranwachsendes Kind auf andere Gedanken zu bringen.
Das Land war bretteben, ohne Vegetation und ohne Leben. In weiter Ferne bewegte sich eine dünne Kette winziger Punkte, Konzepte auf ihrer hoffnungslosen Wanderung, unterwegs zu einem der Nega-Psis, das sie verschlingen würde.
Als Gesil sich umwandte, sah sie die albtraumhafte Stadt wie eine Insel aus steilen Felsen in der Einöde aufragen. Und vor ihr wuchsen die Berge immer höher in den dunstverhangenen Himmel. Beides war nicht der Anblick, den sie sich gewünscht hätte.
»Eine sehr lustige Reisebegleitung bist du nicht gerade!«, rief Shrou ihr nach einiger Zeit zu.
»Dies ist auch keine sehr lustige Reise«, gab sie zurück. »Falls du es nicht verstanden haben solltest: Ich bin unterwegs, um den Herrn der Elemente zu vernichten und ES zu retten.«
»Und du meinst, dass das leichter geht, wenn du mit todernster Miene daherkommst? Der Herr der Elemente wird deshalb bestimmt nicht vor dir zurückweichen. Womit willst du ihn überhaupt vernichten? Mit diesem komischen Speer?«
»Es ist kein Speer, sondern Teil des Devolators.«
»Hübscher Name«, brummte Shrou. »Aber um alles in der Welt, was ist ein Devolator?«
»Eine spezielle Waffe. Eigentlich heißt das Ganze Devolutions-Komponenten-Waffe und besteht aus drei Teilen. Zwei davon befinden sich ... nun ja, in einem fernen Sonnensystem.«
»Klingt, als wäre es sogar sehr weit weg«, bemerkte Shrou.
»Das ist es«, bestätigte Gesil. »Ich muss nicht alles erläutern, doch wenn die Waffe trifft, wird sie beim Herrn der Elemente eine evolutionäre Rückentwicklung auslösen, also eine Devolution. Er
wird zuerst die Fähigkeiten der Gestaltveränderung und der Entstofflichung verlieren, sodass er nicht unbegrenzt fliehen kann. Wie es danach weitergeht – ich muss es einfach abwarten.«
»Du redest von Gestaltveränderung«, sagte Shrou nachdenklich. »Das heißt, dieser ominöse Herr der Elemente kann sein Aussehen jederzeit verändern. Wie willst du ihn bei diesen Voraussetzungen finden?«
»Er hat sich bei uns – beziehungsweise bei den Vironauten – in der Gestalt eines Terraners eingeschlichen. Damit war er wohl außerordentlich erfolgreich und hat deshalb keinen Grund, sein Aussehen zu verändern. Er weiß sicher nicht, dass ich zu ihm unterwegs bin, und wenn er es wüsste, würde er wohl nur darüber lachen.«
»Ein Terraner – das hört sich nicht sehr gut an. Weißt du, wie viele Terraner ES freisetzt? Wenn du nicht genauer sagen kannst, wie er aussieht ... Und außerdem: Hast du keine Angst, ihm entgegenzutreten?«
»Klar habe ich Angst«, sagte Gesil ärgerlich. »Aber ich bin die Einzige, die etwas tun kann. Es sei denn, du wärest bereit ...«
»Ich werde mich da hübsch heraushalten.«
»Auch wenn dabei deine Existenz auf dem Spiel steht?«
»Das ist bislang gar nicht gesagt«, wehrte Shrou ab. »Ich schätze, dass es der Herr der Elemente war, der uns die Nega-Psis beschert hat, oder?«
»Wer sollte es sonst gewesen sein?«
»Na also. Wenn er sein Ziel erreicht hat, kann er die negative Energie getrost wieder abschwirren lassen, und wenn ich es schaffe, bis dahin zu existieren, werde ich hier auf EDEN II ein feines Leben führen.«
»Du bist ...«, stieß Gesil hervor, doch ihr fehlten die Worte, um auszudrücken, was sie empfand.
»Ein Schuft?«, fragte Shrou belustigt. »Na und? Mir gefällt es. Ich mag mich genau so, wie ich bin.«
Gesil schwieg und beschleunigte. Sie nahm sich vor, Shrou bei der erstbesten Gelegenheit abzuhängen und bis dahin auf keine weitere Herausforderung zu reagieren.
Shrou blieb mühelos neben ihr. Gesil musste sich eingestehen,
dass er auf seiner Antigravscheibe einen imponierenden Eindruck machte. Er stand so ruhig und gelassen da, als könne ihm nichts etwas anhaben. Er hatte zwei Stricke an die Ränder der Scheibe gebunden, wie Zügel, mit denen er sein Gefährt lenkte, und er hatte offensichtlich Freude an dieser Art des Fliegens. Wenn er nur etwas weniger gesprächig gewesen wäre.
»Wir sind gleich da!«, rief er nach einiger Zeit.
»Das sehe ich selbst«, gab Gesil zurück.
Die Berge wirkten bedrohlich. In den Tälern und Schluchten wogte dichter Nebel. Ein Stück darüber waren die Hänge grün, weiter oben gab es nichts als nackten Fels, stellenweise auch Schnee und Eis.
Gesil merkte, dass sie allmählich tiefer sank. Beunruhigt prüfte sie ihren SERUN. Alles war in Ordnung, dennoch schaffte sie es nicht, die Höhe zu halten. Shrou, der neben ihr flog, erging es keinen Deut anders.
»Was ist los?«, rief sie zu ihm hinüber.
»Nichts«, antwortete er lakonisch.
»Aber wir sinken.«
»Das ist in diesen Bergen immer so.«
»Immer?«
»Zumindest in letzter Zeit. Frag nicht nach den Gründen – ich kenne sie nicht.«
Shrou zog seine Antigravscheibe dicht über dem Boden in eine elegante Kurve. »Wir müssen hier entlang, bis wir einen Durchlass finden«, sagte er.
Gesil folgte ihm. Dabei hielt sie vergeblich Ausschau nach einem Tal, das durch die Bergkette hindurchführte. Einige Einschnitte, die wie Pässe anmuteten, lagen viel zu hoch.
»Bist du sicher, dass es einen Weg auf die andere Seite gibt?«, rief sie zu Shrou hinüber. Sie musste ihre Frage lauter wiederholen, denn ein gewaltiger Wasserfall übertönte sie mit seinem Donnern.
»Bis vor Kurzem gab es mehrere Wege«, schrie das Konzept zurück. »Ich hoffe, dass wenigstens einer davon übrig ist. Wenn nicht, müssen wir uns auf enorme Probleme gefasst machen.«
Shrou zog seine Antigravscheibe jäh in die Höhe, er flog im Zickzack an einer steilen Felswand entlang – und war verschwunden. Gesil folgte ihm und sah ihn kurz darauf im Eingang einer Höhle.
»Da hinein?« Zögernd landete sie neben ihm.
»Es ist der kürzeste Weg«, sagte Shrou. »Die Höhle führt durch den Berg hindurch in ein Tal, in dem wir ein gutes Stück vorankommen werden. Dahinter sind die Berge nicht ganz so hoch, dort kenne ich einige Pässe.«
»Hoffentlich existieren sie noch«, meinte Gesil skeptisch.
Sie spähte mit Unbehagen in das Dunkel der Höhle. Wenigstens verspürte sie neue Zufriedenheit, wenn auch mit einem anhaltenden Unterton von Ungeduld.
Die Höhle war dunkel und feucht, voll von Tropfsteinen und alles andere als ein Tunnel, der geradlinig durch den Berg führte. Sie verzweigte sich in zahllose Nebengänge, bildete gigantische Hallen und war dann plötzlich nur ein dünner Schlauch, durch den Gesil und Shrou sich gerade so hindurchquetschen konnten.
Auch wenn Gesil ihren Begleiter nicht sonderlich leiden konnte, war sie ehrlich genug, sich einzugestehen, dass sie sich ohne ihn nie zurechtgefunden hätte. Andererseits war es schon verwunderlich, mit welch traumwandlerischer Sicherheit Shrou voraneilte.
»Warst du schon oft hier?«, fragte Gesil, als sie eine kurze Rast einlegten.
»Ein- oder zweimal«, murmelte Shrou, der auf seiner Antigravscheibe saß und in das Gewirr der Tropfsteine starrte, als erwarte er, jeden Augenblick ein Ungeheuer zu sehen.
Die Steine leuchteten im Scheinwerferlicht in allen möglichen Farben. Alles glitzerte vor Nässe.
»Hätten wir die Berge nicht umgehen können?«, wollte Gesil wissen.
Shrou zuckte die Schultern. »Ich weiß es nicht.«
»Obwohl du dich so gut auskennst?«
»EDEN II ist nicht irgendein Planet, hier ist alles ein bisschen anders. Es hat in dieser Gegend immer Berge gegeben, nur waren sie nicht immer gleich. Manchmal veränderten sie sich ganz plötzlich. Ein Weg kann von einer Minute zur nächsten verschwinden.«
»Welchen Sinn sollte das haben?«
»Was fragst du mich? Frage ES, falls wir ihn rechtzeitig erreichen und du ihn retten kannst. Und wenn ES sich zu einer Antwort
herablässt, wirst du bestimmt Schwierigkeiten haben, sie zu interpretieren.«
»Ich wollte nur wissen, was du
dazu meinst. Du hast dir sicher längst Gedanken darüber gemacht.«
»Wie käme ich dazu? Ich bin nur ein einfaches Konzept und ziehe es vor, meinen Verstand zu behalten. Es ist nicht gut, wenn man allzu intensiv über die Geheimnisse dieser Welt nachdenkt.«
»Und wenn die Berge sich ausgerechnet jetzt verändern?«
»Das werden sie nicht. Nicht jetzt, und nicht, solange wir hier drin sind. Dies ist der Weg, der zurzeit auf die andere Seite führt.«
»Wieso weißt du das so genau?«
Shrou stand auf und ergriff die Seile, mit denen er seine Antigravscheibe dirigierte. »Es wird Zeit«, sagte er schroff. »Wir müssen weiter.«
»Warum weichst du mir aus? Wenn du etwas weißt, musst du es mir sagen und erklären – es kann sehr wichtig für uns alle sein.«
»Es gibt nichts zu erklären«, wehrte Shrou ab. »Und außerdem, warum fragst du nicht deinen inneren Kompass? Der sagt dir jederzeit genau, ob du auf dem richtigen Weg bist.«
»Ich habe keine Ahnung, wovon du sprichst.«
»Ausgerechnet du wirfst mir vor, dass ich Geheimnisse habe? Ich habe dich beobachtet. Als wir die Stadt verließen und du die falsche Richtung eingeschlagen hattest, da war dir übel. Ich konnte es dir ansehen. Unterwegs, wenn ich mal einen kleinen Umweg genommen habe, war es genauso. Und wie war das mit meiner Bemerkung, dass man die Kalags wohl mit ungehorsamen Konzepten füttert? Du wusstest, dass es nur ein Scherz sein konnte – warum hast du so merkwürdig darauf reagiert?«
»Das hat nichts zu bedeuten«, behauptete Gesil. »Ich bin manchmal etwas empfindlich.«
»Den Eindruck habe ich allerdings«, bestätigte Shrou spöttisch. »Ich glaube sogar, dass das eine eindeutige Ursache hat. Wenn du nicht darüber reden willst – mich geht es nichts an. Behalte dein Geheimnis für dich.«
Genau das hatte Gesil auch vor. Wenn sie jemals über ihre Probleme reden würde, dann sicher nicht mit Shrou.
»Übrigens, hast du außer dem Impulsaktivator eine zweite Waffe
bei dir?«
»Nein.« Gesil log, denn sie traute ihrem Begleiter nach wie vor nicht. Zwar fühlte sie, dass es richtig war, durch die Höhle zu gehen, trotzdem wollte sie nicht alle ihre Karten aufdecken.
»Schade.« Shrou seufzte. »Es hätte uns helfen können, an den Brogs vorbeizukommen.«
Sie hatten bereits die Halle verlassen, in der sie gerastet hatten. Vor ihnen erstreckte sich das übliche Gewirr von Tropfsteinen, dazwischen lagen verstreut große Felsbrocken, die offenbar aus der Decke herabgebrochen waren. Shrou hielt an und betrachtete die Felsen nachdenklich.
»Ich sehe nur Steine«, bemerkte Gesil und traf Anstalten, an ihm vorbeizufliegen. Sie fühlte sich sicher, zumal ihr Kind nicht vor einer Gefahr warnte.
»Bleib hier, verdammt!«, befahl Shrou scharf. Gesil hielt überrascht inne.
»Diese Felsbrocken sind Mimikry-Wesen.« Schon hatte seine Stimme wieder den gewohnten spöttischen Klang. »Ich nenne sie Brogs – keine Ahnung, wie die Dinger tatsächlich heißen. Sie sind vielleicht keine richtigen Lebewesen. Ist ja auch egal. Jedenfalls haben sie den Tick, alles organische Leben vernichten zu müssen. Glücklicherweise bevorzugen sie es, in Höhlen zu existieren.«
»Ich verstehe nicht, warum ES solche Geschöpfe frei herumlaufen lässt.«
»Ich habe sie nie zuvor in dieser Gegend gesehen. Wahrscheinlich sind sie ebenfalls aus dem Zoo entkommen.«
»Du kennst dich offenbar gut mit ihnen aus.«
»Ich war ein eifriger Zoobesucher.«
»Wir könnten einfach über sie hinwegschweben«, schlug Gesil vor. »Die Höhle ist hoch genug.«
Shrou deutete wortlos in die Höhe. Gesil leuchtete nach oben und entdeckte weitere Felsbrocken, die so aussahen, als würden sie jeden Augenblick herabfallen.
»Sind das auch Brogs?«, fragte sie.
Shrou nickte. »Sie haben eine nette Falle gebaut.«
»Ziemlich viel Aufwand für zwei magere Gestalten wie uns.«
»Sie brauchen nicht viel Nahrung. Außerdem muss die Falle nicht
für uns bestimmt sein. Sie sind geduldig – irgendwann wird jemand oder etwas hier vorbeikommen. Leider sind wir die Ersten, die sie erwischen werden.«
»Wenn wir sehr schnell sind ...?«
Shrou schüttelte den Kopf. »Wirf ein Stückchen von deinen Konzentraten zwischen sie«, empfahl er.
Gesil hielt die Felsbrocken für harmlos. Sie hatte sogar den Verdacht, dass es keine Brogs gab. Vielleicht wollte Shrou sie nur aus der Reserve locken, um an eine Waffe zu kommen.
Trotzdem warf sie ein Stückchen von einem Konzentratriegel – und prallte erschrocken zurück, als sie die Reaktion sah. Im Bruchteil einer Sekunde entwickelte einer der vermeintlichen Felsen einen Fangarm und fing den kleinen Nahrungsbrocken blitzschnell auf.
»So viel zum Thema Schnelligkeit«, bemerkte Shrou gelassen.
Gesil bat ihn im Stillen um Verzeihung. Sie war diesem Konzept gegenüber voreingenommen, das war ihr klar. Es war nicht unbedingt ihre Schuld; das Kind mochte Shrou nicht und beeinflusste sie entsprechend. Sie würde lernen müssen, solchen Einflüsterungen gegenüber kritischer zu sein.
»Und wenn wir eine Waffe hätten?«, fragte sie.
»Vernichten können wir sie nicht«, stellte Shrou fest. »Ich habe schon genug auf dem Kerbholz, und ES mag es nicht, wenn jemand seine Sammlung dezimiert. Paralysestrahlen wirken nur sehr kurz bei ihnen. Wir müssten uns extrem beeilen, aber wir könnten durchkommen. Am besten gibst du mir die Waffe. Ich kenne die Brogs und komme nicht in die Verlegenheit, echte Felsbrocken zu paralysieren.«
Gesil gab ihren Widerstand auf. Shrou hatte zweifellos von Anfang an gewusst, dass sie eine Waffe besaß, und seine Argumente klangen ehrlich. Ihr war es in der Tat unmöglich, einen Brog von einem echten Felsen zu unterscheiden.
Shrou überprüfte die Waffe sorgfältig, und er schien etwas davon zu verstehen. Gesil spürte einen furchtsamen Impuls und unterdrückte ihn, so gut es eben ging. Er ist nicht schlecht,
dachte sie intensiv. Ein wenig seltsam, aber du musst lernen, solche Menschen zu akzeptieren. Ohne Shrou schaffen wir es niemals auf
die andere Seite des Berges.
Wenn sie wenigstens gewusst hätte, wie viel ihr Kind überhaupt von dem verstand, was sie dachte und fühlte. Sie war erst im vierten Monat.
Es war der denkbar schlechteste Zeitpunkt, sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Was immer mit ihrem Kind sein mochte, es spürte, dass seine Mutter beunruhigt war, und reagierte darauf.
»Reiß dich zusammen«, sagte Shrou barsch. »Sobald wir diese Falle überwunden haben, kannst du schlappmachen, vorher bitte nicht!«
»Schon gut. Was habe ich zu tun?«
»Geradeaus hindurchfliegen, sobald ich dich dazu auffordere! Und zwar mit Höchstgeschwindigkeit. Es sind ungefähr fünfzig Meter, danach hast du es geschafft.«
Gesil starrte auf den Impulsaktivator und schüttelte den Kopf. »Ich bin wohl nicht in Form«, meinte sie. »Ich trage einen SERUN und kann den Schutzschirm aktivieren.«
»Glaubst du, ich wüsste das nicht? Das Energiefeld wird dir nicht helfen, nicht bei den Brogs. Für die ist der Schutzschirm samt dem SERUN ein besonderer Leckerbissen.«
Gesil fühlte sich schlapp und überhaupt nicht in der Lage, etwas zu unternehmen. Am liebsten wäre sie umgekehrt, um es auf einem anderen Weg zu versuchen. Es musste möglich sein, die Berge zu umgehen.
Es war die Furcht ihres Kindes, die sich auf diese Weise bemerkbar machte. Gesil fiel es nicht leicht, sich das bewusst zu machen. Sie fragte sich, wohin dies alles führen sollte. Sie sah sich bereits mit dem Impulsaktivator in der Hand, aber unfähig, die Waffe einzusetzen – und der Herr der Elemente ging hohnlachend an ihr vorbei und versetzte ES den Todesstoß.
»Ich weiß nicht, worin dein Problem besteht!«, herrschte Shrou sie an. »Du solltest dich zu einem anderen Zeitpunkt damit beschäftigen. Die Brogs warten zwar ohne Weiteres ein paar Jahre lang auf ein Opfer, doch mittlerweile wissen sie, dass wir da sind. Sieh hin – sie bewegen sich bereits. Wenn wir eine Minute länger herumstehen, haben wir sie am Hals, und deine Waffe nutzt uns dann gar nichts.«
Gesil riss sich gewaltsam zusammen. »Es geht schon. Fünfzig Meter, sagtest du? Gut, von mir aus können wir.«
Es war ihr ein Rätsel, woran Shrou die Brogs erkannte und wie es ihm gelang, sie von normalen Felsen zu unterscheiden. Er schoss systematisch auf die Wesen, die ihnen den Weg versperrten, und ließ keines von ihnen aus. Einige der Brogs waren schon recht deutlich zu erkennen, denn ihre Oberfläche kräuselte sich, wallte auf wie kochender Schlamm und streckte dünne Fangarme aus.
»Los!«, zischte Shrou nach kaum zwei Sekunden, und Gesil raste los. Er folgte ihr, auf seiner Antigravscheibe balancierend und unaufhörlich schießend.
Gleich darauf hatte Gesil die Falle hinter sich. Sie sah sich um und entdeckte entsetzt, dass die eben paralysierten Brogs schon wieder aktiv wurden, und nun waren sie merklich aufgebracht. Ein Meer von Fangarmen peitschte durch die Luft, und Shrou kurvte wild zwischen ihnen hindurch. Mit knapper Not kam er davon, von einer Woge langer Fangarme verfolgt.
»Ich hasse diese Biester«, knurrte er, als er ebenfalls weit genug entfernt in Sicherheit war. »Ich verstehe nicht, was unser großer Herr und Meister an ihnen findet. Er hätte sie dort lassen sollen, wo sie hingehören, wo immer das auch sein mag.«
»Werden sie uns verfolgen?«, fragte Gesil besorgt.
Die Höhle war vollends von den Fangarmen und den Leibern der Brogs ausgefüllt, es gab keinen Durchschlupf mehr. Wenn diese Masse sich in Bewegung setzte, würde sie alles einfach niederwalzen.
»Nein«, schnappte Shrou wütend und zerrte an seinem linken Ärmel. »Sie sind aus dieser Richtung gekommen, und sie gehen niemals denselben Weg zurück. Eines von den Biestern hat mich erwischt.«
»Wo? Zeig her!«
Es war nur ein Kratzer, ein Riss im Hemdsärmel und eine dünne Wunde darunter, die kaum blutete.
»Sind die Fangarme giftig?«, fragte Gesil besorgt. Shrou schüttelte den Kopf. »Dann wirst du es überleben«, stellte sie spöttisch fest.
Er bedachte sie mit einem düsteren Blick. »Ich muss verrückt sein, mich auf so etwas wie dich einzulassen«, knurrte er. »Völlig verrückt!«
Gesil dachte daran, wie schnell und sicher er mit der Waffe umging, wie mutig er sich verhalten und sie vorausgeschickt hatte – obwohl er gewusst hatte, dass es für ihn hinterher umso gefährlicher wurde. Sie würde dieses Konzept nie verstehen. In dem Moment wünschte sie sich, sie hätte stattdessen einen der Altmutanten getroffen, möglichst einen Teleporter.
Aber sie hatte nur Shrou. Und der tat gerade so, als wäre ihm der Arm amputiert worden.