17. Artefakte
Geraume Zeit später, ohne weitere Zwischenfälle, sahen sie endlich Tageslicht vor sich, und kurz darauf schwebten sie über einen sanften, von üppiger Vegetation überwucherten Hang einem Tal entgegen, in dem eine Siedlung lag.
Es war nur eine kleine Ansammlung niedriger alter Häuser, die einen beruhigend normalen Eindruck machten. Das Land ringsum sah aus, als hätte es dort einmal Weiden und Felder gegeben. Hier und da standen sogar die kläglichen Reste eines Koppelzauns.
Shrou landete mitten auf der Dorfstraße, sprang elegant von seiner Antigravscheibe und sah sich aufmerksam um. »Es muss hier ein Depot geben«, sagte er. »Ich hoffe jedenfalls, dass etwas davon übrig ist. Ich brauche ein neues Hemd.«
Gesil blickte ihn entgeistert an, und er verzog das Gesicht. »Außerdem etwas zu essen, falls du nichts dagegen hast«, fügte er hinzu.
Ihr wurde bewusst, dass das Konzept die ganze Zeit hindurch so gut wie nichts zu sich genommen hatte. Die von ihr angebotenen Konzentrate hatte er abgelehnt und sich mit ein paar Schluck Wasser zufriedengegeben.
Gemeinsam suchten sie das Dorf ab, ein Depot fanden sie nicht. Dafür entdeckte Gesil hinter einem der Häuser etwas, das sie an eine Brombeerhecke erinnerte. Sie traute dem Frieden nicht recht und ließ ihren SERUN die Früchte untersuchen. Sie waren essbar. Shrou schaufelte sie in sich hinein, als wäre er am Verhungern.
»Ich habe genügend Vorräte bei mir«, bemerkte Gesil. »Es reicht für zwei.«
»Auch wenn es nicht so wäre, hätte ich keine Skrupel, dir etwas wegzuessen«, erwiderte Shrou heftig. »Mein Problem ist nur, ich vertrage das Zeug nicht. Ich musste mal zu lange davon leben, seitdem wird mir übel, wenn ich bloß daran denke.«
»Es tut mir leid«, sagte Gesil betroffen. »Das konnte ich nicht wissen.«
»Hat auch niemand behauptet.« Shrou blickte auf, rannte zur Straße und schwang sich auf seine Antigravscheibe. Gesil folgte ihm erschrocken – und dann sah sie die Gestalten herankommen.
Es waren Konzepte. Ein langer, elender Zug, der Tausende umfasste. Sie stolperten mühsam dahin, stumpf und teilnahmslos, ohne aufzublicken.
»Wir müssen sie aufhalten«, sagte Gesil erschrocken.
»Die hält niemand auf«, widersprach Shrou. »Sie haben keine andere Wahl, als vorwärtszugehen, unaufhörlich, bis an den Rand von EDEN II. Ein verdammtes Paradies ist das geworden.«
»Es kann auch wieder schön werden. Ich muss nur den Herrn der Elemente finden.«
»Sehr richtig«, pflichtete Shrou bei. »Und darum kannst du es dir gar nicht erlauben, deine Zeit mit diesen Leute zu verschwenden.«
»Sie brauchen Hilfe. Sie sehen aus, als hätten sie seit Tagen nichts gegessen.«
»Was willst du ihnen anbieten? Deine lächerlichen paar Konzentratriegel? Oder die Brombeerhecke hinter dem Haus? Gesil, sie sind erst seit höchstens eineinhalb Tagen unterwegs, und es gibt Nahrung auf EDEN II. Nahe am Rand unserer Welt war es immer etwas weniger gut zu leben, aber sie kommen aus einer Gegend, in der das anders ist. Was diese Menschen quält, ist nicht der Hunger. Es ist der Sog der Nega-Psis.«
Shrou blickte in die Richtung, in der das Verderben auf die Konzepte lauerte. Für einen Augenblick erkannte Gesil etwas in seinen Augen, das sie zutiefst erschreckte, eine seltsame, qualvolle Sehnsucht. Shrou schien Mühe zu haben, den Blick wieder zu wenden.
»Es zieht an dir«, stellte sie fest. »Und du merkst es deutlich.«
»Jeder von uns merkt es«, sagte er grob. »Nur du nicht. Du hast dafür ein anderes Problem. Gab es in der BASIS keinen außer dir, der diese Aufgabe erledigen wollte?«
»In der BASIS ist niemand mehr einsatzfähig. Ich war die Einzige, die eine Chance hatte.«
»Merkwürdig.«
Es war nicht merkwürdig. Ihr Kind schützte sie. Gesil hatte nur keine Lust, Shrou die Wahrheit zu erklären.
Die Konzepte kamen näher.
»Vielleicht ist einer dabei, der eine Botschaft für mich hat«, sagte sie hoffnungsvoll. »Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass ES gar nichts unternehmen kann. ES muss doch wissen, dass ich unterwegs bin und nach ihm suche.«
»Selbst wenn er es wüsste, könnte er nicht darauf reagieren. Finde dich endlich damit ab.«
»Außer dir müssen auch andere Konzepte dem Sog widerstehen. Du kannst unmöglich allein sein.«
»Wer weiß?« Shrou grinste überheblich. »Ich bin etwas Besonderes, das wusste ich schon immer.«
Gesil wandte sich wütend ab.
»Was hast du vor?«, rief Shrou ihr nach, als sie zielsicher auf den Zug der Konzepte zuging.
Sie lief einfach weiter, wollte alles, bloß nicht debattieren. Aber kaum war sie ein paar Meter weiter, da hörte sie ein Rauschen, und schon wurde sie emporgerissen.
»Lass mich los!«, protestierte sie.
Shrou reagierte nicht. Er flog mit ihr über die verwilderten Felder hinweg und setzte sie erst nahe am Wald ab.
»Wir können wenigstens verhindern, dass sie den Brogs in die Arme laufen!«, fauchte Gesil. »Jemand muss ihnen sagen, dass sie diesen Weg nicht benutzen dürfen.«
Shrou saß auf dem Rand der Antigravscheibe, ließ die Beine baumeln und schüttelte mit arroganter Nachsicht den Kopf. »Erstens würden sie dir nicht zuhören«, behauptete er. »Sie können das in ihrem Zustand einfach nicht. Zweitens ist die Höhle bereits geschlossen. Dieser Weg existiert nicht länger. Sie werden die Brogs nicht zu Gesicht bekommen.«
»Woher willst du das wissen?«, schrie Gesil. »Du lügst mir etwas vor, um deine kostbare Haut aus jeder Gefahr herauszuhalten.«
»Sieh mal da hinüber!«, bat Shrou.
Sie folgte seinem Wink und blickte an dem Hang hinauf, über den sie gekommen waren. Der Höhleneingang war verschwunden, als hätte es ihn nie gegeben. Stattdessen zog sich ein Pfad vom Dorf zu einer anderen Höhle. Gesil war sicher, dass weder dieser Pfad noch die Höhle vorher existiert hatten.
»Das kann nicht sein«, sagte sie verblüfft. »Es sei denn, ES ist weiterhin handlungsfähig. Shrou ...?«
»Gib dich keiner falschen Hoffnung hin«, warnte er. »ES hätte sicher keinen Grund, seinen Konzepten den Marsch zu den Nega-Psis zu erleichtern. Außerdem weiß niemand, ob ES bewusste Anstrengungen unternehmen muss, um solche Veränderungen herbeizuführen. Vielleicht hat sogar dein Herr der Elemente dazwischengefunkt.«
»Du meinst, es könnte schon zu spät sein?«, fragte sie erschrocken.
»Nein«, sagte Shrou mit Bestimmtheit. »Es gibt sicher Konzepte, die inniger mit ES verbunden sind, als es bei mir der Fall ist. Trotzdem weiß ich, dass ES noch existiert.«
»Ich denke, es gibt keine Verbindung mehr zwischen ihm und den Konzepten.«
Shrou winkte ab. »Wenn die Figuren auf einer Projektionsfläche denken könnten, dann wäre ihnen bewusst, dass der Projektor existieren muss. Wäre das nicht der Fall, dann wären sie nämlich einfach nicht da.«
»Konzepte sind keine Projektionen.«
»Gewiss nicht, das ist alles ein wenig komplizierter. Du kannst mir ruhig glauben, wenn ich dir sage, dass ES weiterhin existiert und ich dennoch keine Verbindung zu ihm habe. Ich spüre seine Existenz.«
»Na gut«, seufzte sie resignierend.
Die Konzepte hatten die Dorfstraße erreicht. Keines von ihnen blickte zum Waldrand hinüber. Sie liefen stur geradeaus und folgten dem Weg, der zu der neuen Höhle führte.
»Du hattest recht«, stellte Gesil fest. »Wir können nichts für sie tun. Wahrscheinlich hätten sie mich einfach über den Haufen gerannt.«
»Ich habe meistens recht«, versicherte Shrou.
Gesil musterte ihn grimmig. Ihr wurde erst im Nachhinein bewusst, dass er sie samt ihrem SERUN einfach hochgehoben hatte, um sie in Sicherheit zu bringen. Auf seiner Antigravscheibe war nicht genug Platz für zwei Personen, und er brauchte eine Hand, um das Ding zu lenken. Also musste er kräftiger sein, als sie geglaubt hatte.
Außerdem hatte er ihr die Waffe zurückgegeben, als wäre es das Selbstverständlichste von der Welt.
Sie folgten dem Weg, den die Konzepte gekommen waren, immer tiefer hinein in eine bizarre Bergwelt. Öfter begegneten sie nun Konzepten, die ihnen aber keinerlei Beachtung schenkten, weil sie schon völlig im Bann der Nega-Psis standen.
Immerhin hatten diese bedauernswerten Menschen einen sehr langen Weg vor sich. Viel Zeit würde vergehen, bis sie ihr schreckliches Ziel erreichten. Zweifellos hatten andere Konzepte weniger Glück gehabt und waren nahe bei den Nega-Psis materialisiert.
Gesil nahm an, dass die Materialisationen stufenweise erfolgt waren, dass ES sich unter den Schockimpulsen der Nega-Psis gewissermaßen zusammengezogen hatte. Dabei musste ES seine Konzepte in kurzen Intervallen freigegeben haben, sodass sie weit über EDEN II verteilt waren. Das war wenigstens ein tröstlicher Gedanke, denn er ließ darauf hoffen, dass viele Konzepte gerettet werden konnten – falls es Gesil gelang, den Herrn der Elemente rechtzeitig auszuschalten.
»Was sind diese Nega-Psis eigentlich?«, fragte Shrou, während sie über ein von Geröll übersätes Tal hinwegflogen.
»Psionische Wirbelfelder«, erklärte Gesil. »Der Herr der Elemente hat zwanzig Virenschiffe in diese Felder verwandelt.«
»Demnach sollte er sie auch zurückverwandeln können«, meinte Shrou hoffnungsvoll. »Du musst ihn unbedingt dazu überreden. Sie werden mit der Zeit ziemlich lästig.«
»Ich hoffe, du kannst dem Sog noch eine Weile widerstehen.«
»Das glaube ich dir gerne.«
Gesil sah ihn von der Seite her an. »Du bist ein merkwürdiger Mensch. Warum tust du das alles und hilfst mir?«
»Das weiß ich selbst nicht«, behauptete Shrou brummig.
Zum ersten Mal kam Gesil der Gedanke, dass auch dabei ihr Kind die Hand im Spiel haben mochte. Schließlich hatte das Ungeborene Gesil vor den Schockimpulsen der Nega-Psis schützen können, sodass sie imstande gewesen war, die BASIS zu verlassen und den Kampf aufzunehmen. War es wirklich so undenkbar, dass ihre Tochter auch Shrou gegen den Sog abschirmte und ihn vielleicht sogar beeinflusste?
Shrou hatte sie beobachtet. »Manchmal glaube ich, dass du mit dir selbst sprichst«, bemerkte er. »Ich wollte, du würdest diese Geheimniskrämerei aufgeben und mir verraten, was mit dir los ist.«
Gesil horchte in sich hinein. Sie spürte eine innere Zufriedenheit und immer noch Ungeduld. Sie war auf dem richtigen Weg, aber sie musste sich beeilen. Es war nicht schwer, das zu erkennen.
Sie fand, dass das Kind sich ruhiger verhielt, seit sie Shrou getroffen hatte. Vorher hatte es versucht, sich bemerkbar zu machen, indem es unbeholfen Laute im Sprachzentrum ihres Gehirns erzeugt hatte. Momentan schickte es ihr nur vage Emotionen. War nicht auch das ein Hinweis darauf, dass es anderweitig stark beschäftigt war?
Gesil war fast sicher, dass ihr Kind Shrou schützte. Dabei konnte es ihn nicht einmal leiden. Womöglich reagierte es einfach nur auf die Empfindungen seiner Mutter.
»Wir erreichen bald eine größere Stadt«, eröffnete Shrou. »Ich hoffe, dass wir dort ein Depot finden.«
»Wenn nicht, wirst du eben Konzentrate essen müssen«, sagte Gesil. »Wir dürfen uns nicht mit der Suche nach Lebensmitteln aufhalten. Außerdem, wer weiß, ob die Konzepte die Depots nicht längst geleert haben.«
Shrou blickte ruhelos in die Richtung, aus der sie gekommen waren. »Ich verstehe das nicht. Der Sog wird stärker, je weiter wir uns von den Nega-Psis entfernen. Eigentlich müsste es umgekehrt sein.«
»Ich glaube nicht, dass wir die Wirkungsweise von Nega-Psis logisch einschätzen können«, bemerkte Gesil skeptisch.
Womöglich, überlegte sie, hing die Tatsache, dass Shrou den Sog als stärker empfand, damit zusammen, dass das Kind müde wurde. Wie viel Kraft konnte ein winziger Fötus aufbringen? Gesil sagte sich, dass es nur fair gewesen wäre, Shrou über diese Unsicherheit aufzuklären. Er musste wissen, woran er war. Sie brachte es trotzdem nicht fertig, mit ihm darüber zu reden.
»Ich glaube nicht, dass der Sog stärker geworden ist«, sagte sie. »Wenn du ihn deutlicher spürst, dann deshalb, weil du ihm schon zu lange ausgesetzt bist. Wir dürfen nicht zu viel Zeit verlieren.«
Sie überflogen einen Pass. Die Stadt, von der Shrou gesprochen hatte, füllte einen Talkessel aus und war unbestreitbar eine der schönsten Städte, die Gesil je gesehen hatte.
»Wie sieht so ein Depot aus?«, fragte sie.
»Die Depots haben kein einheitliches Äußeres«, antwortete Shrou. »Sie passen sich den Gegebenheiten an. Jedes Gebäude kann theoretisch Vorräte enthalten.«
»Wäre es nicht sinnvoll gewesen, diese Gebäude zu kennzeichnen?«
»Sie werden nur selten gebraucht«, wehrte Shrou ab. »Früher lebten viele Konzepte über Jahre an der Oberfläche. Diese Stadt war eines ihrer Meditationszentren, in denen sie sich zusammenschlossen. Ich war nur einmal hier, und das ist lange her.«
Sie erreichten die ersten Gebäude. Der Straßenbelag war an vielen Stellen aufgebrochen, Pflanzen wucherten aus den Rissen hervor. Obwohl nur mehr das Gerippe einer einstmals blühenden Siedlung, war die Stadt zugleich schön.
Jedes Gebäude war frei zugänglich – und leer. Es gab weder Einrichtungsgegenstände noch Vorräte, nur Staub und welkes Laub lagen überall. Gesil und Shrou trennten sich und durchsuchten ein Gebäude nach dem anderen, wenn auch ohne jeden Erfolg.
Einmal zogen Konzepte stumpfsinnig vorbei. Sie reagierten nicht, als Gesil versuchte, sie anzusprechen.
Gesil sah ihnen nach. Als sie sich umwandte, entdeckte sie einen Nachzügler, einen kleinen, schmächtigen Mann asiatischer Abstammung, der auf sie zukam. Sie trat zur Seite, um ihm Platz zu machen, und war überrascht, dass er plötzlich stehen blieb.
»Du bist kein Konzept«, sagte der Mann. »Woher kommst du?«
Gesil war wie elektrisiert. Ihr Gegenüber stand keineswegs schon voll im Bann der Nega-Psis.
»Ich komme von der BASIS!«, antwortete sie, und zugleich erkannte sie den Mann. Er war Tako Kakuta, einer der Altmutanten. Ein Teleporter.
»Ich bin hier, um ES zu retten«, fuhr sie hastig fort. »Ich habe eine Waffe, die einzige, mit der wir den Angreifer schlagen können. Du musst mich zu ES bringen, bevor es zu spät ist!«
Sie streckte ihm die Hand entgegen, doch der Mutant zögerte, sie zu ergreifen.
»Ich weiß nicht, ob es ratsam ist, unter diesen Bedingungen zu teleportieren«, sagte er traurig. »Ich habe es versucht, und es hätte mich fast davongerissen. Momentan spüre ich den Sog nicht so stark, aber im Sekundenbruchteil der Teleportation ist er nahezu unwiderstehlich. Wir könnten in einem der Nega-Psis landen, bevor wir überhaupt begreifen, was geschieht.«
Gesil ließ die Hand sinken. Die Hoffnung, schnell ihr Ziel erreichen zu können, war trügerisch gewesen.
»Weißt du wenigstens, wo wir Nahrung finden können?«, fragte sie. »Ich habe einen Begleiter, der keine Konzentrate verträgt.«
»Auf der anderen Seite der Stadt gibt es ein Depot, das noch Vorräte enthält. Ich kann euch hinführen.«
Gesil rief nach Shrou, und er kam auf seiner Antigravscheibe heran.
Wenig später hatte er endlich Gelegenheit, sich satt zu essen.
»ES hat sich im Zentrum von EDEN II in einer Festung verbarrikadiert«, berichtete Tako Kakuta. »Ihr werdet kaum Schwierigkeiten haben, ihn zu finden. Leider haben sich Teile seiner kosmischen Sammlung selbstständig gemacht. Manches davon ist gefährlich.«
»Wirst du uns begleiten, Tako?«, fragte Gesil.
»Ich würde es gerne tun, aber ich fürchte, es geht nicht.«
»Warum nicht?«
»Teleportieren verbietet sich von selbst, und zu Fuß ist es ein zu weiter Weg.«
»Wir werden eine zweite Antigravscheibe für dich finden.«
»In dieser Stadt?« Der Mutant schüttelte den Kopf. »Hier hat es solche Dinge schon seit langer Zeit nicht gegeben. Nein, ich werde hier bleiben müssen.«
»Aber ...«, begehrte Gesil auf.
»Lass ihn«, unterbrach Shrou sie beinahe sanft. »Es ist besser so, und wir müssen weiter.«
Gesil gab widerstrebend nach.
»Wir hätten Tako Kakuta mitnehmen müssen«, sagte sie vorwurfsvoll, als sie weiterzogen. »Es war nicht richtig, ihn zurückzulassen.«
»Er unterliegt dem Sog, hast du das nicht bemerkt? Er weigerte sich, zu teleportieren, weil er weiß, dass er im nächsten Nega-Psi materialisiert wäre. Er blockiert seine Parafähigkeiten mit aller Kraft. Schon deshalb würde er es niemals schaffen, sich auch noch bewusst von den Nega-Psis zu entfernen.«
Gesil schwieg, weil ihr klar wurde, dass Shrou aus eigener Erfahrung sprach. Sie fragte sich, warum das Konzept derartige Anstrengungen auf sich nahm. Es konnte nur mit dem Kind zu tun haben, eine andere Erklärung fand sie nicht.
»Hast du eine Ahnung, wie weit unser Weg noch sein wird?«, fragte sie.
»Dreitausend Kilometer, schätze ich. Warum bist du eigentlich nicht gleich nahe am Zentrum gelandet?«
Gesil seufzte. Sie wusste es nicht.
Ohne Unterbrechung flogen sie weiter, ließen das Bergland hinter sich und erreichten ein Hügelland, in dem es viele Städte gab.
Gesil fühlte sich schlapp und ausgelaugt, aber sie hätte sich eher die Zunge abgebissen, als das einzugestehen. Zudem keimte in ihr fast so etwas wie Bewunderung für Shrou auf, denn er schien keine Müdigkeit zu kennen.
Seit einiger Zeit sahen sie immer seltener Konzepte, und als sie wieder eine Stadt erreichten, deutete Shrou nach unten. »Wir sollten landen«, sagte er. »Diese Gegend scheint einigermaßen sicher zu sein. Wir werden eine längere Rast einlegen.«
»Dafür haben wir keine Zeit«, protestierte Gesil.
»Du wirst sie dir nehmen müssen. Du bist todmüde, das sehe ich dir an. Du brauchst dringend einige Stunden Schlaf.«
Damit hatte Shrou recht. Gesil musste sich eingestehen, dass es niemandem half, wenn sie total erschöpft ihr Ziel erreichte. Sie würde ihre ganze Kraft und Konzentration brauchen, um den Impulsaktivator so einzusetzen, wie die Porleyter es geplant hatten.
Auch diese Stadt war leer und totenstill. Keines der Häuser war bewohnt.
Sie suchten sich ein kleines Gebäude am Stadtrand, in dem es sogar einige Möbel gab. Gesil war froh, den SERUN ablegen zu können, und sie hätte viel für eine Duschmöglichkeit gegeben. Die Leitungen führten jedoch kein Wasser mehr. Wenigstens schlief sie tief und traumlos.
Sie erwachte von einem knisternden Geräusch unmittelbar an ihrem rechten Ohr. Vorsichtig öffnete sie die Augen ein wenig.
Ein winziger kastenförmiger Roboter – zumindest glaubte sie, dass es ein Roboter war – rutschte vor ihrem Gesicht vorbei, stoppte abrupt und streckte dünne Ärmchen aus.
»Was tust du da?«, fragte Gesil und richtete sich auf.
Der Roboter antwortete nicht. Er war aus dem Gleichgewicht geraten und zappelte mit seinen extrem kurzen Beinchen. Hilflos wie ein Käfer lag er da, fuhr dann aber weitere Arme aus und stemmte sich in die Höhe.
Gesil taxierte ihn misstrauisch. Der kleine Apparat näherte sich zielstrebig ihrer Hand, mit der sie sich abstützte, betastete ihre Haut und gab dabei aufgeregt knisternde Geräusche von sich.
»Bist du wach?«, fragte Shrou vor ihrer Tür.
»Ja. Ein kleiner Roboter oder so etwas Ähnliches ist hier bei mir. Ich habe keine Ahnung, was das Ding von mir will.«
Shrou stieß die Tür auf und kam heran. Verblüfft musterte er den winzigen Apparat.
»Scheint harmlos zu sein«, meinte er und kratzte sich hinter dem Ohr. »Irgendwo habe ich diese Sorte schon einmal gesehen.«
Er hob den kleinen Roboter auf, und das Maschinchen knisterte empört. Es fuhr mehrere kurze Ärmchen aus. Zwei davon packten unvermittelt zu. Shrou stieß einen erschrockenen Laut aus und ließ den Roboter fallen.
»Er hat mich gekniffen. Sieh dir das an!«
An seiner Handkante hing ein Tropfen Blut.
Shrou versetzte dem winzigen Roboter einen Tritt. Der Apparat rutschte in die Ecke und machte sich knisternd daran, sich aus dem dort liegenden Schmutz zu befreien.
»Solange wir es nur mit solchen Winzlingen zu tun haben, ist es nicht weiter schlimm«, sagte Gesil.
»Du hast gut reden, dir hat er nichts getan. Komm, wir verschwinden von hier, bevor unangenehmere Dinge auftauchen.«
Als sie das Haus verließen, fanden sie Shrous Antigravscheibe von winzigen Kastenrobotern förmlich überkrustet.
»Das hat uns noch gefehlt!«, stieß das Konzept hervor. »Jetzt fällt mir auch wieder ein, woher ich die Biester kenne. Sie gehören zu seiner Sammlung.«
»Du meinst, die sind auch ausgebrochen?«
»Was denn sonst. Verflixt, das sind Putzer.«
»Reinigungsmaschinen?«
»Nicht ganz. Wenn sie nur auf normalen Schmutz aus wären, hätten sie hier genug zu tun. Nein, die sind wild auf Energie. ES hat ein paar Dinge in seiner Sammlung, die ziemlich gefährlich werden können, wenn es ihnen gelingt, sich selbstständig zu machen. Die Putzer zum Beispiel haben unlösbar integrierte Energiezellen. Sobald sie eine bestimmte Energiemenge verbraucht haben, setzen sie alles daran, sich wieder auf den alten Stand zu bringen. Ich fürchte, meine Antigravscheibe kam ihnen gerade recht.«
Die winzigen Maschinen ließen von ihrer Beute ab.
»Da haben wir die Bescherung«, kommentierte Shrou den Abmarsch der Roboter. Er hob die Scheibe hoch und schüttelte sie, um sicherzugehen, dass auch der letzte Putzer abfiel. Dann sah er sich um.
»In dieser Stadt war ich schon mal«, sagte er. »Ich weiß, dass es hier ein Depot gibt. Hoffentlich haben die Putzer es noch nicht entdeckt.«
Als sie das Depot erreichten, waren dort keine kleinen Roboter zu sehen. Gesil wartete auf der Straße, während Shrou nach Energiezellen suchte. Er kam nach kurzer Zeit wieder aus dem Haus. Ein kegelförmiger Roboter folgte ihm und schwatzte unaufhörlich.
»Glück gehabt«, kommentierte Shrou. »Dieser Bursche scheint die Inventarliste des Depots gespeichert zu haben.«
»Salami, Salat, Sardellen!«, rief der Roboter wie ein professioneller Marktschreier. »Toast, Tortenböden, Tubennahrung. Salmonellen, Salpeter, Sargmacher.«
»Ihm ist wohl einiges durcheinandergeraten«, bemerkte Gesil spöttisch.
»Spielt keine Rolle«, brummte Shrou, der eine frische Energiezelle in seine Antigravscheibe einsetzte. »Hauptsache, wir haben bekommen, was wir brauchen.«
»Sargdecken, Sargnägel, Sargträger.«
»Was hat er plötzlich mit seinen Särgen?«, fragte Gesil verwundert. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass es in dem Depot so etwas überhaupt gibt.«
Shrou hob den Kopf.
»Dreh dich nicht um!«, raunte er. »Starte senkrecht in die Höhe, so schnell du kannst.«
Gesil hatte gelernt, ihm zumindest in dieser Hinsicht zu vertrauen, also startete sie. Shrou folgte ihr sofort. Sie blickte nach unten und sah, dass der kegelförmige Roboter wie ein Gummiball auf und ab hüpfte. Aus dem Schatten des Nachbarhauses stakte ein anderer Apparat herbei, packte den Roboter mit kräftigen Zangenarmen und wickelte ihn blitzschnell in eine weiße Folie, die aus einem Schlitz in seinem Körper hervorquoll. Der Folie folgte ein Brei, der den Roboter im Nu umhüllte und offensichtlich sehr schnell erstarrte. Der Apparat legte den verpackten Roboter sorgfältig auf den Boden, richtete sich auf und spähte zu Gesil und Shrou hinauf.
»Das ist ein Sargmacher«, erklärte Shrou. »Der verrückte Roboter muss ihn sofort bemerkt haben. Er hat versucht, uns zu warnen, aber fast hätte ich ihn zu spät verstanden.«
»Welchen Sinn soll eine solche Apparatur erfüllen? Sargmacher – das ist doch totaler Unsinn.«
»Sag das nicht. Die Maschine stammt von einem Planeten, auf dem es eine fürchterliche Epidemie gegeben hat; zweifellos hat sie dort durchaus einen guten Zweck erfüllt. Manchmal verpackt sie leider auch Lebewesen, die gar nicht tot sind.«
»Hinterher sind sie es bestimmt«, stellte Gesil sarkastisch fest. Gleichzeitig entstanden in ihrem Bewusstsein unartikulierte Laute, und sie verspürte eine so grauenvolle Angst, dass ihr übel wurde.
Sie brauchte eine Weile, bis sie sich wieder fing. Mit Unbehagen stellte sie fest, dass Shrou sie aufmerksam musterte.
»Du wirst mir jetzt hoffentlich nicht einreden wollen, dass dir das Schicksal des Roboters so sehr auf den Magen geschlagen ist«, sagte er.
Gesil verkrampfte sich in einer Furcht, die nicht ihre eigene war. Sie wusste, dass das nichts mit dem Sargmacher zu tun hatte – es war ein rein zufälliges zeitliches Aufeinandertreffen von zwei sehr unterschiedlichen Eindrücken.
»Der Herr der Elemente kann nicht weit von uns entfernt sein!«, stieß sie hervor.
Shrou kniff die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen. »Woher weißt du das?«
»Ich spüre es.«
»Tatsächlich? Sei mir nicht böse, ich glaube dir kein Wort. Du bist keine Mutantin, so etwas hätte ich längst gemerkt. Du hast allerdings im Schlaf gesprochen und versucht, dein Kind zu beruhigen. Du bist schwanger, nicht wahr? Es ist dein Kind, das den Herrn der Elemente spüren kann?«
Gesil starrte Shrou für einen Augenblick an, dann zuckte sie die Schultern. »Früher oder später hättest du es ohnehin erfahren«, sagte sie. »Lass uns von hier verschwinden. Ich möchte nicht, dass der Herr der Elemente auf uns aufmerksam wird.«
»Falls er es nicht längst ist.«
Gesil schüttelte den Kopf. »Dann bekäme ich das wahrscheinlich sehr viel deutlicher zu spüren.«
Es war merkwürdig, sie reagierte fast erleichtert darauf, dass Shrou Bescheid wusste.
Wieder flog das Konzept voraus.
Das Hügelland ging in eine weite Savanne über. Shrou verzögerte ein wenig und hielt sich neben Gesil.
»Geht es dir wieder besser?«, fragte er besorgt.
»Ich bin in Ordnung«, versicherte sie.
»Was macht der Herr der Elemente?«
»Keine Ahnung. Im Moment spüre ich jedenfalls nichts.«
Shrou schwieg. Er schien über etwas nachzudenken, das ihm Sorge bereitete. Gesil stellte keine Fragen. Früher oder später, das war ihr klar, würde er von selbst reden.
Die Savanne wurde grüner und fruchtbarer, und gelegentlich schimmerten kleine Wasserflächen in der Weite. Ein Sumpf kam in Sicht, mit hohem Schilfbewuchs, Bambus und ähnlichen Pflanzen. Urweltliche Riesenechsen tummelten sich darin, die von verschiedenen Planeten zu stammen schienen. Zur Rechten erhoben sich Hügel, die allmählich höher wurden, und bald kam ein Gebirge in Sicht, das schroffer und unwirtlicher zu sein schien als jene Bergzüge, die sie schon überwunden hatten.
In einem trockenen Bereich lag ein Garten mit einem Pavillon. Der Garten war prachtvoll, und der Pavillon funkelte und blitzte, als hätte man ihn aus einem riesigen Diamanten geschliffen. Shrou schrak aus seiner Nachdenklichkeit auf, als Gesil ihn darauf aufmerksam machte.
»Eine Falle«, sagte er. »Auch ein Bestandteil der Sammlung. Wenn du lebensmüde bist, brauchst du nur den Pavillon zu betreten. Mir scheint, wir treffen auf immer mehr von diesem Gerümpel, je näher wir dem Zentrum kommen.«
»Solange wir keinen fliegenden Fallen begegnen, ist das zu verkraften«, meinte Gesil.
»Verschrei's nicht«, unkte Shrou. »Ist dein Kind ein Telepath? Kannst du dich mit ihm verständigen?«
»Warum willst du das wissen?«
»Wir nähern uns dem Zentrum. Langsam wäre es interessant, zu wissen, was der Herr der Elemente plant. Vor allem, wo er steckt.«
»Ich fürchte, da werden wir uns einfach vorsehen müssen.«
»Das Kind ist kein Telepath?«, wiederholte Shrou.
»Ich weiß es nicht. Es ist einfach zu klein und kann sich nicht richtig verständlich machen. Unsere Verbindung ist rein empathisch. Ich spüre Emotionen und muss sie erst interpretieren, damit ich erkenne, was gemeint ist.«
Das war nicht die ganze Wahrheit. Die Fähigkeit des Kindes, Einfluss auf ihr Bewusstsein zu nehmen, erschreckte Gesil noch zu sehr, als dass sie bereit gewesen wäre, darüber zu reden.
»Schade«, meinte Shrou. »Hätte der Herr der Elemente sich ein paar Wochen Zeit gelassen, dann wäre die Verbindung zwischen euch vielleicht schon um vieles besser.«
Gesil schwieg. Sie war nicht sicher, ob sie sich etwas Derartiges überhaupt wünschte.
»Hast du Angst?«, fragte Shrou unvermittelt.
»Ja, sicher«, murmelte sie rein mechanisch. »Aber der Impulsaktivator ...«
»Ich meine jetzt nicht den Herrn der Elemente«, wehrte das Konzept ab, »sondern das Kind. Hast du Angst vor ihm?«
»Ich wüsste nicht, was dich das angeht.«
»Gar nichts, stimmt«, sagte Shrou gelassen.
Sie näherten sich den Bergen. Eine Schar von Konzepten tauchte vor ihnen auf. Gesil musste plötzlich an Sklaven denken, die sich mühsam auf ihrem Zug in die Leibeigenschaft dahinschleppten. Sie blinzelte verwirrt, weil neben den Konzepten Reiter erschienen, bärtige Gestalten mit Turbanen, Krummsäbeln und knallenden Peitschen. Den Konzepten folgte eine prunkvolle Sänfte. Ein Orientale mit bunten Pluderhosen segelte auf einem fliegenden Teppich heran und verkündete lautstark, dass er die besten Sklaven habe, die man weit und breit bekommen könne.
»Scher dich sonst wohin!«, herrschte Shrou den Fremden an, und an Gesil gewandt, verlangte er eindringlich: »Denke endlich an etwas anderes!«
Der Mann auf dem fliegenden Teppich gab keine Ruhe. Gesil hielt ratlos inne.
»Es ist eine Theatermaschine!«, versuchte Shrou den Sklavenhändler zu überschreien. »Sie steht irgendwo in den Hügeln, nimmt deine Vorstellungen auf und macht ein Schauspiel daraus. Verstehst du nicht? Du brauchst nur an etwas anderes als an dieses Sklaventheater zu denken, dann wechselt die Szene.«
»Ich habe niemals an Sklavenhändler auf fliegenden Teppichen gedacht!«, protestierte Gesil.
»Das macht gar nichts – die Maschine produziert Details nach ihrem Gutdünken dazu. Trotzdem solltest du an etwas anderes denken, bevor wir in das Schauspiel verwickelt werden.«
Shrou hatte kaum ausgesprochen, da verlor der Mann auf dem Teppich wohl die Geduld. Jedenfalls schoss er wie ein Habicht herab, packte Shrou und hievte ihn ohne erkennbare Anstrengung auf seinen Teppich hinüber. Die mit einem Mal führerlose Antigravscheibe geriet ins Trudeln.
Gesil jagte dem Gefährt nach und konnte es gerade noch abfangen, bevor es zwischen die stumpf dahintrottenden Konzepte stürzte. Bis sie sich nach dem Teppich umsah, setzte der schon zur Landung neben der Sänfte an, die zum Stillstand gekommen war. Ein ungemein fetter Mann zwängte sich heraus. Diener eilten herbei, brachten Polster und eine gigantische Wasserpfeife, während andere Shrou fesselten und ihn in ein eilends errichtetes Zelt warfen.
»Das darf nicht wahr sein«, murmelte Gesil vor sich hin. »Soll ich etwa dieses Theater mitmachen?«
Sie schwebte über der Szenerie, schloss die Augen und dachte intensiv eine andere Assoziation, die sich mit dem Zug der Konzepte verbinden ließ: Flüchtlinge, die aus einem Katastrophengebiet kamen und dringend Hilfe benötigten. Sie sah förmlich die Hilfszelte und viele Leute, die Medikamente verteilten und Kranke in Sicherheit brachten.
Als sie die Augen wieder öffnete, starrte der Fettwanst zu ihr empor und nuckelte hingebungsvoll an der Wasserpfeife.
Entschlossen setzte Gesil zur Landung an.
»Gebt meinen Begleiter heraus!«, forderte sie.
Der Fettwanst grinste schmierig und machte eine eindeutige Handbewegung. Ohne Lösegeld geht gar nichts, sollte das heißen.
»Ich werde bezahlen!«, versprach Gesil im Vertrauen darauf, dass die Theatermaschine ihre Bereitschaft, das Spiel mitzumachen, entsprechend honorieren würde.
»Erst das Geld!«, forderte der Fettwanst.
Gesil durchsuchte die Taschen ihres SERUNS, aber die Theatermaschine ließ sie prompt im Stich.
»Nun gut«, grinste der Fette. »Zwei Gefangene sind besser als keiner, und irgendwer wird schon für euch bezahlen.«
Gesil begriff sofort, wie das gemeint war, und raste in die Höhe. Mehrere fliegende Teppiche nahmen die Verfolgung auf. Im Bewusstsein, dass sie keine Lebewesen, sondern nur die Projektionen einer Maschine zerstörte, schoss sie die Verfolger ab. Die Teppiche fingen prompt Feuer und stürzten ab, in Flammen und Rauchwolken gehüllt. Das alles schien erschreckend real.
Gesil blickte in die Tiefe und fragte sich, wie sie Shrou aus dieser Falle befreien sollte. Zum ersten Mal spürte sie, dass auch das Kind sich um das Konzept sorgte – es schien seine Abneigung endlich überwunden zu haben. Das war gut, denn es hätte auch zu dem Schluss kommen können, dass es besser sei, Shrou zurückzulassen.
Während Gesil überlegte, wurde das provisorische Lager unter ihr bereits abgebrochen. Sklaven wuchteten den Fettwanst zurück in die Sänfte, dann setzte sich der Zug wieder in Bewegung. Shrou stolperte, mit einem Strick um den Hals, hinter der Sänfte her.
Gesil sah nur zwei Möglichkeiten, die Situation zu verändern. Da die Theatermaschine nicht geneigt war, die Szene zu wechseln, musste sie dieses Ding finden und außer Betrieb setzen. Dann würden der Fettwanst und sein Drumherum verschwinden und Shrou war frei.
Oder sie griff direkt an. Doch diese Überlegung gefiel Gesil sehr viel weniger.
Also suchte sie zwischen den Hügeln nach der Maschine. Sie fand nur weitere Turbanträger auf fliegenden Teppichen, die ihr auflauerten und sofort Jagd auf sie machten. Als außerdem ein fliegendes Pferd herangaloppierte, hatte Gesil endgültig genug.
Die Sänfte hatte inzwischen zu den Konzepten aufgeschlossen. Shrou wurde zu den anderen Sklaven gejagt, doch seine Chancen, aus eigener Kraft zu fliehen, wurden dadurch nicht besser. Shrou versuchte es und bezog dafür fürchterliche Prügel.
»Es reicht!«, sagte Gesil zu sich selbst.
Sie zog Shrous Flugscheibe zu sich heran, schwang sich darauf und jagte im Sturzflug nach unten.
»Festhalten!«, schrie sie dem Konzept zu.
Sie raste über Shrou hinweg, gab mehrere Schüsse auf die Reiter ab, wendete in einer engen Schleife und bremste ab. Shrou nutzte den Moment und sprang so schnell auf die Antigravscheibe, dass Gesil Mühe hatte, ihm rechtzeitig Platz zu machen.
»Die Waffe!«, schrie er ihr zu.
Sie reichte ihm den Strahler, und eine Minute später waren sie alle Verfolger los.
»Wir sind längst nicht aus der Reichweite der Maschine heraus!«, warnte Shrou.
Gesil hoffte trotzdem, dass keine weiteren Trugbilder auftauchen würden. Als jedoch Sekunden später ein riesiger Schatten auf sie fiel, ahnte sie schon, dass Shrou wieder recht hatte. Sie blickte nach oben – ein gigantischer Vogel näherte sich mit vorgereckten Fängen.
Sie konnte nicht einmal hoffen, dass es sich nur um eine Projektion handelte. Die blutigen Spuren der Peitschenhiebe, die sie auf Shrous Rücken sah, waren zweifellos echt.
Gemeinsam flohen sie vor dem Vogel, aber das Biest kam näher. Shrou blickte die meiste Zeit nach unten.
»Schieß ihn ab!«, schrie Gesil.
Shrou schüttelte den Kopf, löste sich aus Gesils Nähe und kurvte im Zickzack zwischen den Krallen des Monstrums hindurch, das ein schrilles Kreischen von sich gab. Der Vogel ließ sich irritieren, und Gesil gewann einen geringen Vorsprung. Bis sie sich nach Shrou umsah, raste der schon im Sturzflug in die Tiefe.
Der Vogel sah seine Beute entschwinden, krächzte wütend und jagte ihr nach. Er schien nun erst richtig aggressiv zu werden. Gesil schlug Haken und ging ebenfalls tiefer, in der Hoffnung, dass das Tier über dem Gelände nicht so gut zurechtkam, doch das Biest holte auf – und plötzlich war es verschwunden.
Gesil spähte angespannt nach allen Seiten, darauf gefasst, dass eine neue Gefahr aus dem Nichts auftauchte. Dann sah sie Shrou auf einem Hügel stehen und ihr zuwinken.
»Ich habe die Maschine gefunden«, sagte er, als sie neben ihm landete. »Ich schätze, es war höchste Zeit.«
Gesil blickte den Hügel hinab. Die Theatermaschine sah aus wie ein riesiger Tank auf Spinnenbeinen. Das Gebilde kroch langsam davon.
»Du konntest sie abschalten?«
»Das geht nicht«, antwortete Shrou. »Man kann nur das gerade laufende Programm beenden, wenn man an die Maschine herankommt. Für die nächsten Minuten sind wir vor ihr sicher. Allerdings sollten wir aus ihrer Reichweite verschwunden sein, bevor sie aus deinen Gedanken das nächste Schauspiel konstruiert.«
Zum ersten Mal machte Shrou einen erschöpften Eindruck. Er schien am Ende seiner Kräfte zu sein, trotzdem stieg er, ohne zu zögern, wieder auf sein Gefährt.
Es dauerte über eine Stunde, bis sie einen sicheren Ort fanden, an dem sie rasten konnten.
»Diese Maschinen sind gemeingefährlich«, stellte Gesil fest, während sie Shrous Wunden behandelte. »Ich verstehe ja, dass ES alle möglichen Kuriositäten sammelt, aber er sollte wenigstens dafür sorgen, dass es keine Unfälle geben kann.«
»ES ist nicht dafür verantwortlich«, sagte Shrou lakonisch.
Die Sklaventreiber hatten ihn übel zugerichtet. Gesil fand es schier unverständlich, dass Shrou trotz dieser Wunden imstande gewesen war, auf die Antigravscheibe zu springen, von allem, was er danach getan hatte, ganz zu schweigen. Überhaupt wunderte sie sich über seine stoische Ruhe. Er, der vorher wegen eines Kratzers fast auf sterbenskrank gemacht hatte, ließ nun mit keiner Regung erkennen, dass er Schmerzen hatte. Dabei mussten sie sehr stark sein.
»Es ist merkwürdig«, redete Shrou unvermittelt weiter. »Vorhin, zwischen den anderen Konzepten, spürte ich den Sog sehr viel stärker. Jetzt ist es wieder besser. Hast du eine Erklärung dafür?«
»Nein«, sagte Gesil.
»Ich schon. Du hast erzählt, dass alle an Bord der BASIS handlungsunfähig geworden sind – bis auf dich. Wie kam das wohl?«
»Mein Kind hat mich beschützt«, sagte sie abweisend.
»Und als ihr mich getroffen habt, hat es mich ebenfalls beschützt, oder? Ihr braucht jemanden, der euch zu ES führen kann.«
»Eher im Gegenteil, es konnte dich nicht ausstehen. Es hatte Angst vor dir und hätte sich jedes andere Konzept ausgesucht, nur nicht dich.«
»Kein anderes Konzept war da.«
»Pass auf, Shrou, wir haben zwei ... – was rede ich: Ich habe zwei Konzepte getroffen, bevor ich auf dich gestoßen bin. Gelegenheit wäre also da gewesen. Du bist widerstandsfähiger – ich denke, das ist alles.«
»Nein, das ist es nicht. Ich bin imstande, dem Sog aus eigener Kraft bis zu einem gewissen Grad zu widerstehen. Aber das galt auch für den Mutanten, den wir getroffen haben, und trotzdem konnte der nicht in die entgegengesetzte Richtung gehen, wie ich es die ganze Zeit hindurch tue. Als ich zwischen den anderen Konzepten war, konnte ich es ebenso wenig – bis du wieder in der Nähe warst.«
»Das ist nur Theorie«, wehrte Gesil ab. »Möglich, dass es so ist, nur gibt es keine Beweise dafür.«
»Du könntest diese Beweise bekommen. Von deinem Kind.«
»Ich sagte dir schon, dass es zu klein ist, sich verständlich zu machen ...«
»Ein Kind, das über eine solche Macht verfügt? Das glaubst du selbst nicht. Es kann wahrscheinlich sehr viel mehr, als du denkst.«
Gesil wandte sich ab.
»Du willst es gar nicht wissen«, drängte Shrou. »Du hast Angst, Gesil. Vor dem, was du erfahren könntest, sobald du aufhörst, dich gegen alles abzublocken. Du hast Angst, dein Kind könnte ein Monster sein.«
»Das ist nicht wahr!«, protestierte sie in hilflosem Zorn. »Außerdem geht es dich nichts an.«
»Jetzt schon. Für ein paar Minuten habe ich erfahren, wie die anderen sich im Bann der Nega-Psis fühlen, und ich möchte das nicht noch einmal erleben. Gleichzeitig spüre ich, dass der Sog auch in deiner Nähe stärker wird. Die Kräfte deines Kindes lassen nach, und ich habe den Verdacht, dass das auf dich selbst zurückzuführen ist. Deine Angst schlägt auf das Kind zurück und schwächt es.«
Gesil wandte Shrou den Rücken zu und sagte kein Wort. Sie empfand es als dumm und ungerecht, was er behauptete.
»Wenn ich zurückdenke, dann glaube ich, dass anfangs die Verbindung zwischen dir und deinem Kind sehr viel besser funktioniert hat, als es jetzt der Fall ist«, sagte Shrou. »Das war, als du noch nicht den Verdacht hattest, dass das Kind mich vor dem Sog schützt und deshalb zu beschäftigt ist, um mit dir zu kommunizieren. Deine Reaktion auf den Kalag war recht aufschlussreich, um nur das anzusprechen.«
»Aufschlussreich? Das Biest hätte mich umbringen können.«
»War es das, was dich so erschreckt hat?«
»Ich finde, dass du in der Rolle des Kosmopsychologen nicht sehr glaubwürdig wirkst«, sagte Gesil eisig.
Shrou grinste breit. »Und ich glaube, dass du dir zu viel vormachst, was nicht stimmt.«
Gesil fuhr wütend zu ihm herum, sie schluckte ihren Zorn jedoch hinunter.
»Shrou, ich liebe dieses Kind, und ich will es haben. Es ist gesund und körperlich gut entwickelt, und es ist mein erstes Kind. Mir wurde gesagt, dass viele Frauen bei ihrer ersten Schwangerschaft mit Ängsten zu kämpfen haben. Aber meine Reaktionen sind normal, und auch das Kind ist normal ...«
»Das ist es eben nicht, du weißt das sehr genau. Du möchtest , dass es normal ist, denn seine Fähigkeiten machen dir Angst.«
Gesil atmete tief durch und zählte in Gedanken bis zehn. »Gut«, sagte sie mit erzwungener Ruhe. »Nehmen wir an, du hast recht. Was soll ich deiner Meinung nach tun?«
»Reinen Tisch machen, erst mit dir selbst, danach mit deinem Kind. Die Tatsache akzeptieren, dass es anders ist, und es mit all seinen Fähigkeiten annehmen.«
Gesil schwieg. Shrous Vorschläge waren sicher nicht einmal schlecht. Sie fragte sich nur, ob er überhaupt wusste, wovon er redete.
»Es ist sehr wichtig, dass du das tust!«, fuhr Shrou fort. »Wir haben das Zentrum von EDEN II nahezu erreicht, und es kann nicht mehr lange dauern, bis du auf den Herrn der Elemente triffst – falls du nicht schon zu spät kommst. Du wirst deine gesamte Kraft brauchen. Denke daran, welche Folgen ein Versagen deinerseits haben kann. Du musst mit dir selbst und mit deinem Kind im Reinen sein – sonst kannst du es unmöglich schaffen.«
»Du bist Experte auf diesem Gebiet?«
»Das nicht. Aber ich habe Augen im Kopf, und ich bin ein Konzept. Ich habe Erfahrung darin, wie es ist, wenn zwei Bewusstseine in einem Körper leben müssen – und auf nichts anderes läuft die Verbindung zwischen dir und deinem Kind hinaus. Wenn das eine Bewusstsein das andere zu unterdrücken versucht, gerät der Körper aus dem Gleichgewicht. Dann sind die Reaktionen nicht so schnell und sicher, wie es nötig wäre. Und noch etwas: Gerade jenes Bewusstsein, das sonst zurückgedrängt wird, kann im Moment der Gefahr übermächtig werden. Willst du es deinem Kind überlassen, den Impulsaktivator ins Ziel zu lenken?«
»Vielleicht wäre das nicht einmal so schlecht«, überlegte Gesil. »Es scheint auf diesem Gebiet besser zu sein als ich.«
»Hast du Minderwertigkeitskomplexe? Gesil, dein Kind ist winzig klein und absolut hilflos. Es braucht dich und deinen Körper, um überhaupt leben zu können!«
Sie betrachtete Shrou nachdenklich und erkannte, dass er sich verändert hatte. Sie konnte sich sogar denken, was diese Veränderung herbeigeführt hatte. Es war die Erfahrung, dass er keineswegs so verschieden von den anderen Konzepten war, wie er es sich eine Zeit lang erfolgreich eingeredet hatte. Er war ebenso verletzlich wie die anderen, genauso darauf angewiesen, dass ES weiterexistierte.
»Du bist es, der Angst hat«, stellte Gesil fest.
Zu ihrer Überraschung suchte Shrou keine Ausflüchte.
»Ja«, sagte er ruhig. »Ich habe Angst. Ich war immer ein Außenseiter, und ich war stolz darauf. Ich wollte mit all den großartigen Dingen, die hier und anderswo passierten, nichts zu tun haben, und mit ES auch nicht. Ich habe mir eingebildet, dass ich ES die Erlaubnis, frei auf EDEN II leben zu können, abgetrotzt habe. Mehr wollte ich gar nicht, einfach nur leben, wie es mir gefiel. Ich bereue das nicht, und ich habe auch nicht die Absicht, es künftig anders zu machen. Aber ich weiß jetzt, dass mir das nicht möglich sein wird, falls es dem Herrn der Elemente gelingt, ES zu vernichten. Ich habe Angst um ES, weil ich Angst um mich selbst habe.«
Nein, erkannte Gesil, Shrou hatte sich gar nicht so sehr verändert. Er war Egoist geblieben. Er hatte lediglich herausgefunden, dass seine vom Egoismus bestimmte Existenz bedroht war. Doch das spielte im Grunde genommen keine Rolle, denn es war nicht wichtig, warum er half, sondern dass er half.
»Du solltest versuchen, etwas Schlaf zu erwischen«, sagte Gesil zu ihm. »Du siehst schlecht aus und brauchst Ruhe. Wir haben noch eine Menge zu erledigen.«