18. Herr der Elemente
Er fühlte sich wohl bei seinen Erinnerungen an die vergangenen Epochen.
Dem Zeitalter der Wanderung war das Zeitalter des Geistes gefolgt, als nur mehr wenige der Fliegenden Städte existierten und die Zahl der V'Aupertir auf lediglich einige Millionen geschrumpft war. Sie schlossen sich zusammen und bauten die ARCHE, ein gewaltiges Raumschiff, die Krönung ihrer technischen und wissenschaftlichen Entwicklung.
Sie besaßen die individuelle Unsterblichkeit und hatten ihre Psi-Fähigkeiten zur Vollkommenheit entwickelt. So brachen sie auf zur Suche nach den letzten Erkenntnissen, die sie erringen mussten.
Während dieser Reise bildeten sich zwei Parteien heraus. Die eine plädierte für die weitere körperliche Existenz. Die andere sah die Chance der V'Aupertir in einer schrittweisen Vergeistigung. Der Konflikt war unausweichlich. Die Anhänger der Vergeistigung errangen den Sieg und jagten die Vertreter der Gegenpartei von Bord.
Im Zeitalter der zweiten Stille erreichte die ARCHE ihr Ziel, das Randgebiet des Universums. Die V'Aupertir perfektionierten die Techniken für die Trennung von Körper und Geist und entdeckten die Möglichkeit der geistigen Reise durch Raum und Zeit. Sie erkannten die Vorteile eines Kollektivbewusstseins und träumten davon, zur Superintelligenz zu werden. Ihre Versuche, die eigene Evolution abermals künstlich zu beschleunigen und ihr ehrgeiziges Ziel kurzfristig zu erreichen, schlugen fehl, und es folgten Jahrzehntausende der Resignation. Dann wurde während einer Bewusstseinsreise eine Region entdeckt, in der der Kosmos zu zerfallen schien: die Negasphäre.
Mit der Reise in die Negasphäre und deren Erforschung begann das Zeitalter der Größe, das man auch das letzte Zeitalter nannte. Der Aufenthalt in der Negasphäre beschleunigte die Vergeistigung der V'Aupertir. Sie lösten sich endgültig von ihren körperlichen Hüllen und schlossen sich zu einem Kollektivbewusstsein zusammen, dass
sich den Namen jenes Volkes gab, aus dem es hervorgegangen war.
V'Aupertir gewann erste Erkenntnisse über den Moralischen Code des Universums, über das Kosmonukleotid TRIICLE-9 und die Gründe für die Entstehung der Negasphäre, die ihre Existenz der Mutation von TRIICLE-9 verdankte. V'Aupertir lernte, die beim Zerfall des Kosmos in der Negasphäre anfallenden Energien zu nutzen, und erwarb durch sie die Fähigkeit der Absoluten Bewegung und der Materialisation an jedem beliebigen Ort im Universum.
Er geriet dadurch aber auch in völlige Abhängigkeit, denn er schöpfte seine gesamte Macht aus den besonderen Verhältnissen in der Negasphäre. Wenn es jemals gelingen sollte, den beschädigten Moralischen Code zu reparieren und somit die Gegebenheiten in der Negasphäre zu normalisieren, würde V'Aupertir all seine Macht verlieren.
So kam es, dass er den Kosmokraten den Kampf ansagte. Seitdem kannte er nur ein einziges Ziel: die Negasphäre zu erhalten, sie nach Möglichkeit sogar über weitere Bereiche des Kosmos auszudehnen.
Dafür begann er mit dem Aufbau einer Streitmacht, und es entstand der Dekalog der Elemente. V'Aupertir wurde zum Herrn der Elemente, zu einer Macht des Chaos – zu einem Chaotarchen.
Er hatte den Höhepunkt seiner Entwicklung erreicht. Ebenso den Höhepunkt seiner Macht, an dem es ihm möglich war, als bloßes Bewusstsein zu existieren, aber auch jede beliebige materielle Gestalt anzunehmen. Die Fähigkeit der Absoluten Bewegung erlaubte es ihm, in Nullzeit gewaltige Entfernungen zurückzulegen. Er verfügte über die gesamte Palette aller Psi-Kräfte, die das Volk der V'Aupertir einst entwickelt hatte. Und er besaß im Dekalog der Elemente ein militärisches Instrument, das ihm helfen sollte, seine Pläne zu verwirklichen.
Der Negasphäre, der Quelle seiner Macht, drohte Gefahr. Wenn es gelang, EDEN II als letztes Chronofossil zu aktivieren, kehrte TRIICLE-9 an seinen Platz zurück, und der Herr der Elemente hatte das Nachsehen. EDEN II konnte jedoch nicht aktiviert werden, wenn ES nicht mehr existierte. Deshalb war der Herr der Elemente bereit für den letzten, entscheidenden Schlag, um seine Existenz damit zu sichern.
Es war Zeit für ihn, sich wieder der Gegenwart zuzuwenden.
Er blickte auf die Nebel, die unter ihm zwischen den Felshängen brodelten. Sein Blick ließ sie leuchten, und dann wichen sie auseinander und zeigten ihm die felsige, von Natur aus leblose Einöde, die sie zuvor verborgen hatten. Dort gab es vieles, was sich bewegte.
Der Herr der Elemente lachte. Er sah offensichtlich das letzte Aufgebot der Superintelligenz, und es war nicht dazu geeignet, ihn das Fürchten zu lehren. Allerlei Maschinen irrten herum, und noch verwirrter als die Maschinen waren die vielen Tiere, die nicht wussten, was sie in der für sie ungeeigneten Umgebung tun sollten.
Lächerliche Spielzeuge von ES. Mit seinen Psi-Kräften war V'Aupertir ihnen weit überlegen. Er würde die Maschinen zerfetzen und die Tiere davonjagen. Jedem, der sich künftig dem halbierten Planeten näherte, sollten sie zeigen, dass der Herr der Elemente es nicht einmal nötig gehabt hatte, sie zu vernichten, um an ES heranzukommen.
Er sah die Festung, in der sein Gegner sich verkrochen hatte. Gegner? ES war kein Gegner mehr, nur ein hilfloses Opfer, das in Agonie auf den Todesstoß wartete.
Oder hielt ES noch einen Trumpf bereit?
Da war etwas, das den Herrn der Elemente berührte, ganz kurz nur, wie der Stich einer hauchdünnen Nadel. Kaum zu spüren und allem Anschein nach weit entfernt, aber zweifellos vorhanden. Etwas, das über Psi-Kräfte verfügte.
V'Aupertir musterte die Festung eingehender. ES war hilflos, das spürte er. Das Bewusstsein der Superintelligenz zerfiel im Sog der Nega-Psis und war längst nicht mehr fähig, sich zu wehren. Es hatte auch keine Möglichkeit zur Flucht.
Von ES drohte keine Gefahr.
Vielleicht aus der anderen Richtung? Etwas kam vom Rand des halbierten Planeten her, und es war immerhin stark genug, sich den Nega-Psis zu widersetzen. Doch dem Herrn der Elemente konnte es nichts anhaben. Seine Psi-Kräfte waren so gering, dass V'Aupertir sie selbst bei stärkster Konzentration kaum zu erkennen vermochte.
Der Herr der Elemente spürte, dass er dieses Etwas mit Leichtigkeit vernichten konnte, und gerade das machte ihn misstrauisch. Er beschloss, sich den Gegner genauer anzusehen,
bevor er zuschlug. Vielleicht war es nur ein Konzept, das sich in der Richtung irrte. Oder sogar eines, das den Verstand verloren hatte und deshalb seinem Herrn und Meister zu Hilfe eilen wollte.
V'Aupertir stellte fest, dass er sich nicht so eingehend mit seiner Vergangenheit hätte befassen sollen – nicht an diesem Ort und zu dieser Zeit. Später war Zeit, allen Erinnerungen nachzuhängen. Er hatte es versäumt, die Konzepte und das terranische Raumschiff im Auge zu behalten. Deshalb wusste er nicht einmal, woher dieses Etwas gekommen war.
Da war wieder eine Berührung, erneut ein winziger Stich mit psionischer Kraft, jedoch ganz anders, als er es zuerst gespürt hatte. Es kam auch aus einer anderen Richtung. Und ebenfalls aus einer Quelle, die sich nicht auf die Nega-Psis zubewegte.
Der Herr der Elemente wartete, denn er ahnte, dass dies nicht alles sein konnte. Und richtig: Er spürte weitere Berührungen im Psi-Bereich. Sie kamen aus unterschiedlichen Richtungen und Entfernungen.
Er hätte es wissen müssen. ES gab sich nicht so leicht geschlagen, das Gewimmel von Tieren und Geräten war nur eine Finte. Ein Ablenkungsmanöver, das Hilflosigkeit signalisieren sollte, um den Herrn der Elemente in Sicherheit zu wiegen.
Aber er ließ sich nicht täuschen. Er wusste, dass er es nur mit einigen schwachen Psi-Quellen zu tun hatte. ES war in der Festung und nicht dort draußen, wie er glauben sollte.
V'Aupertir machte sich auf, um die Quellen der winzigen psionischen Nadelstiche aufzuspüren und sie zu vernichten.