20. Zwei Bewusstseine
Es gibt einen Ort der Freiheit.
Dort gibt es keine Naturgesetze; das Schöpfungsprogramm folgt keinen vorgezeichneten Regeln. Die Geschwindigkeit des Lichts kann gleich null und ebenso unendlich sein – so wie die Glut kalt und die Kälte mörderisch heiß sein kann.
Es gibt einen Ort, dort schlägt die Zeit Kapriolen; sie läuft im Zickzack ab und manchmal auch rückwärts – willkürlich, spontan und sprunghaft. In diesem Bereich zerfällt die Ordnung, sie zerbröckelt seit Jahrmillionen und nähert sich mit Riesenschritten dem totalen Chaos.
Es gibt diesen Ort, seit TRIICLE-9 spontan mutierte und das psionische Feld aus der Doppelhelix des Moralischen Codes ausbrach. Denn es war TRIICLE-9, dessen Ausstrahlung regulierend wirkte. Als dieses psionische Feld verschwand, steuernde Informationen in Form von Messengers nicht länger in jenem Gebiet eintrafen und somit die ordnenden Kräfte des Moralischen Codes nicht wirksam wurden, etablierte sich das Chaos und griff immer weiter um sich.
Dieser Ort ist die Negasphäre.
Dorthin sehnte sich der Herr der Elemente im Moment der höchsten Not. Doch die Sicherheit der Negasphäre wäre äußerst trügerisch gewesen, solange die Rückkehr von TRIICLE-9 an seinen angestammten Platz in der Tiefe drohte.
In dieser Situation, der ungeheuerlichen Bedrohung durch die Ordnungsmächte, tat der Herr der Elemente das einzig Richtige, er rettete sich mittels der Absoluten Bewegung nach Lager, der letzten verbliebenen Basis des Dekalogs.
Es stand schlecht um ihn.
Erst allmählich wurde ihm bewusst, dass er es mit letzter Kraft geschafft hatte. Sein Körper stand in flammendem Schmerz; die Sextagoniumspitze war eingedrungen und untrennbar mit ihm verschmolzen.
Der Schmerz brandete in Sekundenabständen auf, wie der Schlag seines Pseudo-Herzens. Bei jedem Schlag war es ihm, als werde er wieder und wieder von dem Sextagoniumspeer getroffen. Mit jedem heftigen Herzschlag durchlebte er seine schreckliche Niederlage erneut in allen Einzelheiten.
Die Erinnerung verlor nur langsam ihren Schrecken, je mehr er sich an den Schock gewöhnte und den Schmerz verdrängte. Nur das entsetzliche Pochen konnte er nicht ignorieren. Er würde es spüren, bis es ihm gelang, sich von dem Sextagonium zu befreien. Die im Sekundenabstand auf ihn einwirkenden Impulse des Devolators banden ihn zunächst an den Pseudo-Körper und machten es ihm unmöglich, die angenommene organische Erscheinung eines Terraners aufzugeben.
Er war ein Milliardenbewusstsein, doch alle seine Fähigkeiten wurden durch das Sextagonium aufgehoben. Es zehrte an seinem Geist.
Er musste einen Ausweg finden. Denker, der syntronische Computer von Lager, sollte ihn dabei unterstützen.
»Denker, ich wünsche eine Diagnose meines Zustands«, sagte V'Aupertir. Er erschrak darüber, dass er sich immer stärker nur als Geisteswesen V'Aupertir sah. »Ich bin der Herr der Negasphäre«, fuhr er deshalb fort, »ein Vertreter der Mächte des Chaos.«
»Trotzdem fühlst du dich zunehmend geringer«, diagnostizierte Denker. »Das sind Symptome einer rückläufigen Entwicklung, einer Devolution. Schuld daran sind die Sextadim-Impulse, die dich unaufhörlich treffen.«
Das wusste er selbst, auch ohne die hochgezüchtete Syntronik. Es war bitter für einen Mächtigen wie ihn, sich die eigene Hilflosigkeit eingestehen zu müssen. Darüber diskutieren wollte er schon gar nicht.
»Finde eine Lösung des Problems!«, befahl V'Aupertir. »Unter der umfangreichen Ausrüstung von Lager muss sich etwas befinden, mit dem ich den Devolator unschädlich machen kann. Suche die Waffe mit der größten Wahrscheinlichkeit heraus. Lass dir hinreichend Zeit.«
Denker hätte binnen Sekunden ein Urteil abgeben können. Die Syntronik akzeptierte jedoch die Bemerkung »Lass dir hinreichend Zeit«, wie sie gemeint war: Der bedrohte Herr der Negasphäre benötigte Raum für eine mögliche Selbstfindung und zum Nachdenken.
Der Herr der Elemente nutzte diese Spanne auf eine Weise, die ihn nachher selbst zutiefst erschreckte.
Eigentlich müsste man den Herrn der Elemente als negative Superintelligenz bezeichnen. Wie diese ist er kein Einzelwesen, sondern eine Wesenheit mit vielschichtigem Ego. Er selbst nannte sich hochtrabend einen Chaotarchen, was nichts anderes war als ein Vorgriff auf seine kommende Entwicklung, jedoch nirgendwo bei den Hohen Mächten auf Widerspruch stieß. Vielleicht, weil er noch relativ jung war und weit davon entfernt, zu einer Materiesenke zu werden, aus der sich eines Tages Chaotarchen entwickelten, so wie aus Materiequellen Kosmokraten hervorgingen.
Ohnehin war die Negasphäre, die den Herrn der Elemente geformt hatte, nicht gefestigt genug. Ihre negativen Kräfte waren allerdings stark genug gewesen, den körperlichen V'Aupertir zu einem Kollektivbewusstsein zu verhelfen.
V'Aupertir erinnerte sich so deutlich, als sei der Umwandlungsprozess erst abgelaufen – oder als stehe er erst bevor. Das war das Erschreckende an seiner Situation.
V'Aupertir sah sich erneut am Beginn des Zeitalters der Größe, des letzten Zeitalters überhaupt. Nach Jahrzehntausenden der Resignation hatte die ARCHE mit den letzten Vertretern des uralten Volkes in der Randzone des Universums ein Phänomen angesteuert. Die V'Aupertir drangen in ein Gebiet vor, in dem die bekannten kosmischen Gesetze keine Gültigkeit hatten, in dem der Kosmos sogar zu verfallen schien.
Alle bislang erarbeiteten kosmologischen Erkenntnisse wurden durch das herrschende Chaos umgestoßen. In dieser Randzone des Universums war die Lichtgeschwindigkeit keine feststehende Konstante, sondern variabel und ständigen Änderungen unterworfen. Das Licht konnte ebenso fast zur Bewegungslosigkeit erstarren wie sich unendlich schnell fortbewegen.
Zudem gab es keine Gravitationskonstante. Die unglaublichsten Materieballungen waren entstanden, deren Masse und Dichte nie ihrem Erscheinungsbild entsprach. Und manche Sonne wies keinerlei thermische Strahlung auf und war kalt wie in anderen Regionen der Weltraum. Umgekehrt konnten erloschene Himmelskörper ohne Kernprozesse unglaubliche hohe Oberflächentemperatur haben.
Die V'Aupertir hatten diese chaotische Zone am Rand des Universums während ihrer Bewusstseinsreisen entdeckt. Viel davon war in Vergessenheit geraten, denn die deprimierende Suche während des Zeitalters der zweiten Stille hatte die V'Aupertir zermürbt. Als sie das Ziel ihrer Suche erreichten, erkannten sie es nicht sofort, sondern erst, als sie auch die ausgedehnten Zonen absoluter Finsternis entdeckten, das Element der Finsternis. Dieses Element war ein Relikt aus den Anfängen des Universums, es wuchs inmitten des chaotischen Bereichs und förderte den Zerfall der ordnenden Kräfte.
Dies war die gesuchte Negasphäre.
Je länger die V'Aupertir blieben, desto besser verstanden sie das Chaos, desto stärkeren Einfluss übte aber auch die Urkraft auf sie aus. Schließlich wurde durch diesen Einfluss die Vergeistigung beschleunigt. Die Individuen verschmolzen zu einem immer größer werdenden Kollektivbewusstsein und entledigten sich ihrer organischen Hüllen, bis alle Bewusstseine in das Geisteswesen integriert waren.
V'Aupertir lernte, die Chaoskräfte für sich nutzbar zu machen. Er vertiefte seine Erkenntnisse über die Entstehung dieser Negasphäre durch eine Störung des Moralischen Codes. V'Aupertir passte sich seiner Umgebung so sehr an, dass er bald ohne den Rückhalt aus dem Chaos nicht mehr lebensfähig war.
Die Gefahr, dass TRIICLE-9 wieder in die Doppelhelix der psionischen Felder eingefügt und der Moralische Code damit repariert wurde, bestand stets. Deshalb rekrutierte V'Aupertir eine Streitmacht, den Dekalog der Elemente. Das machte ihn zum Herrn der Elemente. Und als er von den Bestrebungen erfuhr, TRIICLE-9 zurück an seinen Urstandort zu bringen, da schickte er den Dekalog aus, um genau das zu verhindern ...
Das schien alles schon eine kleine Ewigkeit zurückzuliegen. V'Aupertir erinnerte sich nur vage daran. Das Davor, als er noch kein vergeistigtes Kollektivbewusstsein gewesen war, erschien ihm dagegen viel klarer. Es fiel ihm sogar leichter, das Leben eines V'Aupertir im Zeitalter der zweiten Stille nachzuvollziehen, als sich die Gegebenheiten des letzten Zeitalters vorzustellen.
»Das ist die Devolution«, konstatierte die Syntronik.
V'Aupertir wollte die Wahrheit nicht akzeptieren. Doch der stechende Schmerz des nächsten Sextadim-Impulses ließ ihn aufschreien.
Mit plötzlicher Besorgnis fragte er sich, wie weit seine Rückentwicklung mit jedem Impuls fortschritt. Bedeutete jede Sekunde ein Zurück von einem Jahr? Von zehn Jahren? Von hundert oder gar tausend?
»Welche Möglichkeiten hast du gefunden, Denker?«, fragte V'Aupertir.
»Am schnellsten könntest du dir helfen, indem du das Übel an der Wurzel anpackst«, schlug die Syntronik vor. »Du musst den Devolator zerstören. Das wird jedoch mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden sein, denn es gibt kein Mittel, die Sextagonium-Komponente aus deinem Körper zu entfernen. Jeder Versuch würde dich töten. Das Sextagonium ist für dich aber nur gefährlich, solange es die Devolationsimpulse der Sextadim-Pulsatoren empfängt. Den Möbiussatelliten in der Sonne Aerthan oder die Sextadim-Pulsatoren zu zerstören, wäre die Lösung.«
»Undurchführbar«, stöhnte V'Aupertir. »Oder würde die Kapazität von Lager ausreichen, ein solches Unternehmen zum Erfolg zu führen?«
»Lager weist ein Arsenal auf, das den Porleytern Verluste zufügen könnte. Zweifellos erwarten die Porleyter einen Gegenschlag. Unser gesamtes Waffenpotenzial, auf die Vernichtung des Möbiussatelliten oder auf die Pulsatoren konzentriert, könnte deren Vernichtung bewirken. Ausreichend Transportkapazität steht zur Verfügung. Nur hast du niemanden, der den Gegenschlag leiten kann.«
»Ich übernehme selbst das Kommando.«
»Du bist beeinträchtigt«, warnte die Syntronik. »Die Devolution schreitet schnell voran. Selbst wenn die Auswirkungen bislang nicht dramatisch scheinen, kann es infolge der permanenten Sekundenschocks jederzeit zu einem Devolutionssprung kommen.«
»Du solltest mir eine Alternative bieten, aber du zauderst nur.«
»Ich habe von zwei Möglichkeiten zuerst die weniger zielführende erläutert. Deine Gegner sind nicht zu unterschätzen, deshalb rate ich zur zweiten Methode.«
»Lass hören!«, verlangte der Herr der Elemente.
»Du brauchst einen Verbündeten.«
Fast hätte V'Aupertir bitter gelacht. Nicht einen Verbündeten, sondern den kompletten Dekalog, den er aber nicht mehr hatte. Er war auf sich allein gestellt.
»Es gibt einen potenziellen Verbündeten«, fuhr die Syntronik fort. »Er ist sehr stark und vertritt eine Macht, die sich mit den Porleytern messen kann. Er kämpft sogar für ähnliche Ziele wie du, wenngleich er nicht auf derselben Seite steht. Eure Gegner sind jedoch dieselben. Er dient nicht den Chaotarchen, aber er bekämpft die Kosmokraten.«
Erst allmählich verstand V'Aupertir, wen Denker meinte. Er fragte sich, ob er schon so schwerfällig wurde, dass er die einfachsten Zusammenhänge nur zögernd erkannte.
»Sotho Tal Ker!«, platzte er heraus.
Er hätte diese Möglichkeit niemals angedacht, weil der Vertreter der Mächtigkeitsballung Estartu für ihn kein Gleichgesinnter war. Der Gesandte einer Superintelligenz konnte nicht der Verbündete eines Chaotarchen sein.
»Das ist absurd«, widersprach V'Aupertir. »Warum sollte der Sotho mich im Kampf gegen die unterstützen, deren Freundschaft er sucht?«
»Tut er das?«, fragte die Syntronik zurück. »Sotho Tal Ker – oder, wie die Terraner ihn nennen: Stalker – hat deinen Feinden die Freundschaft angeboten. Trotzdem ist er vor allem ein Verfechter des Dritten Weges. Er verlangt von seinen Partnern in erster Linie die Abkehr von den Kosmokraten. So gesehen bist du ihm weitaus näher, als die Galaktiker es sind, ganz zu schweigen von den Porleytern.«
V'Aupertir durchdachte die Angelegenheit und fing an zu verstehen, was die Syntronik meinte.
»Sotho Tal Ker buhlt nicht um jeden Preis um die Gunst der Galaktiker«, fuhr Denker fort. »Er macht in manchen Punkten Zugeständnisse, doch in seiner Haltung gegenüber den Kosmokraten bleibt er seiner Superintelligenz treu. Das ist deine Chance. Jeder, der sich von den Kosmokraten abkehrt, rückt näher an die Chaotarchen. Sotho Tal Ker hat zumindest angedeutet, dass er sogar nach dieser Seite hin offen ist. Die Galaktiker haben vermutlich mehr Schwierigkeiten, mit ihm klarzukommen, als du sie hättest. Ich habe über ihn ein Psychogramm erstellt, und vor allem in einem Punkt gibt es ein klares Ergebnis: Sotho Tal Ker ist sicher ein Meister der Intrige.«
V'Aupertir hatte schweigend zugehört. Wer gegen die Kosmokraten war, war ein potenzieller Verbündeter der Chaotarchen – darin steckte durchaus ein Körnchen Wahrheit.
»Du rätst mir dazu, mit Stalker Kontakt aufzunehmen? Kann ich ihm überhaupt trauen?«
»Nein«, antwortete Denker. »Aber du hast keine andere Möglichkeit. Zu kämpfen wird dir immer schwererfallen, trotzdem musst du die Devolution stoppen. Sichere dir Sotho Tal Kers Unterstützung.«
»Ich werde deinen Rat befolgen«, entschied V'Aupertir.
Er fand sogar Gefallen daran. Die Möglichkeit, den Gesandten einer Superintelligenz gegen seine Feinde auszuspielen, fing an, ihn zu faszinieren.
Es ging nicht darum, Stalker für die Chaosmächte zu gewinnen. V'Aupertir musste den Sotho nur für ein Exempel gegen die Porleyter gewinnen. Im günstigsten Fall brauchte Tal Ker nicht einmal zu erfahren, welchen Gefallen er dem Herrn der Elemente tat, wenn mindestens eine der gewichtigen Komponenten des Devolators zerstört wurde.
Bei diesen Überlegungen angelangt, traf V'Aupertir ein Sextadimschock mit ungeheurer Wucht. Der erste große Devolutionsschub erfasste ihn und warf ihn zurück ins Zeitalter der zweiten Stille – er wurde wieder zu einem körperlichen V'Aupertir jener Entwicklungsstufe.
Und kaum ebbte die Nachwirkung des Devolutionssprungs ab, da wurde eine weitere Kraft wirksam. Etwas Fremdes erwachte in ihm, ein anderes Bewusstsein, das sich in seinem Körper manifestierte.
Es gab ein heftiges mentales Ringen, doch schon nach wenigen Augenblicken erwies sich V'Aupertir als der Überlegene.
Allerdings konnte er das fremde Bewusstsein nicht eliminieren. Von nun an würde er sich den einen Körper mit dem anderen teilen müssen. Für wie lange? Wie eine Antwort erschien ihm das Pochen der in Sekundenabständen erfolgenden Sextadim-Impulse lauter als zuvor.
Die Devolutionsbombe tickte ...
Es wurde Zeit, dass er handelte. Er beauftragte Denker, ihm ein geeignetes Raumschiff zur Verfügung zu stellen.
»Interessiert dich nicht, wessen Bewusstsein sich bei dir eingenistet hat?«, fragte die Syntronik.
Oh doch, es interessierte ihn. Denker hatte etwas angesprochen, dass der Herr der Elemente beinahe vernachlässigt hätte, weil er ohnehin die Oberhand gewonnen hatte.
Das fremde Bewusstsein versuchte sich abzukapseln, als wolle es seine Identität verbergen. Es hatte auch bei diesem Versuch keine Chance.
Als V'Aupertir die Wahrheit erkannte, war er zuerst verblüfft. Dann ungläubig. Im nächsten Moment triumphierte er.
»Welche Ironie des Schicksals, dass wir aneinandergefesselt sind, Perry Rhodan!«, sagte er.