21. Störungen?
»Perry Rhodan hätte ES gebraucht«, zog Taurec das Resümee schon in den ersten Minuten nach Rhodan spurlosem Verschwinden. »Ich denke, er musste diese Erfahrung machen, um auf den Boden der Realität zurückzufinden. Größenwahn ist keine Stärke.«
Noch hielten Verwirrung und Hoffnung einander die Waage. Keiner an Bord der BASIS war bereit, das Schlimmste in Erwägung zu ziehen. Und Taurec dachte zuallererst an die Folgen, die sich aus Rhodans Versagen für TRIICLE-9 und den Moralischen Code ergaben.
»Fellmer und ich, wir haben beide registriert, dass Perrys Bewusstsein plötzlich erlosch!«, sagte der Mausbiber Gucky schrill. Er stockte, und als Fellmer Lloyd zögernd nickte, fuhr er ein wenig gefasster fort: »Das kann bedeuten, dass sein Geist irgendwohin verschlagen wurde. Wer weiß, vielleicht hat ES ihn vorübergehend zu sich geholt. Aber Perrys Körper könnte an Bord zurückgeblieben sein.«
»Dann sollten wir uns auf die Suche nach ihm machen«, sagte der Teleporter Ras Tschubai spontan.
Es war Tschubai selbst, der fast eine Stunde später in der Unterkunft der beiden Porleyter materialisierte. Lafsater-Koro-Soth und Qumran-Fayed-Pogh hatten sich sehr bald nach Rhodans Verschwinden aus der Hauptzentrale zurückgezogen.
»Wir mussten nachdenken«, sagte Lafsater entschuldigend. »Wir sehen die Möglichkeit, dass Perry Rhodans Verschwinden mit dem Devolator zu tun haben könnte.«
»Glaubt ihr, dass der Devolator nicht funktioniert?«, fragte Tschubai überrascht.
»Das nicht.« Qumran-Fayed-Pogh winkte mit seiner Scherenhand ab. »Wir sind sicher, dass der Devolator nicht versagt. Gesil hat den Herrn der Elemente mit dem Impulsaktivator getroffen und seine evolutionäre Rückentwicklung eingeleitet. Mit dem ersten Sextadimschock wurde er der Fähigkeit der Gestaltveränderung und der Entmaterialisierung beraubt, das ist sicher.«
»Dann sehe ich keinen Zusammenhang mit Perrys Verschwinden«, sagte Tschubai.
»Es muss auch keinen geben«, schränkte Lafsater-Koro-Soth ein. »Wir denken über etwas anderes nach: Der Devolator wirkt auf fünf- und sechsdimensionaler Basis, und er setzt ähnlich geartete Energien frei, wie es Perry Rhodan bei seinem Aktivierungsversuch tat. In beiden Fällen handelt es sich um psionische Energien. Die Sextadimaura, in die der Herr der Elemente gehüllt ist, könnte wie ein Magnet auf den entstofflichten Rhodan gewirkt haben.«
»Ich werde diese Überlegungen weiterleiten«, versprach Ras Tschubai, bevor er erneut teleportierte.
Gesils Angriff auf den Herrn der Elemente und Rhodans Versuch, das Chronofossil EDEN II trotz der Warnung von ES zu aktivieren, lagen zeitlich deutlich auseinander, mehr als nur ein paar Stunden. Der Zusammenhang, den die Porleyter zu sehen glaubten, erschien Tschubai deshalb sehr konstruiert.
Die Suche überall in der BASIS, eine Teleportation nach der anderen, zehrte ihn aus. Letztlich fühlte sich der Afroterraner sogar zu schwach, in die Hauptzentrale zurückteleportieren. Und bis er endlich dort eintraf, hatte er die Meinung der Porleyter als zu vage aus seinen Gedanken verdrängt.
» ... Perrys Aktivierungsversuch ist jedenfalls nicht wirkungslos geblieben«, erklärte Geoffry Waringer soeben, als Tschubai die Zentrale wieder betrat. »So verwerflich, wie du es siehst, Taurec, kann seine Handlungsweise also gar nicht gewesen sein. Die Messwerte lassen am Standort des Frostrubins Hyperschockwellen erkennen, wie sie durch die Lösung des porleytischen Ankers entstehen. Was immer nebenher geschehen sein mag, versagt hat Perry nicht.«
»Ich sehe das nicht als gesicherte Interpretation«, widersprach Taurec. »Du gibst dich der Illusion hin, dass Perry Rhodan mit seinem gewagten Versuch die gewünschte Wirkung erreicht hat. Für mich ist das ein Trugschluss.«
»Tatsache ist, dass sich der porleytische Anker weiter löst«, beharrte Waringer. »Wir erkennen dieselben hyperenergetischen Schockwellen wie nach der Aktivierung der anderen Chronofossilien. Ist das richtig, Hamiller?«
»Exakt, Sir«, bestätigte die Positronik. »Die Hypertaster zeigen eindeutig, dass es mit jeder neuen Schockwelle beim Frostrubin zu einer Verminderung der Ankerwirkung kommt.«
»Perry hat es geschafft«, sagte Waringer. »Sein Verschwinden muss mit einem Störfaktor zusammenhängen. Vielleicht, wenn wir herausfinden ... «
In dem Moment erinnerte sich Ras Tschubai an sein kurzes Gespräch mit den beiden Porleytern. »Wäre es möglich, dass dieser Störfaktor durch die Sextadim-Impulse des Devolators entstanden ist?«, fiel er dem Hyperphysiker ins Wort.
Tschubai hatte kaum ausgesprochen, da betraten die Porleyter hinter ihm die Zentrale.
»Es geht mir gar nicht um die Klärung einer Schuldfrage«, sagte Taurec mit einem offenbar forschenden Blick auf Lafsater und Qumran. »Ich will nur auf unliebsame Nebeneffekte hinweisen, die durch Rhodans Eigenmächtigkeit entstehen können. Die SYZZEL hat leistungsfähigere Instrumente als die BASIS. Ich konnte deshalb geringfügige Anomalien an den Hyperschockwellen aus dem Bereich des Frostrubins erkennen. Sie sind wohl so zu deuten, dass der fehlerhafte Eingriff eine vorübergehende Störung des universellen Schöpfungsprogramms verursacht hat. Frage mich keiner, welche Auswirkungen das auf diese Mächtigkeitsballung haben kann. Wir werden es ...«
Ras Tschubai verstand nicht mehr, was Taurec sagte, denn jäh verengte sich sein Blickfeld. Jener Bereich der Zentrale, den der Teleporter einsehen konnte, zog sich rasend schnell zu einem Punkt zusammen. In der nächsten Sekunde explodierte die Punktperspektive förmlich, bis Tschubai seine Umgebung wieder völlig normal sah. Das alles geschah für ihn quasi in Null-Zeit. Aber mit einem Mal waren die beiden Porleyter fast neben ihm. Ras Tschubai konnte sich das nur so erklären, dass er einige Sekunden lang einen totalen Blackout gehabt hatte.
»... besteht kein Grund zum Teleportieren«, vollendete Lafsater-Koro-Soth soeben den Satz, dessen Beginn Tschubai nicht mitbekommen hatte. »Wir haben unsere Theorie überdacht. Sie könnte zutreffen. Immerhin muss etwas anders gewesen sein. Nicht die Sextadim-Impulse des Devolators haben Rhodans Aktivierungsversuch gestört. Er kann höchstens in die Sextadimaura geraten sein, weil er bei der Aktivierung versagte. Die Priorität ...«
Lafsater verschwand, bevor er den Satz vollenden konnte.
Im Hintergrund der Zentrale erklang ein Schrei. »Waylon Javier war für gut eine halbe Minute verschwunden!«, rief eine Frau.
»Unsinn«, gab der Kommandant zurück. »Ich hatte nur ein vages Flimmern vor Augen. Aber ... das kannst du gar nicht wissen.«
Lafsater-Koro-Soth stand plötzlich wieder neben Qumran-Fayed-Pogh. »... ist durch die Energiestärke gegeben: Hyperschockwellen vor Sextadim-Impuls«, vollendete er den Satz, wobei er die letzten Worte immer schneller hervorbrachte. »Habt ihr eben etwas Außergewöhnliches bemerkt?«, fügte er hastig hinzu.
»Du warst für eine kurze Zeitspanne verschwunden«, sagte Qumran.
Der Feststellung folgte betroffenes Schweigen. Nur das verhaltene Wispern von Taurecs Flüsterhemd war zu vernehmen.
»Rhodan hat Störungen ausgelöst«, kommentierte der Kosmokrat. »Das sind die ersten Auswirkungen, und es wird noch schlimmer kommen.«
Wie zur Bestätigung verschwand annähernd die halbe Zentralebesatzung.
Für Ras Tschubai war es schon nicht mehr überraschend, dass seine Umgebung in einer Implosion zusammenzustürzen schien und zu einem Punkt wurde, der sich sofort wieder zur gewohnten Perspektive weitete.
»Wie lange war ich weg?«, wollte der Teleporter wissen.
»Knapp eine Minute«, antwortete Taurec.
»Für mich ist überhaupt keine Zeit vergangen – gefühlt jedenfalls.«
Der Kosmokrat verzog die Mundwinkel zu einem eher widerwilligen Lächeln. »Ihr alle habt diese Minute übersprungen. Betrachten wir das Phänomen als kleine Kostprobe auf die Verhältnisse in der Negasphäre.«
Der Witz, falls Taurecs letzte Bemerkung überhaupt scherzhaft gemeint war, kam nicht an. Es klang wie eine Anspielung darauf, dass dieser Bereich des Universums durch Perry Rhodans Manipulation zu einer Negasphäre werden konnte.
Überall in der BASIS verschwanden Besatzungsmitglieder. Für sie selbst verging dabei keine Zeit, sie übersprangen die Spanne einfach, in der sie für die anderen als verschwunden galten.
»Die Lage ist ernst«, kommentierte Geoffry Waringer das Geschehen. »Du bist uns eine Nasenlänge voraus, Taurec. Was können wir tun, um uns gegen das Zeitsprung-Phänomen zu schützen?«
»Nichts.« Der Kosmokrat zeigte weiterhin sein eigentümliches Lächeln. »Ich kann euch keinen Rat geben, weil ich keine Lösung für das Problem sehe.«
»Du weißt jedenfalls mehr als wir«, sagte Waringer fast anklagend. »Warum hältst du die Information zurück?«
»Mein Wissen ist für niemanden von Nutzen. Es befriedigt höchstens die Neugierde.«
»Dann befriedige unsere Neugierde!«, verlangte Waringer – und löste sich scheinbar in nichts auf.
Taurec wartete, bis der Wissenschaftliche Chef der BASIS wieder erschien, dann sagte er: »Du warst achtundfünfzig Sekunden weg, Geoffry. Beim nächsten Mal wirst du vermutlich einen größeren Zeitsprung machen. Und jeder folgende Zeitsprung wird länger andauern als der vorangegangene. Die Werte kann die Hamiller-Tube hochrechnen.«
»Weiter!«, drängte Waringer. »Du glaubst also, dass das Phänomen durch Perrys eigenmächtige Aktivierung hervorgerufen wurde. Es wird durch die langsame Lösung des porleytischen Ankers verursacht. So weit richtig?«
»Das ist zutreffend«, bestätigte Taurec. »Rhodan hat durch seinen Alleingang eine ungezielte Ankerlösung am Frostrubin bewirkt. Das hat Störungen in den Informationspools des psionischen Feldes zur Folge. Die Schockwellen tragen diese Fehlinformationen des gestörten Schöpfungsprogramms in sich. Da der Auslöser von hier kam, von EDEN II und der BASIS, stehen wir im Fokus der psionischen Fehlimpulse. Die BASIS bekommt die negativen Auswirkungen am stärksten zu spüren.«
»Demnach bleibt die übrige Mächtigkeitsballung verschont?«, fragte Waringer hoffnungsvoll.
»Das ist unwahrscheinlich«, antwortete Taurec. »Von hier werden die Schockwellen über alle Chronofossilien weitergegeben. Es ist nur zu hoffen, dass die Phänomene in der Milchstraße und in Andromeda nicht so stark zum Tragen kommen.«
»Kann die unkontrollierte Lösung des Ankers darüber hinaus Auswirkungen haben?«
»Was wir erleben ist eine Störung des Informationspools Zeit«, sagte Taurec. »Es ist unwahrscheinlich, dass eine Störung dieses Ausmaßes nicht auch auf andere Informationspools übergreift.«
»Und wie lange werden die negativen Auswirkungen anhalten? Wann wird die Störung behoben sein?«
»Erst wenn der Anker des Frostrubins endgültig und richtig gelöst ist. Mit anderen Worten, bis Perry Rhodan und ES die Aktivierung gemeinsam vornehmen.«
Waringer stockte der Atem. ES hatte sich in einen sechsmonatigen Heilschlaf zurückgezogen. Und Rhodan war verschwunden.
»Wir können nicht warten«, platzte Waringer heraus. »Wir müssen mit der BASIS nach Perry suchen. Oder in die Milchstraße aufbrechen und die Galaktiker warnen ... Jedenfalls müssen wir handeln. Du, Taurec, könntest mit der SYZZEL in den Frostrubin eindringen und versuchen, die Fehlerquelle in den Informationspools zu lokalisieren und ...«
Waringer verschwand. Diesmal dauerte es 73 Sekunden, bis er wieder auftauchte und weitersprach.
»... zu eliminieren. Es müsste dir gelingen, entsprechende Korrekturen und die Feinjustierung der Hyperschockwellen vorzunehmen ...« Er verstummte, weil Taurec das Gesicht verzog.
»Die BASIS steckt fest«, sagte der Kosmokrat bedauernd. »Du hast das Problem nicht konsequent überdacht. Stell dir vor, das Schiff startet, während du einen Zeitsprung vollziehst. Du würdest nach einer Minute oder länger am selben Ort wieder erscheinen, aber dann wäre die BASIS nicht mehr da.«
»Du könntest mit der SYZZEL ...« Waringer verstummte, denn Taurec war verschwunden.
Der Kosmokrat erschien erst wieder nach über einer Minute.
»Vishna und ich sind von dem Phänomen ebenso betroffen wie ihr«, sagte er. »Abgesehen davon denke ich nicht daran, in den Frostrubin vorzudringen. Alles, was ich tun könnte, wäre nur Flickwerk. Und ich will nicht noch mehr verpfuschen, als Rhodan es schon getan hat.«
»Wir müssen also sechs Monate warten?«
»Mag sein, oder auch nicht. Die Zeitsprünge werden uns die Wartezeit verkürzen.«
Waringer wandte sich deprimiert ab, er hatte sich nie so hilflos gefühlt.
EDEN II war mit den universellen psionischen Kraftfeldlinien verbunden, entlang derer die Virenschiffe flogen und deren sich auch Stalkers Schiff zur Fortbewegung bediente. In diesem Netz, eingebettet in den Hyperraum, war die BASIS aufgegangen und so nach EDEN II gelangt. Sie war nun auch darin gefangen.
Diese Überlegungen gingen Waringer durch den Kopf, als er sich, nach einem Zeitsprung von eineinhalb Minuten, an die Hamiller-Tube wandte.
»Ich fürchte, Taurec hat Ihnen etwas verschwiegen, Sir«, antwortete Hamiller. »Mit großer Wahrscheinlichkeit ist es nicht einmal mittels der Absoluten Bewegung möglich, unseren Standort zu verlassen.«
Es war kein Trost, dass auch die Kosmokraten mit der SYZZEL festsaßen. Damit schwand Waringers letzter Hoffnungsschimmer.