23. Zeitflecken und Raumschimmel
Am 8. April 429 NGZ, um 15.00 Uhr Terrania-Ortszeit wurde der Frostrubin wieder aktiv. Die Meldungen über die spontanen hyperenergetischen Aktivitäten des psionischen Feldes TRIICLE-9 trafen aus allen Teilen der Milchstraße ein. In der Folge bestätigten Berichte aus Andromeda, Magellan und von der Hundertsonnenwelt die Vermutung, dass die Hyperschockwellen auf die gesamte Lokale Gruppe ausstrahlten.
Die Verantwortlichen auf Terra, allen voran Perry Rhodans persönliche Freunde, reagierten zuerst mit großer Erleichterung. Kurz zuvor hatte Gesil, die wie aus dem Nichts auf der Erde erschienen war, von den Schwierigkeiten bei der Aktivierung des Chronofossils EDEN II berichtet.
Nun war der Frostrubin wieder aktiv. An seinem Standort, 30 Millionen Lichtjahre von der Milchstraße entfernt, entstanden starke Hyperschockwellen jener Art, wie sie schon bei der Aktivierung der anderen Chronofossilien entstanden waren. Perry Rhodan schien es demnach gelungen zu sein, EDEN II ohne die Unterstützung von ES zu aktivieren.
Homer G. Adams, Galbraith Deighton und Julian Tifflor freuten sich indes zu früh. Mit einiger Verzögerung stellte sich heraus, dass die Schockwellen geringe Abweichungen zu den früher ermittelten Werten aufwiesen. Diese minimalen Störfaktoren im universellen Schöpfungsprogramm des psionischen Feldes lösten eine Reihe unliebsamer Phänomene in der Mächtigkeitsballung von ES aus.
Stalker, der Handelsbevollmächtigte der Superintelligenz ESTARTU, machte als Erster darauf aufmerksam. Er hatte mit den empfindlichen Geräten seines Raumschiffs die Störfelder angemessen und sprach von sporadischen Erschütterungen des Raum-Zeit-Gefüges in der Milchstraße. Stalker richtete seine Warnung an Julian Tifflor, weil er eng mit dem Ersten Terraner zusammenarbeitete. Er nutzte die Gelegenheit auch, um gegen die Kosmokraten zu polemisieren: »Ich will keine falschen Behauptungen aufstellen, Tiff, mein Freund. Aber sag selbst, sieht das nicht nach einer Strafaktion der Ordnungsmächte aus?«
Skorsh, Stalkers Animateur, goss zudem Öl ins Feuer. »Sobald Sklaven der Kosmokraten aufbegehren, werden sie mit Nachdruck zum Schweigen gebracht«, zeterte der Gnom, der wie ein abgemagerter kleiner Zwilling Stalkers aussah.
Dies war einer der Gründe, warum Tifflor die Warnung nicht ausreichend ernst nahm. Andererseits hätte der Erste Terraner ohnehin nichts ändern können. Niemandem wäre das möglich gewesen.
Lester Margue hatte ein eigenwilliges Hobby, dem er in letzter Zeit kaum mehr frönte. Um genau zu sein: Er hatte schon vor einem Jahr auf Anraten seines Psychiaters die Finger davon gelassen.
Nun hatte es ihn erneut gepackt. Erst zögernd, dann immer schneller und geschickter, hatte er das raffinierte System der miteinander gekoppelten Holokameras wieder aufgebaut. Danach war es für ihn geradezu eine rituelle Handlung, den Auslöser zu drücken. Alle Spannung fiel von Lester ab, er war endlich wieder locker.
Er schenkte sich einen Drink ein und genoss ihn auf seine Weise, indem er sich im Schneidersitz in die Mitte des Wohnraums setzte und genüsslich schlürfte. Gelegentlich wandte er den Kopf zu einer der Kameras und zwinkerte dem Bildsensor zu. Danach suchte er die Hygienekabine auf und duschte ausgiebig. Geraume Zeit später kam sein Weg zum Kleiderschrank, das Anprobieren der Garderobe und, nachdem er diese Prozedur beinahe bis zum Exzess variiert hatte, der Gang in die Küche.
Lester Margue sah sich unheimlich gern beim Zubereiten der Speisen; er war zwar ein schlechter Koch, aber ein guter Darsteller. Kochen war ein wichtiger Bestandteil des narzisstischen Egodramas, wie der Psychiater seine Darstellungskunst genannt hatte.
Es gab keine Entgleisungen, keine abartigen Handlungen. Lester zeichnete nur den möglichen Tagesablauf eines einsamen Menschen auf und schuf sich mit dem dabei entstandenen Holorama einen Gesellschafter. Um einen anderen Partner bemühte er sich nie, nicht einmal um einen Roboter. Lester liebte sich selbst über alles, er kam mit keiner anderen Person zurecht.
Obwohl er sich besondere Mühe gab, wollte seine Inszenierung nicht klappen. Er war verkrampft und merkte, dass es diesmal anders war als früher. Zweimal erfasste ihn ein eigentümlicher Schwindel, als jäh seine Umgebung zu entschwinden schien. Sein Blickfeld zog sich zusammen, alles um ihn schrumpfte zu mikroskopischer Winzigkeit, geradezu bis ins Unsichtbare. Dann lief alles augenblicklich umgekehrt ab bis hin zur Normalität. Das ging so rasch, dass Lester im Moment des Geschehens geradezu hilflos war. Atemlos. Wie erstarrt. Das Erkennen und seine Angst stellten sich erst danach ein.
Er brach das Egodrama vorzeitig ab und ging zur zweiten Phase über. Die Projektion versetzte ihm einen Schock.
Während Lester sein Holorama beobachtete und sich in Stimmung brachte, sah er sich verschwinden. Es geschah zweimal, und das Seltsame war, dass die Störungen im Holo mit jenen Momenten übereinstimmten, in denen er die Verengung seines Blickfelds bemerkt hatte. Das eine Mal, während des Umkleidens, zeigte das Holo ihn volle zwei Minuten lang nicht. Beim zweiten Mal, in der Küche, setzte die Projektion sogar für dreieinhalb Minuten aus.
Lester Margue fand keine Erklärung dafür.
Später stellte sich heraus, dass an die 50 Personen des Wohnblocks ebenfalls von diesem Phänomen betroffen gewesen waren. Jeder von ihnen berichtete von einer Verengung des Blickwinkels, während andere über die Betroffenen aussagten, dass sie für eine gewisse Zeitspanne verschwunden gewesen seien.
Für dieses Phänomen bürgerte sich der Ausdruck Zeitflecken ein.
Charles Perlin und Christa Csarlon machten in einem kleinen Raumboot Urlaub im Asteroidengürtel. Sie waren Mitarbeiter der Hanse-Niederlassung Mars und hatten den Anschluss an die Vironauten verpasst. Sie trauerten der versäumten Gelegenheit jedoch nicht nach. Der Asteroidengürtel bot ihnen zwar nicht die unbekannte Ferne, aber wenigstens die Ruhe und Beschaulichkeit, die sie suchten.
Außerdem reizten sie beide die letzten Geheimnisse des ehemaligen fünften Planeten Zeut. Diese Gemeinsamkeit war die Basis ihrer Freundschaft.
Zeut war während des großen Krieges zwischen Halutern und Lemurern vor 50.000 Jahren vernichtet worden. Die Cappins hatten schon vor 200.000 Jahren einen Stützpunkt auf dem ehemaligen fünften Planeten zwischen Mars und Jupiter unterhalten und ihm den Namen Taimon gegeben. Bekannt war, dass es vor seiner Zerstörung auf Zeut große Vorkommen an PEW-Metall gegeben haben musste. Und genau dieser Umstand war ausschlaggebend für die Reise von Charly und Csarly, wie sie sich selbst nannten. Keineswegs zum ersten Mal suchten sie in den Planetenbruchstücken nach Resten von PEW-Metall, wenigstens nach Hinweisen darauf. Gegenseitig redeten sie sich ein, besondere Umstände könnten dazu beigetragen haben, dass zumindest geringe Mengen PEW-Metall die einstige Katastrophe überdauert haben müssten.
Christa Csarlon war ausgestiegen, um einen kleineren Asteroiden zu untersuchen. Es war ein schroffer, unregelmäßiger Brocken mit annähernd 100 Metern Länge. Sie war schon über eine Stunde damit beschäftigt, das trostlose Fragment Meter um Meter abzusuchen und die Ergebnisse an Charles Perlin durchzugeben, da passierte es.
Christa Csarlon hatte plötzlich den Eindruck, als ziehe sich der Asteroid zu einem mikroskopisch kleinen Gebilde zusammen und werde für die Dauer eines kaum messbaren Sekundenbruchteils von absoluter Schwärze verschluckt, bevor sich alles wieder ausdehnte.
Nur – der Asteroid war danach weg.
Csarly glaubte an eine optische Täuschung und blinzelte ungläubig, doch der Asteroid erschien nicht wieder. Augenblicke später stellte sie fest, dass auch das Raumboot verschwunden war. Die MÜCKE war nicht einmal mit dem Massetaster des Raumanzugs auszumachen. Der nächste Asteroid zog über 1400 Kilometer entfernt seine Bahn, und das an einer Position, an der es einen Felsbrocken dieser Größe gar nicht geben durfte. Erst nach einer Justierung auf Feinortung entdeckte Christa Csarlon die MÜCKE in geringer Entfernung zu diesem Asteroiden.
»Charly an Csarly«, erklang zugleich die Stimme des Freundes im Helmfunk. »Mädchen, melde dich!«
»Ich bin in Ordnung«, antwortete sie. »Aber kannst du mir erklären, wieso sich der Asteroid mitsamt unserem Boot in null Komma nichts um über tausendvierhundert Kilometer entfernt hat?«
»Ich hole dich ab«, sagte Charly statt einer Antwort.
»Nicht nötig, ich schaff das schon mit meinem Triebwerk«, entgegnete sie. »Sag mir lieber, was passiert ist.«
»Keine Ahnung«, gestand Charly. »Du warst plötzlich verschwunden. Und nun bist du nach über neunzig Sekunden an unserem ursprünglichen Standort aufgetaucht. Um genau zu sein: Du bist so weit von mir weg, wie der Asteroid auf seiner Umlaufbahn um die Sonne in dreiundneunzig Sekunden zurücklegt. Komm schnellstens her!. Es ist nämlich mehr vorgefallen – oder, besser gesagt, es gibt genügend Unerklärliches.«
Als Christa Csarlon an Bord der MÜCKE kam, zeigte Charly ihr durch das Panoramafenster, was er schon angedeutet hatte. Der Asteroid wies auf seiner Vorderseite einen hellen Fleck auf, dessen Wachstum mit dem bloßen Auge erkennbar war.
»Vorhin maß der Fleck nur eine Handspanne«, sagte Charles Perlin stirnrunzelnd. »Aber er war schon genau so hell und nebelig. Sieht wie Schimmelbelag aus, nicht wahr?«
»Und? Was ist es?«, fragte Csarly.
»Da bin ich überfordert. Das Ding hat keinerlei Emission, weder thermisch noch hyperenergetisch. Es ist so reaktionslos wie ... wie ein weißes Nichts.«
»Besser, wir lassen die Finger davon und machen Meldung«, sagte Csarly. Nach einer nachdenklichen Pause fügte sie hinzu: »Auch über den anderen Vorfall.«
Charles Perlin stimmte zu und gab eine entsprechende Meldung über Hyperfunk ab. Der Empfang seiner Meldung wurde lapidar bestätigt. Auf seine Rückfrage, warum der Entdeckung kein Gewicht beigemessen werde, kam die für ihn überraschende Antwort: »In welcher Welt lebt ihr eigentlich? Seit Tagen kommen aus der ganzen Galaxis Berichte über Zeitflecken und Raumschimmel. Es gibt Zeitspringer, die für eine Stunde weg waren. Der Raumschimmel hat auf Terra ganze Gebäude verschwinden lassen und gewaltige Löcher in die Oberfläche gefressen. Ihr solltet auf der Alarmfrequenz bleiben und alle Hyperschockwarnungen beachten.«
Über den Nachrichtenkanal erfuhren Charly und Csarly binnen kurzer Zeit, dass die von ihnen beobachteten Phänomene von den Hyperschockwellen des Frostrubins ausgelöst wurden. Auch, dass die Erscheinungen nach jeder weiteren Schockwelle verstärkt auftraten. Ein Vorwarnsystem sollte mittlerweile schon das Schlimmste verhindern.
Der Raumschimmel hatte auf Himmelskörpern ebenso wie im Leerraum identische Auswirkungen. Wenn er sich verflüchtigte, hatte er die befallene Materie völlig absorbiert, und im Weltraum ließ er absolute Leere zurück, in der sich kein einziges Atom mehr fand.
Die Zeitflecken wirkten sich unterschiedlich aus. Auf Planeten mit entsprechend großer Masse machten die Zeitspringer dessen Eigendrehung und Fortbewegung mit, sodass sie sich sogar nach einer Stunde an ihrem ursprünglichen Platz wiederfanden. Bei Objekten geringerer Masse, etwa an Bord von Raumschiffen, fanden sich die Betroffenen an dem Punkt wieder, an dem der Zeitsprung eingesetzt hatte, das Raumschiff mochte dann schon wer weiß wo sein.
»Was für ein Glück, dass ich nur einen Sprung von dreiundneunzig Sekunden hatte.« Christa Csarlon fröstelte sichtlich. »Dabei ... Weißt du, was ich für kurze Zeit glaubte?«
Charles Perlin nickte wissend. »Das ging mir genauso: Dass wir fündig geworden und auf irgendwie erhaltenes PEW-Metall gestoßen sind und eine Substanzreaktion ausgelöst haben.«
Sie blieben in Sichtweite des Asteroiden, um die Ausbreitung des Raumschimmels zu beobachten. Nach 40 Stunden war der Asteroid vollständig in das weiße, wallende Nichts gehüllt. Dieses löste sich danach sehr rasch auf, und von dem Asteroiden fehlte jede Spur.
»Wenn es mir gegeben wäre, könnte ich glatt weinen«, sagte Stalker beim Anblick des sich abzeichnenden Dramas. Er stand mit vorgerecktem, tief gesenktem Kopf da, die schmalen Schultern angehoben, die Arme mit den hoch angesetzten Gelenken nach vorn abgewinkelt. Sein ausdrucksstarkes Gesicht zeigte schmerzliche Trauer, während er über das antike Trümmerfeld blickte.
Einige der konservierten Mauerreste waren von einem weißen, nebeligen Schimmel befallen, der sich deutlich erkennbar ausbreitete.
»Übertreib nicht«, maulte Skorsh, der gelangweilt auf Stalkers linker Schulter lümmelte und mit seinem einen Meter langen Knorpelschwanz immer wieder gegen den Rückentornister schlug. »Du hast überhaupt keine Beziehung zu dem Steinhaufen.«
Julian Tifflor gab Skorsh insgeheim recht. Auch er fand, dass der Gesandte der Mächtigkeitsballung Estartu sich wie ein Schmierenkomödiant benahm – und das nicht zum ersten Mal.
»Sag das nicht, Skorsh!«, protestierte Stalker. »Troja ist die Geburtsstätte und das Grab der klassischen terranischen Helden. Ich fühle mich ihnen sehr verbunden. Die Ilias ist das Kriegstagebuch dieser Helden. Außerdem bin ich überzeugt, dass es in Troja eine Schule der Helden gab, ähnlich der Upanishad. Was meinst du, Tiff? Ist es nicht ein Jammer, dass der Raumschimmel Troja auffrisst?«
»Das schon.« Der Erste Terraner fand Stalker überaus anstrengend. Er hatte sich, in einem unerklärlichen Anfall von Leichtsinn, dem Gesandten der ESTARTU quasi als Fremdenführer angeboten, um ihm die Sehenswürdigkeiten der Erde zu zeigen – »die kleinen Wunder von Terra«, wie Stalker es prosaisch nannte.
Tifflor hatte diesen Entschluss längst bereut. Seit Wochen ließ sich Stalker von ihm kreuz und quer über den Erdball führen, um an geschichtsträchtigen Orten »Heldenluft« zu atmen. Diese Exkursionen wurden nur unterbrochen, wenn Tifflor seinen Regierungsgeschäften nachgehen musste oder wenn sich Stalker mit Vertretern der Kosmischen Hanse an den Verhandlungstisch setzte.
Als Hanse-Sprecher wohnte Tifflor ohnehin den meisten Verhandlungen bei. Stalker hatte sich als gerissener, zäher und kompromissloser Verhandlungspartner erwiesen, der stets durchsetzte, was er erreichen wollte. Machte er einmal Abstriche und Zugeständnisse, konnte man gewiss sein, dass er sich diese nicht abringen ließ, sondern schon von vornherein dazu bereit war. Im Gegenzug stellte er dann Forderungen, um die er wie ein Löwe kämpfte ... Allerdings kämpfte er nur noch mit diplomatischen Mitteln. Eine Entgleisung wie Ende Februar gegenüber Ronald Tekener hatte es kein zweites Mal gegeben. Stalker hatte sich in den letzten sechs Wochen nicht wieder dazu hinreißen lassen, seine Kampfgestalt hervorzukehren.
Darauf angesprochen, hatte er Tifflor erklärt: »Fehler sind dazu da, dass man aus ihnen lernt. Ich schäme mich zutiefst darüber, dass ich mich wegen einer Lappalie gehen ließ. Künftig habe ich mich in der Gewalt.«
Das konnte man auf zweierlei Weise auslegen. Dass Stalker seine natürlichen Aggressionen unterdrückte und gute Miene zu allem machte, was ihn reizte. Oder, dass er besonnener geworden war und sich besser auf die Mentalität der Terraner einstellte, im ehrlichen Bemühen, ihre Freundschaft zu gewinnen. Alle Anzeichen sprachen dafür, dass die zweite Möglichkeit zutraf.
»Ich möchte nicht mit ansehen müssen, wie Troja dem Raumschimmel zum Opfer fällt«, sagte Stalker. »Welche Sehenswürdigkeit kannst du mir als Nächstes anbieten, Tiff?«
Julian Tifflor seufzte. Er hatte dem Sotho schon die meisten modernen Monumente gezeigt, ebenso die wesentlichen antiken Stätten. Zu den Pyramiden von Gizeh war Stalker sofort eingefallen, dass in der Cheopspyramide Laires Auge versteckt gewesen war. Auf Kreta hatte er die minoische Ruinenstätte von Knossos als energetisches Tiefschlafdepot Demeters bezeichnet und sogar den wyngerisch-geschichtlichen Zusammenhang zu Laires Auge erklärt.
Stalker hatte das Sonnentor von Tiahuanaco besichtigt, hatte sich durch Macchu Picchu führen lassen, war beim Ammontempel von Karnak gewesen und in den Ruinen des Orakels zu Delphi. Er hatte die Freiheitsstatue von New York bewundert, das Atomium in Brüssel, den Kölner Dom, außerdem Naturwunder wie die Niagarafälle und die aufgelassenen Unterwasserfarmen des Bermudadreiecks. Stalker war darüber hinaus in allen bedeutenden Museen der Erde gewesen sowie an Kriegsschauplätzen, Kriegsdenkmälern und Heldenfriedhöfen, als wolle er den Geist der jeweiligen Zeit einatmen.
»Kriege ...«, sagte Stalker einmal versonnen. »Wie viele hat dieser Planet schon erlebt? Der letzte wurde gegen die Technos des Herrn der Elemente geführt. Nur wird es gewiss nicht der letzte gewesen sein ...«
Für Tifflor klang das beinahe wie eine Prophezeiung. Doch Stalker sah in dem Moment so unschuldig und verträumt aus wie ein Dichter, der an einem Heldenepos arbeitete.
Tifflor wollte keine weitere Sehenswürdigkeit einfallen, die für Stalker Neues bereitgehalten hätte. »Wie wär's mit Spitzbergen und Polarlichtern am Nachthimmel?«, bot er an.
Stalker winkte ab. »Das sind nur noch synthetische Wunder, mein Freund, die nicht mehr das Flair haben wie die reine Natur. Ich würde die Erde, das Solsystem, sogar die gesamte Milchstraße gern mit einem echten Wunder schmücken, einem, wie die Galaxien von ESTARTU sie bieten. Ja, so ein Wunder möchte ich den Galaktikern schenken. Aber vorher hätte ich ein Gipfelerlebnis nötig.«
Julian Tifflor glaubte zu verstehen. »Du willst zurück zu deinem Raumschiff?«
Die ESTARTU war, auf Stalkers Wunsch, am Gipfel des Mount Everest verankert, dem höchsten Berg der Erde.
»Ja, ich möchte ein Gipfelerlebnis«, bestätigte Stalker.
Sie kehrten den vom Raumschimmel befallenen Ruinen Trojas den Rücken und begaben sich zur nahen Transmitterstation. Vor nicht einmal einer halben Stunde war Hyperschockwarnung gegeben worden, sie mussten also mit einem verstärkten Auftreten von Phänomenen wie Raumschimmel und Zeitflecken rechnen. Zu solchen Zeiten waren die Transmitter das ungefährlichste Beförderungsmittel.
Bevor sie nach Terrania überwechseln konnten, geriet Skorsh in einen Zeitfleck und machte einen Zeitsprung von sieben Minuten. Er schimpfte daraufhin schlimmer als ein Springer unmittelbar vor der Pleite und klammerte sich ängstlich an Stalker.
In Terrania kam es zu einem noch längeren Aufenthalt. Einer von Tifflors Sekretären übergab dem Ersten Terraner einen Bericht, demzufolge am Gipfel des Mount Everest ungewöhnlich starke energetische Aktivitäten angemessen worden waren. Eigentlich war der Bericht nichts anderes als die Besorgnis, die Besatzung der ESTARTU könnte Veränderungen an diesem einmaligen Naturwunder und höchsten Bergmassiv der Erde vornehmen.
Tifflor sprach seinen Gast sofort darauf an.
»Falls sich meine Panisha Eigenmächtigkeiten erlaubt haben, werde ich sie zur Rechenschaft ziehen«, versicherte Stalker. »Ich werde Buße tun, Tiff, mein Freund. Mein Aufstieg zum Landeplatz der ESTARTU soll zu einem Bußgang werden. Ich besteige den Tschomolungma. Ja, das werde ich tun.«
Tschomolungma war die alt-nepalesische Bezeichnung für den Mount Everest, das war Tifflor bislang nicht bekannt gewesen. Dass er es ausgerechnet von Stalker erfahren hatte, wurmte ihn ein wenig.
»Ich rate dir davon ab!«, versuchte Tifflor den Sotho umzustimmen. »Wieso willst du überhaupt diese beschwerliche Tour auf dich nehmen?«
»Als Wiedergutmachung, falls meine Leute Schaden angerichtet haben«, erklärte Stalker mit unschuldigem Lächeln. »Haben nicht schon viele Terraner dieses Wagnis ohne moderne Hilfsmittel auf sich genommen? Na also, warum sollte ich es nicht schaffen? Ich brauche dieses Gipfelerlebnis, mein Freund, es würde mir guttun.«
Tifflor musste eingestehen, dass Stalker die körperlichen Voraussetzungen für einen solchen Aufstieg mitbrachte und jedem Terraner vielfach überlegen war. Warum also sollte er ihm dieses Unternehmen ausreden? Die Sache hatte schließlich für Tifflor selbst einen Vorteil: Auf diese Weise war er Stalker wenigstens für ein paar Tage los und konnte sich dringenderen Angelegenheiten zuwenden. Er hatte die Gespräche mit Pratt Montmanor über das zu bildende Galaktikum schon zu lange aufgeschoben.
Tifflor begleitete Stalker und Skorsh bis zur Transmitterstation, die dem Mount Everest am nächsten war, dann verabschiedete er sich von ihnen.
Das Treffen mit Pratt Montmanor und den GAVÖK-Vertretern fand im HQ Hanse statt und nicht in einem Sitzungssaal des LFT-Regierungszentrums. Das ergab eine gewisse symbolische Bedeutung, denn es ging auch darum, dass die Kosmische Hanse stärker in das zu gründende Galaktikum integriert werden sollte, als dies bislang bei der GAVÖK der Fall war. Allerdings kam es zu einer Anhäufung von Zwischenfällen, die ein zielstrebiges Arbeiten nahezu unmöglich machten.
Tifflor hielt die Eröffnungsrede in englischer Sprache, ohne nachher sagen zu können, warum er das tat. Zu allem Überfluss versagte die Übersetzung ins Interkosmo, die Zuhörer wurden mit dem schrillen Zirpen des Jülziish-Idioms gequält. Tifflor stolperte kurz darauf und riss Pratt Montmanor fast zu Boden, zumindest verpasste er dem Plophoser einige blaue Flecke.
Der Erste Terraner wusste da noch nicht, dass er Opfer eines weiteren Phänomens geworden war. Diese Art Kettenreaktion wurde bald als Klackton-Syndrom bezeichnet, nach dem berüchtigtsten terranischen Tollpatsch, der im 25. Jahrhundert gelebt hatte. Offiziell benannte man es nach Murphys Gesetz.
Die Galaktikum-Konferenz musste aufgrund der haarsträubenden Zwischenfälle jedenfalls vertagt werden.