25. Sheela
Mein Name ist Sheela Rogard. Ich bin 35 Jahre alt, geboren auf Terra, Grönland.
Keine Krankheiten. Keine besonderen Kennzeichen. Größe 1,72 Meter. Zurzeit habe ich mein Idealgewicht. Grün ist nicht meine echte Haarfarbe, aber das naturgegebene Braun steht mir nicht. Das Grün meiner Augen ist hingegen echt. Meine Mutter hat mich als kleines Mädchen deshalb Kätzchen genannt. Er auch ... Weiß nicht, wie er das herausbekommen hat, oder ob diese Übereinstimmung Zufall war. Ich habe das nie erfahren. Trotzdem war ich darauf versessen ... Nun denn, Schwamm drüber.
Meine Körpermaße gehören nicht hierher. Ich finde mich einigermaßen attraktiv, und an Angeboten hat es mir nie gemangelt. Nur wollte ich mich nicht binden und bin solo geblieben. Aufgrund meiner Unabhängigkeit habe ich zwar Karriere gemacht, nur gelebt habe ich nicht richtig.
Meine letzte Anstellung verlor ich durch die Sat-Technos. Ich war bis zu dieser Zeit bereits drei Jahre bei der »Elbush Novitätenverwertung« und Chefsekretärin von Aldo Elbush jun. Aldo hatte ein Gespür für absetzbaren Nonsens. Er bereiste die Milchstraße auf der Suche nach Patenten, die scheinbar für nichts nütze waren und die keiner haben wollte. Er kaufte sie billig ein, modifizierte sie ein wenig und brachte sie in ansprechender Form auf den Markt. Zuletzt war er in Verhandlungen mit Blues, die kinetische Objekte produzierten. Ich habe einige Prototypen gesehen: verrückt, zum Irrewerden. Aber wetten, dass die Dinger ein Knüller geworden wären. Alles, was Aldo anpackte, wurde zu Geld.
Wie dem auch gewesen wäre, die Sat-Technos machten uns einen dicken Strich durch die Rechnung. Dabei waren die Traummotten eigentlich gar nicht für den Ruin der Firma verantwortlich. Nach ihnen hätten wir den Betrieb schon wieder gepusht. Leider kam das Element der Finsternis, und als es wieder verschwand, war auch Aldo verschwunden. Seit damals gilt er als vermisst, nur ich bin überzeugt, dass das Element der Finsternis ihn mitgenommen hat. Ohne Aldo war »Elbush Novitäten«, nicht weiterzuführen. Ohne seine Phantasie, seinen Geschäftssinn und seine irrwitzige Genialität waren die Berge von Nonsens unverkäuflicher Ramsch. Unsere Lager waren zum Bersten gefüllt, die Finsternis hat nichts davon mitgenommen ... und sogar dem Raumschimmel war das Zeug später wohl zu geringwertig.
Jedenfalls mussten wir Konkurs anmelden. Ich wurde zur Masseverwalterin bestimmt, und das bin ich immer noch und sitze auf einem Berg unverwertbarer Kuriositäten. Das Zeug lässt sich nicht einmal verschieben, weil die Besitzverhältnisse nicht geklärt sind und es vermutlich nie werden. Einige der »Künstler« und »Erfinder« haben jedenfalls ihr Veto eingelegt und kämpfen erfolgreich dagegen an, dass ihre »Kunstwerke« dem Recycling zugeführt werden. Sie verhandeln mit Museen und Sammlern in der ganzen Galaxis, obwohl auch von denen keiner den künstlerischen Wert oder einen materiellen Nutzen dieser Novitäten anerkennen will.
Mir wurde es zu dumm, Verwalterin von ruhendem Lagergut zu sein, deshalb gab ich ein Stellengesuch auf. Unter den vielen Angeboten war eines vom Konsulat des Planeten Cptn. Hornex, Werbeslogan: »Wo Männer noch Männer sind«. Der Konsul Dr. Erasmus Espré Esperanto höchstpersönlich lud mich ein, bei ihm vorstellig zu werden. Als ich zu der Adresse in Terrania End-West kam, einem bunkerartigen Komplex mit 10.000 Büros, da wurde ich nur von einer Positronik empfangen, mit der ich indes schnell handelseinig wurde. Wer kann schon 100.000 Galax im Jahr ausschlagen, und das praktisch fürs Nichtstun?
Freilich, ich konnte nicht ahnen, was für eine ruhige Kugel ich schieben würde. Und, wie gesagt, 100.000 Galax sind ein Argument.
Ich bekam den hochtrabenden Titel eines Vizekonsuls und war alleinige Herrscherin über fünf Büroräume und einen Festsaal, der nie für irgendwelche Anlässe gebraucht wurde. Auch den Konsul bekam ich bis zu den Ereignissen, die alles ins Rollen brachten, nie zu Gesicht. Mein unmittelbarer Vorgesetzter war die Positronik; sie gab mir sämtliche benötigten Informationen und erklärte mir stets, was ich zu tun hätte.
Zuerst informierte ich mich über die Heimatwelt meiner generösen Brötchengeber. Wer hat schon einmal von Cptn. Hornex gehört?
Nun, dieser Cptn. Hornex lebte im 24. Jahrhundert und war Kommandant eines Explorers, der im Juni des Jahres 2349 im Kugelsternhaufen M 13 verschwand. Weder die Neu-Arkoniden noch deren Alt-Abkömmlinge, die Springer, wollten etwas über den Verbleib der EXE-414 wissen. Erst ein Jahrtausend später stellte sich heraus, dass die Springer den Explorer über dem dritten Planeten einer Sonne des Sol-Typs abgeschossen hatten. Die Überlebenden, Kapitän Wendelin Hornex und seine Mannschaft, hielten sich wacker gegen die Springer. Sie gründeten eine Kolonie, vermehrten sich und standen im permanenten Überlebenskampf gegen die lebensfeindliche Natur des Planeten sowie gegen die Springer, die oft Sklavenhändler nach Cptn. Hornex schickten. Die kampfgeschulten Hornexer standen bald hoch im Kurs. Irgendwie schafften sie es im Lauf der Zeit, von Sklaven zu Verbündeten der Springer zu werden, und obwohl sie von den Terranern abstammten, fühlten sie sich den Springern irgendwie verbunden. Die Zeit heilte alle Wunden, die Hornexer übernahmen das patriarchalische Sippentum der Springer, wurden sogar weitaus konsequentere Patriarchen als die Springer selbst. Irgendwann erhielt das Wendelin-System die Souveränität, aber die Hornexer dachten auch später nicht daran, engere Bande zu Terra zu knüpfen oder um Aufnahme in die GAVÖK zu ersuchen. Sie richteten erst vor etwa einem halben Jahr ihr Konsulat ein, das vermutlich nie von einem Hornexer betreten wurde, obwohl mit den Springerschiffen einige von ihnen ins Solsystem geschwemmt wurden.
Dem Vernehmen nach sollen einige Hornexer sogar Vironauten geworden sein. Warum eigentlich nicht? Apropos Vironauten: Als die Reste des Virenimperiums aus sich heraus die Virenschiffe bildeten, da erhielt ich von der Positronik den Auftrag, über Terravision eine Werbekampagne zu starten. Etwa nach dem Motto: Wenn ihr in die Tiefen des Weltraums zieht, um galaktische Wunder zu erleben, dann schaut bei der Wunderwelt Cptn. Hornex vorbei, wo Männer noch Männer sind. Und die interessierten Vironauten wurden aufgefordert, weiteres Informationsmaterial von unserem Konsulat zu ordern. Trotzdem kam keine einzige Anfrage. Mich wunderte es nicht, wem sagte schon der Name Cptn. Hornex etwas?
Die Positronik traktierte mich auch damit, Eingaben an LFT, Kosmische Hanse und GAVÖK zu machen. Und nicht nur das, ich musste praktisch alle galaktischen Regierungen und jeden Hinterwäldler-Planeten mit Souveränität kontaktieren und diplomatische Beziehungen anbieten.
Die Reaktionen darauf waren beachtlich, sogar die Haluter antworteten. Besser gesagt, ein einzelner Haluter, dessen Name ich vergessen habe. Er ließ mich wissen, dass er gern Cptn. Hornex einen Besuch abstatten wolle – anlässlich seiner nächsten Drangwäsche.
Es kamen auch seriöse Angebote. Sogar die Kosmische Hanse war nicht abgeneigt, Handelsbeziehungen aufzunehmen. Die GAVÖK wollte über eine Mitgliedschaft von Cptn. Hornex im neu zu gründenden Galaktikum verhandeln, und die LFT sandte regelmäßig Einladungen zu Sitzungen und Banketten.
Ich bin sicher, dass sich kaum jemand die Mühe machte, im Sternkatalog unter dem Stichwort »Cptn. Hornex« nachzuschlagen. Andererseits war dieser Name bald in allen Diplomaten-Datenbanken gespeichert.
So weit der Überblick über meine Arbeit im Konsulat. Sie gefiel mir durchaus, mal davon abgesehen, dass sie mitunter recht eintönig blieb, weil alle geknüpften Kontakte recht oberflächlicher Natur blieben und ich das Gefühl nie loswurde, dass ich an Luftschlössern mitbaute.
Das änderte sich erst, als ich endlich den Besuch eines Hornexers bekam und ich etwas später sogar Konsul Dr. Erasmus Espré Esperanto kennenlernte.
Diese Begegnung war nicht zuletzt deshalb so markant, weil sie mit einem anderen Ereignis zusammentraf: Ich wurde zum zweiten Mal von einem Zeitfleck erfasst. Das erste Mal war irgendwann im Juni gewesen, also einen Monat zuvor, als ich die 13.11-Uhr-Rohrbahn erwischen wollte, um rechtzeitig zu einem Rendezvous zu kommen. Ich machte da einen Zeitsprung von zehn Minuten, verpasste die Rohrbahn und wurde so vielleicht vor der Schließung eines Ehevertrags bewahrt.
Mir ging es noch gut. Immerhin kenne ich Leute, die wurden ein Dutzendmal von Zeitflecken erwischt. Und eine Freundin musste aus ihrem Appartement evakuiert werden, weil Raumschimmel sie beinahe im Schlaf überrascht hätte.
Ich blieb von den Frostrubin-Phänomenen, hervorgerufen durch Perry Rhodans Fehlaktivierung des letzten Chronofossils, also weitestgehend verschont, der Raumschimmel kam nicht einmal in die Nähe des Konsulats. Ich bekam auch Murphys Gesetz nur einmal zu spüren, weil ich, abgesehen von den offiziellen diplomatischen Empfängen, kaum in die Öffentlichkeit trat und sehr zurückgezogen lebte. Und Erasmus, ich meine Dr. Esperanto, schien dagegen immun zu sein. Ich hatte stets das Gefühl, dass er eine Art Aura um sich aufbaute, die alle Frostrubin-Phänomene von ihm und seiner Umgebung fernhielt. Nach allem, was ich nun weiß, könnte es sogar so gewesen sein ...
Ich glaube, ich habe ihn geliebt, egal, was man über ihn auch sagt. Ich ...
Ach, was soll ich mich herauszureden versuchen? Ich habe nichts zu beschönigen: Ich habe ihn wirklich geliebt!
Und egal, was die Mehrheit letztlich über mich denkt, ich bin der Überzeugung, er hat es verdient, geliebt zu werden.
Es war an dem Tag, als die Nachricht von der Vernichtung Lagers, der letzten Basis des Herrn der Elemente, durch die Galaxis ging. Sheela Rogard unterbrach ihre Arbeit, um sich den Holoreport anzusehen. Gerade als die entscheidende Schlacht der gemischten GAVÖK-Flotte gegen die gigantische Robotanlage begann, ertönte der Zugangsmelder.
Sheela schaltete unwillig die Außenüberwachung ein. Sie sah zwei Männer in strengen, eng anliegenden dunklen Kombinationen, wie nach Sheelas Meinung nur Leichenbestatter sie trugen. Ein Kampfroboter mit dem Emblem des terranischen Sicherheitsdiensts begleitete die beiden.
»Ja, bitte?«, fragte Sheela irritiert.
»Bitte öffnen!«, verlangte der Roboter; die Männer gaben sich unbeteiligt.
Sheela reagierte nicht sofort.
»Sicherheitsdienst!«, sagte der Robot mit Nachdruck. »Meine beiden Begleiter haben einen Durchsuchungsbefehl. Wenn nicht geöffnet wird, muss ich den Zugang erzwingen.«
»Langsam, langsam ...«, protestierte Sheela, die sich wieder gefasst hatte. »Dies ist das Konsulat von Cptn. Hornex, dritter Planet der Sonne Wendelin im Kugelsternhaufen M 13, somit das Hoheitsgebiet eines souveränen Planetenstaats ...«
»Bitte öffnen!« Der Roboter ließ sie nicht ausreden. Er hielt plötzlich eine Blind-Card zwischen den stählernen Fingern, mit der sich jede Art von genormten Schlössern öffnen ließ.
»Ich beuge mich der Gewalt«, sagte Sheela und betätigte den Türöffner. Sie sah ein, dass der Roboter sich auf keine Diskussion einlassen würde. Darum kamen Staatsdiener immer in Begleitung von Robotern, das war der Trick.
Sheela hatte die Empfangshalle noch nicht erreicht, da kamen ihr die beiden Beamten schon entgegen. Ihre Leichenbittermienen waren ausdruckslos wie zuvor, aber nun übernahmen sie die Initiative.
»Gerotas«, stellte sich der Größere vor; es klang wie eine Drohung. Er deutete auf den anderen: »Mandrill. – Wir sind mit einer Routineüberprüfung beauftragt. Wir sollen feststellen, ob die politische Struktur von Hornex den galaktischen Menschenrechtsbestimmungen entspricht. Selbstverständlich kann uns die Einsicht in die Unterlagen verwehrt werden. Dann müssten wir leider das Konsulat schließen und alle Hornexer der Erde verweisen.«
»Das ist Erpressung«, sagte Sheela fassungslos. »Ich bin übrigens Terranerin. Und die Welt, deren Interessen hier vertreten werden, heißt Cptn. Hornex. «
Gerotas feixte. »Offiziersränge wurden längst abgeschafft. Eine Welt, die sich um gute Kontakte mit Terra bemüht, sollte da gleichziehen. Im Übrigen gilt auf Terra für ein Konsulat und deren Vertreter keine politische Immunität. Dies ist terranischer Boden, Sheela Rogard.«
»Ihr wisst ja einigermaßen Bescheid«, sagte Sheela verärgert. »Bestimmt kennt ihr auch die politische Landschaft von Cptn. Hornex. Warum also der Vorwand? Weshalb seid ihr hier?«
»Wir möchten Konsul Dr. Esperanto sprechen.«
»Das würde ich ebenso gern wie ihr. Aber er ist bislang nicht eingetroffen. Vermutlich sind die Frostrubin-Phänomene daran schuld. Ich bin die einzige Mitarbeiterin.«
»Dürfen wir das überprüfen?«, fragte Mandrill und begann mit der Durchsuchung der Räumlichkeiten, ohne auf Sheelas Zustimmung zu warten.
»Beantworte mir inzwischen einige Fragen, Bürgerin Rogard«, verlangte Gerotas. »Uns interessiert vor allem, welche diplomatischen Beziehungen bislang von diesem Konsulat aus geknüpft wurden. Weiter wollen wir wissen, wie der Parteienverkehr aussieht. Welche Leute gehen hier ein und aus? Kannst du Personen nennen, die dir auf irgendeine Weise verdächtig erscheinen?«
Sheela konnte nicht anders, sie musste lachen.
»Entschuldigung«, sagte sie dann unvermittelt. »Es ist zu komisch. Ich glaube nämlich, dass ich das einzige Lebewesen bin, das seinen Fuß in diese Räume gesetzt hat, seit sie angemietet wurden.«
»Wie ist das zu verstehen?«
Sheela erklärte in umständlicher Ausführlichkeit, dass sie mit der Positronik allein war und dass es so etwas wie Parteienverkehr nicht gab.
»Seltsam«, murmelte Gerotas, ohne zu erklären, warum er es seltsam fand. Er stellte weitere Fragen, die Sheela durchweg belanglos erschienen und nicht erkennen ließen, worum es den Sicherheitsbeamten eigentlich ging.
»Wo ist denn dein Kollege?«, wunderte sich Sheela nach einer halben Stunde.
Mandrill erschien gleich darauf wieder in ihrem Büro, Augenblicke später folgte auch der Roboter. Mandrill nickte seinem Kollegen zu und ging grußlos.
»Entschuldige die Störung«, sagte Gerotas endlich und zeigte sogar eine menschliche Regung: Er lächelte andeutungsweise. »In den nächsten Tagen wird eine offizielle Stellungnahme der LFT eintreffen.«
Eine solche Stellungnahme kam. Überdies waren die beiden Sicherheitsbeamten und der Roboter nach zwei Tagen wieder da.
»Was denn noch?«, fragte Sheela ungehalten. Sie hatte eben erst eine Einladung von Homer G. Adams für Konsul Dr. Esperanto bekommen, der gebeten wurde, an einer Hanse-Sitzung teilzunehmen. Die Positronik hatte sie bevollmächtigt, stellvertretend für den Konsul hinzugehen. Sie war entsprechend aufgeregt.
»Irgendwelche persönliche Kontakte in den letzten Tagen?«, erkundigte sich Gerotas freundlich. Sheela verneinte. Sie taute etwas auf und bot den Beamten Kaffee an, was beide dankend annahmen.
Der Roboter verschwand wiederum in einem der anderen Büroräume. Als Sheela es merkte, sagte Mandrill streng: »Unser Durchsuchungsbefehl hat weiterhin Gültigkeit. Bist du dir darüber im Klaren, dass dieses Konsulat kein Asylrecht hat? Du darfst niemandem politisches Asyl gewähren. Außerdem bist du verpflichtet, einen solchen Fall sofort zu melden.«
Sheela blickte zu Gerotas und fragte gestelzt: »Weiß er denn nicht, dass wir kein Gästehaus sind?«
»Er will dich nur über die Gesetzeslage aufklären«, antwortete Gerotas. »Es könnte einmal sein, dass jemand hier Zuflucht sucht ...«
»Wem sollte so etwas einfallen?«, rief Sheela und warf verzweifelt die Arme in die Luft. »Ihr seid die einzigen Besucher, seit meinem Dienstantritt. Und, fürwahr, ich könnte mir charmantere Besucher vorstellen.«
»Ich glaube, wir werden dich nicht weiter belästigen«, sagte Gerotas, nachdem er mit Mandrill einen Blick getauscht hatte. »Wir sind hier fertig.«
»Und ich stehe dumm da«, sagte Sheela. »Wollt ihr mich nicht endlich aufklären, was das alles soll?«
Gerotas zögerte, dann holte er tief Luft. »Es geht um den Leumund von Cptn. Hornex. Wirklich nur eine Routineüberprüfung, die einer eventuellen Aufnahme in das Galaktikum vorausgeht.«
Sheela glaubte ihm nicht. Nachdem die beiden und ihr Roboter abgezogen waren, hatte sie plötzlich einen Verdacht. Sie überprüfte die Positronik und stellte fest, dass an ihr manipuliert worden war. Eine eingehendere Kontrolle zeigte, dass alle Informationsspeicher abgerufen worden waren und den Spionen nicht einmal der konsulatseigene Code heilig gewesen war. Sheela kombinierte und kam zu dem Schluss, dass der Roboter sich die Positronik vorgenommen hatten, während die Männer sie ablenkten.
Nachdem ihre Empörung etwas verraucht war, fragte sie sich, was das alles sollte. Sie war kurz davor, sich an Galbraith Deighton persönlich zu wenden, um ihn auf die Methoden seines Sicherheitsapparats aufmerksam zu machen.
Als tags darauf wieder der Zugangsmelder ansprach, betätigte sie den Öffnungsmechanismus und sagte gleichzeitig über die Sprechanlage: »Gerotas, Mandrill und Roboter, immer herein mit euch. Gibt es tatsächlich noch etwas, das ihr nicht schon ausspioniert habt?«
Diesmal handelte es sich zu ihrer größten Überraschung nicht um die Sicherheitsbeamten, sondern um einen einzelnen Mann. Er sagte: »Ich bin Lofus Amiran Karifodus. Bürger und Angehöriger des Patriarchats von Cptn. Hornex. Ich brauche Unterstützung.«
Sheela war derart perplex, dass sie im ersten Moment keinen Ton hervorbrachte. Es kam zu überraschend, unvermittelt einen Hornexer zu sehen.
»Ich hatte ja keine Ahnung, dass es auf Terra eine Interessenvertretung meiner Heimatwelt gibt«, redete der Hornexer weiter, und die seltsam hohe Stimme wollte nicht so recht zu seiner Erscheinung passen. »Erst die terranischen Behörden verwiesen mich an das Konsulat. Darf ich eintreten?«
Karifodus war größer als zwei Meter. Ein Riese von einem Mann, in den Schultern breit und um die Mitte von einiger Fülle. Dennoch war ihm der overallähnliche Anzug um zwei Nummern zu groß.
Sein Schädel schien wie aus Granit gemeißelt mit den kalt und streng blickenden, dicht beieinanderliegenden Augen, der schmalen, scharfrückigen Nase und dem sehr breiten und volllippigen Mund, dessen Winkel nach unten gezogen waren. Er hatte eine blank polierte Glatze. Außerdem entstand sofort der Eindruck, dass alles Haupthaar, das keinen Weg durch die Schädeldecke fand, an seinen Augenbrauen wucherte.
»Eine Frau!«, kommentierte er bei Sheelas Anblick hörbar indigniert.
»Na und?«, konterte Sheela herausfordernd. »Du musst schon mit mir vorliebnehmen, Lofus Amiran. Ich bin die Einzige im Konsulat. Dr. Esperanto hat sein Amt bisher nicht angetreten.«
»Ausgerechnet«, sagte der Hornexer mit einem Seufzer. »Ich kann mich nicht an eine Frau um Unterstützung wenden.«
»Schalten wir einfach unsere Positronik dazwischen«, schlug Sheela spöttisch vor. Zu ihrer Überraschung war der Hornexer einverstanden und nahm Platz.
Seine Haltung mutete ein wenig verkrampft an, als Sheela die Positronik aufforderte, ihn situationsgemäß zu befragen.
Der Hornexer musste seine persönlichen Daten angeben. Er war 76 Cptn.-Hornex-Jahre alt, was ungefähr halb so vielen Terra-Jahren entsprach.
Dann wollte die Positronik wissen, wie er nach Terra gekommen war, was er auf der Hauptwelt der LFT wollte, und einiges mehr.
»Ich habe mich Patriarch Remus Corgam-Impetus anvertraut«, erzählte der Hornexer mit hörbar aufkommendem Zorn. »Ich gehörte der vierköpfigen Diplomatengruppe an. Wir glaubten dem Wort eines Springer-Patriarchen, dass er seine Beziehungen zur LFT-Regierung für uns einsetzen würde. Wir wollten Wirtschaftshilfe für Cptn. Hornex von Terra. Remus, dieser falsche Zeuk, behauptete, dass die LFT nie ein solches Ansuchen abschlägig behandelt habe. Er erwartete zwanzig Prozent Provision für seine Bemühungen. Als wir im Solsystem ankamen, begann gerade der Rummel mit den Virenschiffen. Remus ließ seine Sippe im Stich und setzte sich mit meinen Begleitern auf ein Virenschiff ab. Um ein Haar hätten sie mich überredet, ebenfalls zu einem Ehrlosen zu werden. Ich blieb aber standhaft.«
Lofus Amiran redete davon, dass er bei den Impetus für einige Zeit geduldet wurde. Als die Sippe jedoch mit dem Walzenraumer nach M 13 zurückkehrte, beschloss er, auf Terra zu bleiben, um sein ursprüngliches Vorhaben zu beenden.
»Leider glauben die dekadenten Terraner dem Wort eines Ehrenmanns nicht«, führte er weiter aus. »Da ich nicht im Besitz einer Regierungsvollmacht als Handelsdelegierter war, drehten sie mich durch die Mühle ihrer Verwaltung. Schließlich verwiesen mich die Bürokraten an dieses Konsulat.«
»Liegt dir denn überhaupt ein Regierungsauftrag vor?«, fragte die Positronik.
»Ich bin eine geachtete Person«, antwortete der Hornexer. »Ich kann mich jederzeit ohne Auftrag für das Wohl meiner Heimatwelt einsetzen.«
Gib ruhig zu, dass du dich persönlich bereichern wolltest, dachte Sheela leicht amüsiert.
Auf die Frage, was Lofus Amiran nun erwarte, antwortete er: »Die Unterstützung des Konsuls bei meiner Mission. Vorerst würde ich mich sogar mit einer kleinen finanziellen Zuwendung begnügen.«
»Du bekommst aus der Staatskasse einen einmaligen Zuschuss in Höhe von fünfhundert Galax«, entschied die Positronik.
Sheela konnte sich über diese Großzügigkeit nur wundern. Lofus Amiran war schlicht und einfach ein kleiner Gauner, erhielt aber dennoch einen Wertchip über die genannte Summe. Der Hornexer nahm den Chip mit spitzen Fingern und einer Miene, die Todesverachtung ausdrückte, an sich.
Am nächsten Tag erschien er wieder und beantragte neuerlich einen Zuschuss in derselben Höhe. Die Positronik gewährte ihm einen zweiten Chip.
»Das war nicht klug«, tadelte Sheela den Rechner, kaum dass Lofus Amiran das Konsulat wieder verlassen hatte. »Auf diese Weise werden wir den nie los.«
Und so war es. Der Hornexer kam auch am dritten Tag, um sich 500 Galax abzuholen. Sheela konnte das nicht einmal unterbinden, denn die Positronik bestand auf der Auszahlung. Andererseits begann sie, sich an die Besuche zu gewöhnen und sogar darauf zu freuen, denn Lofus Amiran war der einzige Mensch, zu dem sie im Konsulat Kontakt hatte. Am vierten Tag fragte sie ihn unverblümt, ob er etwas von dem Geld, das ihm so leicht in den Schoß fiel, in sie investieren wolle.
Lofus Amiran führte Sheela an diesem Abend großzügig aus. Dabei kamen sie sich menschlich näher, und Sheela entdeckte, dass sich unter der rauen Schale des Hornexers ein fühlender Mensch versteckte.
Am nächsten Tag konnte sie es kaum erwarten, dass Lofus, wie sie ihn nun nannte, zur Tür hereinkam. Doch er tauchte nicht auf. Er kam nicht zur gewohnten Zeit und auch später nicht. Um der quälenden Frage zu entgehen, was sie im Umgang mit dem Hornexer falsch gemacht hatte, schlug Sheela die Zeit tot, indem sie sich wieder als Masseverwalterin der Elbush Novitäten betätigte.
Um auf andere Gedanken zu kommen, machte sie Inventur. Dabei stellte sie fest, dass einiges aus den Beständen der Elbush Novitäten fehlte.
Eigentlich waren es nur Kleinigkeiten, nämlich ein Illu-Masken-Set, komplett mit Biomolplast und dazugehörigem Haarersatz, Haarwuchsmittel und Farbpigmenten, ausreichend, um damit das Aussehen eines beliebigen Galaktikers annehmen zu können. Außerdem ein Ertruser-Freizeit-Overall, körperelastisch, in Silber, und mit einem Dutzend Juxtaschen versehen, die eine Reihe von Überraschungen enthielten, mit denen man Freunde und Feinde verblüffen konnte ...
Sheela dachte sofort an Lofus. Im Nachhinein erschien es ihr, dass er etwas Maskenhaftes an sich gehabt hatte. Außerdem hatte er einen viel zu großen silbernen Overall getragen. Doch abgesehen von diesen kleinen Übereinstimmungen sah sie keinen Zusammenhang. Wer sollte ins Lager von Elbush eindringen, nur um ihr einen Streich zu spielen und sich als Hornexer auszugeben? Wozu?
Sheela überlegte, ob sie Gerotas und Mandrill verständigen sollte, entschied sich aber dagegen. Sie wollte Lofus erst Gelegenheit zur Rechtfertigung geben. Vor allem wollte sie der Sache auf eigene Faust nachgehen; sie sah darin eine gewisse Abwechslung.
Vom Entdeckungsfieber gepackt, prüfte Sheela alle verfügbaren Unterlagen, die sie über ihren Fernzugriff bekommen konnte, und machte eine weitere verblüffende Entdeckung: Jemand musste sich im Lager von Elbush eingenistet haben. Der deutlich erhöhte Energieverbrauch ließ keinen anderen Schluss zu.
Sheela nahm sich vor, am Abend vom Konsulat zum Elbush-Lager zu gehen – es war nicht weit dorthin, nur drei Komplexe weiter – und nach dem Rechten zu sehen. Doch daraus wurde nichts. Lofus erwartete sie in der Auffanghalle des Bürohauses.
»Tut mir leid, die Kasse ist schon geschlossen«, sagte sie, ohne seinen Gruß zu erwidern.
»Geld habe ich genug.« Lofus klang fast beleidigt. »Mir fehlt etwas anderes. Es ist nicht die Art eines Mannes von Cptn. Hornex, eine Frau um Hilfe zu bitten. Leider kenne ich sonst niemanden. Ich muss Terra verlassen.«
»Warum?« Mehr brachte Sheela nicht heraus. Sie hatte Gefallen an dem tollpatschigen Riesen gefunden, der stets krampfhaft bemüht war, seine Männlichkeit unter Beweis zu stellen.
»Das erfährst du später«, sagte er. »Ich brauche nur ein Ausreisedokument, das auf einen anderen Namen lautet. Der Konsulatsrechner könnte es mir ausstellen.«
»Du meinst – fälschen.«
»Warum lässt du die Positronik nicht entscheiden?«
Sheela kehrte mit Lofus nur widerstrebend ins Konsulat zurück. Nicht, dass sie ihm nicht hätte helfen wollen, sie wollte ihn nur nicht so schnell wieder verlieren. Aber die Positronik unterstützte sie nicht. Sie prägte eine Id-Karte, die Lofus' Daten enthielt, auf einen anderen Namen und bewilligte ihm zudem einen Kredit von 100.000 Galax. Das war Kapital genug, um bis ans andere Ende der Galaxis zu fliehen.
Die Frage blieb: Warum wollte Lofus fliehen?
Der Hornexer verbrachte die Nacht in Sheelas Appartement. Im Gästezimmer. Sheela selbst machte bis in den frühen Morgen kein Auge zu, allerdings gab Lofus kein Lebenszeichen von sich. Als sie um neun Uhr durch die Weckmelodie aus dem Erschöpfungsschlaf gerissen wurde, war Lofus längst schon weg.
Sheela duschte ausgiebig und kalt. Sie beschloss, erst einmal im Konsulat vorbeizuschauen, sich dann zwei Stunden frei zu nehmen und sich im Elbush-Lager umzusehen.
»Zack!«, kommentierte Sheela, als es sie erwischte. Da war es zugleich schon wieder vorbei, so schnell ging alles. Ihr Blickwinkel verengte sich zum Punkt und weitete sich sofort wieder, und dennoch, als sie auf die Uhr sah, war es zwei Stunden später.
Sie hatte einen Zeitsprung gemacht. Aber im Konsulat war mehr als das geschehen. Sheela sah sich einem Fremden gegenüber, der an der Positronik arbeitete. Als sie unvermittelt vor ihm erschien, sprang er auf, als fühlte er sich ertappt. Vielleicht glaubte der Fremde, dass Sheela eine Unbefugte war, die sich unrechtmäßig Zutritt verschafft hatte. Jedenfalls war er überrascht.
»Du hast mich erschreckt!«, sagte der Mann in zurechtweisendem Ton und verstand es, dabei sogar herablassend zu wirken.
»Danke gleichfalls«, erwiderte Sheela schlagfertig. »Was hast du hier eigentlich zu suchen? Ausgerechnet im Konsulat des souveränen Planetenstaates Cptn. Hornex.«
»Und ich bin Konsul Erasmus Espré Esperanto«, stellte sich der Fremde vor, der so gar nicht Sheelas Vorstellungen von einem Hornexer entsprach. Er hatte zwar gewisse körperliche Merkmale mit Lofus gemein, etwa die Größe, die Glatze und die eng beieinanderliegenden, stechenden Augen, ansonsten war er eher von schwächlicher Statur. Um nicht zu sagen, spindeldürr.
»Herrje, Ereses!«, entfuhr es Sheela; so hatte sie bei sich den Konsul bisher genannt, nach den Initialen seiner drei Namen. »Entschuldige, Dr. Esperanto, ich habe längst nicht mehr mit dir gerechnet.«
»Ich wurde aufgehalten«, sagte der Konsul, als erkläre das alles. Er deutete auf die Positronik. »Ich habe mich über den Stand der Dinge informiert. Viel ist während meiner Abwesenheit ja nicht geschehen. Kein Handelsabkommen mit der Kosmischen Hanse. Keine bindende Zusage der GAVÖK für eine Aufnahme ins Galaktikum. Dafür jede Menge Werbungskosten. Und Almosen.«
Er blickte auf und sah Sheela zurechtweisend aus seinen kleinen Augen an. »Wir sind kein Wohlfahrtsinstitut. Wir haben die wirtschaftlichen und politischen Interessen von Cptn. Hornex zu wahren. Schlimm genug, dass eine Frau auf der Gehaltsliste steht. Noch schlimmer, dass diese Frau keine gute Hand in Finanzangelegenheiten hat. Wo bleibt die angebliche weibliche Intuition? Wo die Diplomatie? Gibt es nicht ein terranisches Sprichwort, ungefähr so, dass hinter jeder blühenden Welt eine kluge Frau steht?«
Sheela hatte die Luft angehalten, nun platzte ihr der Kragen. Sie atmete tief ein, um ihrem Chef gehörig die Meinung zu sagen, doch er unterband ihren Gefühlsausbruch mit einer schneidenden Handbewegung.
»Ich hoffe trotzdem auf gute Zusammenarbeit«, sagte er versöhnlicher. »Du hast einiges in die Wege geleitet, und ich werde die gesponnenen Fäden aufnehmen. Es gibt viel zu tun für uns beide ... Da wäre allerdings eine Frage: Wurde das Konsulat öfter von Zeitflecken heimgesucht?«
»Für mich war es das erste Mal«, antwortete Sheela, deren Zorn wieder verflog. Vielleicht war der Konsul gar nicht so übel, abgesehen von seiner Patriarchen-Macke. »Zumindest geschah es das erste Mal während meiner Anwesenheit.«
»Hm«, machte der Konsul. »Ich will hier wohnen. Außerdem möchte ich, dass du deinen Nebenjob aufgibst. Zumindest solltest du ihn nicht während deiner Dienstzeit ausüben. Und keine Zugriffe mehr von hier. Wir dürfen mit dieser unseriösen Firma nicht in Verbindung gebracht werden, damit wir nicht in Verruf kommen. Schließlich sind wir das Aushängeschild von Cptn. Hornex auf Terra!«
»Aha«, machte Sheela. »Ich werde alles Nötige in die Wege leiten. Mir liegt sowieso nichts an dem anderen Job. Ich müsste mir nur freinehmen, um ...«
»Genehmigt«, fiel ihr der Konsul ins Wort. »Ich erwarte dich morgen pünktlich zum Dienst.«
»Danke!« Beim Hinausgehen merkte sie, dass sich der Mann plötzlich wie unter Schmerzen krümmte. Beinahe wäre sie ihm zu Hilfe geeilt, erinnerte sich aber rechtzeitig an den hornexischen Stolz und hielt sich zurück.
Irgendwie war ihr der Konsul unheimlich. Er hatte etwas an sich, das ihn unmenschlich im Sinne von nicht-humanoid erscheinen ließ. Sheela konnte sich aus irgendeinem Grund nicht vorstellen, dass ein Wesen wie er von Terranern abstammen sollte. Andererseits waren 1600 Jahre eine lange Zeit, in der es unter fremdartigen Umweltbedingungen schon zu starken Veränderungen des Erbguts kommen konnte.
Sheela beschloss, die wenigen Hundert Meter bis zum Lager von Elbush zu Fuß zurückzulegen; sie wollte nicht einmal das Laufband benutzen.
Zu ihrer Überraschung standen alle Bänder ohnehin still, und an der nächsten Kreuzung gab es einen größeren Menschenauflauf. Alle starrten zu einem Hochhaus hinauf, auf dem sich heller Raumschimmel ausbreitete. Ein halbes Dutzend Antigravscheiben mit Robotern, die Messungen vornahmen, umschwärmten den beachtlich großen Schimmelfleck. Auch die Straßenkreuzung war vom Schimmel befallen. Die Ordnungstrupps, Menschen und Roboter, schafften es nicht, die Gaffer auseinanderzutreiben.
»Ist ja nur Raumschimmel!«, rief jemand, und alle lachten.
Viele nahmen diese Gefahr nicht sehr ernst, weil sie sich jederzeit davor in Sicherheit bringen konnten. Auch an die Zeitflecken hatten die meisten Terraner sich schon gewöhnt. Wer noch nicht von diesem Phänomen betroffen war, sah dies fast als Benachteiligung an. Dass es bereits Todesopfer gegeben hatte, wurde schnell vergessen. Auch an die Mannschaft der vom Raumschimmel halb aufgelösten Raumstation, die beinahe im Vakuum umgekommen wäre, verschwendete man kaum einen Gedanken. Dafür wurden Anekdoten weitergegeben wie jene von dem untreuen Ehemann, dessen Geliebte im ungünstigsten Moment von einem Zeitfleck geholt worden war, und die erst nach eineinhalb Stunden erneut im ehelichen Bett aufgetaucht war – dummerweise als die Ehefrau wieder zu Hause war.
In der Menge kam es zum Tumult. Sheela merkte rasch, dass das Durcheinander Murphys Gesetz zuzuschreiben war. Da stellten sich die Leute auf einmal derart ungeschickt an, als gehorchten ihnen ihre Körper nicht.
Sheela machte kehrt und wählte einen Umweg zum Lager von Elbush.
Nach einer Weile merkte sie, dass sie sich verlaufen hatte. Schließlich wusste sie sich nicht mehr anders zu helfen, als einen Zivildiener um Unterstützung zu bitten. Diese Roboter waren seit drei Monaten verstärkt im Einsatz.
Sheela war völlig desorientiert, und nachdem der Roboter sie am Ziel abgesetzt hatte, stellte sie fest, dass sie das Etui mit ihrer Id-Karte verloren hatte, ohne die sie keinen Zugang zu den Lagerräumen bekam. In ihrer Verzweiflung war sie den Tränen nahe. Zum Glück kam wenige Minuten später der Zivildiener zurück und überreichte ihr das verlorene Etui, nachdem er ihre Identität überprüft hatte.
»Umhängen oder einschweißen!«, riet ihr der Roboter und ging davon, um anderen zu helfen.
Sheela betrat das Firmengelände durch den Chefeingang und begab sich, wieder zielstrebig, ins Hauptbüro. Als sie den Hauptrechner aktivierte, verwies sie dieser auf ihren persönlichen Memory-Speicher.
Es war also jemand im Büro gewesen. Aber warum sollte dieser Jemand – vermutlich der Dieb – ihr eine persönliche Nachricht hinterlassen haben? Sheela gab den Code für ihre Memory-Daten ein. Auf dem Monitor erschien eine geschriebene Nachricht.
»Shee, du weißt schon, von wem diese Zeilen stammen. Ich musste aus Gründen, die ich nicht nennen kann, untertauchen. Zu gegebener Zeit werde ich dir alles erklären. Verrate mich nicht. Ich melde mich wieder, wenn ich in Sicherheit bin. In Kameradschaft, dein Freund.«
Sekunden, nachdem Sheela diese Sätze gelesen hatte, wurden sie unwiderruflich gelöscht.
Es gab nur einen Menschen, der sie Shee genannt hatte: Aldo Elbush jun. Sheela sank zitternd in ihrem Sessel zusammen und kühlte ihre Stirn auf der Tischplatte. Wieso hatte Aldo sich ihr nicht anvertraut? Er hatte untertauchen müssen? Sie konnte sich kein Vergehen vorstellen, dessen Aldo sich schuldig machen könnte.
Im nächsten Augenblick straffte sie sich. Eigentlich gab es nur eines, was zählte: Aldo war nicht vom Element der Finsternis geholt worden. Er hatte die Finsternis vermutlich genutzt, um unterzutauchen.
Alles deutete darauf hin, dass Aldo sich bis zuletzt in den Lagerräumen verborgen hatte. Endlich glaubte Sheela zu wissen, was die Sicherheitsbeamten von ihr gewollt hatten.
Die Lager waren durch Infrarotspätortung geschützt. Das machte es möglich, sogar nach Tagen Bewegungsabläufe zu rekonstruieren.
Sheela machte erneut Inventur. Die Lagerbestände waren wieder komplett. Weder ein Illu-Masken-Set noch der ertrusische Freizeit-Overall fehlten. Sie justierte die Infrarot-Nachführung auf jene beiden Abteile, in denen diese beiden Artikel lagerten.
Sheela hielt den Atem an, als für sie sichtbar wurde, was vor mehreren Stunden geschehen war. Jemand, eigentlich nur ein menschenähnlicher Schemen, legte sowohl den Overall als auch das Illu-Masken-Set zurück. An dem Masken-Set hantierte er minutenlang herum. Eine starke thermische Einwirkung, die das Infrarot fast bis zur Unkenntlichkeit verwischte, verriet unverkennbar, dass der Unbekannte das Biomolplast vernichtete.
»Aldo«, murmelte Sheela im Selbstgespräch, »warum hast du dich mir in der Maske nicht anvertraut? Was immer dein Problem sein mag, wir hätten gemeinsam einen Ausweg gefunden.«
Ihr kam in den Sinn, dass Aldo in den Monaten seit der Aktivierung des Chronofossils Terra irgendwo gelebt haben musste. Sie eilte ins Chefzimmer. Bei oberflächlicher Betrachtung sah es recht ordentlich aus. Erst eine weitere Infrarotortung verriet, dass jemand ziemlich nachlässig aufgeräumt hatte. Überall gab es Hinweise auf Essensreste, Schweißspuren und Abnutzungen, die alle verrieten, dass hier bis vor Kurzem jemand logiert hatte.
Eigentlich das richtige Umfeld für die Reinigungsmäuse, die Aldo mal einem peniblen Reinlichkeitsfanatiker und Erfinder abgekauft hatte. Aber wo war Aldo?
Sheela zerbrach sich den Kopf wegen des erhöhten Energieverbrauchs. Etwas passte nicht zusammen. Jemand, der es sich in diesen Räumen gut gehen ließ, hätte während des vergangenen halben Jahres bestimmt zwanzigmal so viel Energie benötigt. Obwohl das nur eine Kleinigkeit war, kam Sheela nicht daran vorbei. Aldo konnte nur die letzten zehn oder vierzehn Tage im Büro verbracht haben. Wo mochte er vorher gewesen sein? Die Frage verursachte ihr eine weitgehend schlaflose Nacht.
Der nächste Tag ließ ihr keine Zeit zum Nachdenken.
»Ich werde morgen Abend zu dem Empfang der Kosmischen Hanse gehen und möchte, dass du mich begleitest«, eröffnete ihr Dr. Esperanto im Konsulat. »Es wird Zeit, dass wir diplomatische Beziehungen für Cptn. Hornex knüpfen. Ich rechne mit deiner Unterstützung ... Wie kann ich dich nennen?«
»Sheela wäre angemessen«, sagte sie. »Und welche Anrede wünschen sich der Herr Konsul?«
»Innerhalb dieser Räumlichkeiten darfst du mich mit dem Erstnamen anreden. In der Öffentlichkeit muss ich auf Einhaltung der Etikette bestehen.«
»Sehr wohl, Herr Konsul Dr. Esperanto«, kommentierte Sheela spitz und machte sich daran, die nötigen Formalitäten für die Teilnahme an dem Empfang im HQ Hanse zu erledigen.
Um die Mittagszeit kam der Konsul in ihr Büro. »Ich habe ein Problem«, sagte er fast gequält. »Mein Wissen über terranische Gepflogenheiten und die Mentalität der Terraner habe ich nur aus Standarddateien. Ich weiß, dass das nicht genügt. Kannst du mir Unterricht geben, Sheela?«
»Hat dich das die ganze Zeit über beschäftigt, Herr Konsul Dr. Esperanto?«
»Nein, das nicht ... Oder auf gewisse Weise doch. Nenn mich einfach Erasmus, zu allen Anlässen. Kannst du dir heute Abend für mich freinehmen?«
»Sobald ich die anstehende Arbeit erledigt habe, in zwei Stunden.«
Sheela verbrachte einen netten Tag mit dem Konsul, zumal er bemüht war, den Patriarchen in ihm im Zaum zu halten.
Erasmus Espré Esperanto wollte alles über das Leben in Terrania wissen. Besonders interessierten ihn die Auswirkungen nach dem Angriff der Traummotten des Herrn der Elemente. Ebenso die Veränderungen seit der Aktivierung des Chronofossils Terra.
»Das Leben geht einfach weiter«, antwortete Sheela. Erasmus gab sich nicht damit zufrieden, dass sie alles auf einen derart kleinen gemeinsamen Nenner bringen wollte.
»Das ist, als müsste man die Pointe eines Witzes erklären«, versuchte Sheela auszuweichen. »Die Aktivierung Terras hat letztlich dafür gesorgt, dass alle sich verstärkt als Galaktiker fühlen. Und was die Terraner betrifft, hat das Sternweh, das viele zu Vironauten machte, nur globale Auswirkungen.« Sheela machte eine Pause, wie um dem Gesagten zu lauschen. Sie lachte unvermittelt. »Tut mir leid, ich weiß zwar, was ich sagen will, aber ich kann mich nicht ausdrücken. Es ist eben so: Das Leben geht weiter. Wir Terraner sind es gewohnt, mit allen möglichen Plagen zu leben. Wir haben nicht einmal durch das Element der Finsternis einen Knacks abbekommen.«
Sie suchten ein Lokal auf, in dem Murphys Gesetz für chaotische Zustände gesorgt hatte. Als Sheela und der Konsul gegen den Strom der fliehenden Betroffenen das Lokal betraten, begannen sich die Zustände bereits wieder zu normalisieren.
»Jetzt ist wenigstens Platz«, sagte Sheela lachend. »Als hätten wir beide das Klackton-Syndrom ausgeschaltet.«
Zu dem Zeitpunkt dachte sie sich nichts dabei und schrieb alles dem Zufall zu.
»Seltsam«, sagte der Konsul, kaum dass sie an einem Tisch Platz genommen hatten. »Ich meine, alles erweckt fast den Eindruck, als könnte die Terraner nichts schrecken. Einzelschicksale zählen offenbar nicht.«
»Meinst du ...« Sheela stieß einen gurgelnden Schrei aus, weil der Konsul sich plötzlich zusammenkrümmte. Für sie entstand der Eindruck, als schrumpfe seine klapperdürre Gestalt zu einem knochenlosen, unförmigen Klumpen zusammen.
Erasmus entkrampfte sich sofort wieder.
»Ich habe ein Leiden«, presste er zwischen den verkümmerten Zähnen hervor. »Es ist unheilbar. Du darfst nicht erschrecken, Shee...« Er zuckte zusammen und verstummte.
Sheela wurde hellhörig, ohne sich sicher zu sein, ob er die Koseform ihres Namens bewusst gebrauchte oder nur mitten im Wort abgebrochen hatte.
»Erschrick nicht, Shee, falls du an mir eine vorübergehende Veränderung feststellst.«
Nun hatte sie Gewissheit, und eisiges Entsetzen griff nach ihr. Nur Aldo hatte diese Koseform ihres Namens gebraucht. Aber der Konsul konnte unmöglich Aldo sein. Aldo war korpulent, hatte gut den doppelten Körperumfang des Hornexers.
»Wie äußert sich diese Veränderung?«, fragte sie stockend.
»Geistig und körperlich«, antwortete Erasmus. »Es könnte durchaus sein, dass ich eine Metamorphose durchmache. Eine unheilbare Krankheit. Geistig macht sie sich durch ein Ticken bemerkbar, das manchmal unerträglich wird. Sei jedoch gewiss, Shee«, sagte er mit einer Wärme in der Stimme, die sie einem Hornexer nicht zugetraut hätte, und griff nach ihrer Hand, »dass ich derselbe bleibe. Du musst mir vertrauen, wie ich dir vertraue.«
Sein durchdringender Blick ließ sie erst recht frösteln. Andererseits fühlte sie sich zu ihm hingezogen, weil sie spürte, dass er ihr ein Geheimnis anvertraute, das er mit keinem anderen Menschen teilte.
Aber wie kam sie dazu, zur Vertrauten eines Unbekannten zu werden? Und wie kam dieser Fremde dazu, eine Koseform ihres Namens zu gebrauchen, die er unmöglich kennen konnte?
Wer war er? Sheela schwankte zwischen Faszination und Furcht.