Die Apotheke des Dominikaner-Klosters lag in einem Winkel des Kräutergartens direkt an der Mauer. Hier, in dem kleinen, etwas abseits gelegenen Steingebäude, unterwies Bruder Gernod Leon seit vier Jahren in Latein und weihte ihn nach und nach in die Geheimnisse der Pflanzenheilkunde ein. Immer in der Hoffnung, dass er zu gegebener Zeit in seine Fußstapfen treten würde. Meistens erfüllte ihn diese Erwartung mit Stolz, manchmal aber auch mit Zweifeln und Unbehagen. Heute war er nur dankbar dafür, dass er mit seinen Anliegen jederzeit bei Gernod hereinplatzen durfte.
Eilig strebte er auf das Gebäude zu.
Willibrod, bemerkte er, war dabei, mit der uralten Spatenkrücke, die nur noch zum Mistverteilen taugte, das Loch für den Rosenstrauch fertigzugraben. Eine Hundsarbeit. Ihr entsprach die Gewittermiene, die Leon davon abhielt, den Gärtner anzusprechen. Aber ohnehin duldete sein Anliegen keinen Aufschub. Rasch schlüpfte er in die Apotheke.
„Du kommst zu früh, ich unterrichte dich erst heute Nachmittag“, nuschelte Bruder Gernod. Mit einem Wink gab er Leon zu verstehen, dass er gleich wieder verschwinden sollte.
Auf dem Tisch lag ein Pergamentbogen ausgebreitet, auf dem der Apotheker wahrscheinlich gerade das Rezept für eine seine Kräutermixturen festhielt. Gernods Rezepte waren nicht nur in Stralsund gefragt. Bis nach Schweden und Russland schickte er sie samt der Kräutermischungen, wenn Anfragen aus fremden Klöstern eintrafen.
„Du musst mir zuhören! Es geht um Anna. Sie ist verletzt“, platzte Leon heraus und erzählte ohne Rücksicht auf die Beschäftigung des Gelehrten die ganze Geschichte von Ghotans Wahnsinn. „Du musst sofort nach Anna sehen“, drängte er am Ende. „Vielleicht ist ihr Arm gebrochen oder die Schulter.“
Gernod hatte ruhig zugehört, jetzt runzelte er die Stirn. „Hast du verstanden, was Ghotan gebrüllt hat?“
„Was?“, fragte Leon verblüfft.
„Hast du verstanden, was Ghotan gebrüllt hat, als er seinen Hammer schwang? Wenigstens ein Wort? Versuch dich zu erinnern“, forderte Gernod geduldig. Genau wie Willibrod war der Apotheker in den vier Jahren, die Leon im Kloster verbracht hatte, zu seinem väterlichen Freund und Beschützer geworden.
„Wen kümmert’s, was er gebrüllt hat. Das ist doch gleichgültig. Ghotan ist verrückt geworden. Aber Anna braucht deine Hilfe. Gernod, du musst sofort ...“ Leon verstummte, als die Tür zur Apotheke geöffnet wurde. Willibrod stapfte herein.
„Hab ich doch richtig gesehen. Du bist zurück. Wieso kommst du nicht gleich zu mir?“, brummte er. „Hast du den Spaten weggebracht? Und was hat der Schmied gesagt? Wann ist er fertig?“
„Vergiss den Spaten und setz dich“, sagte Gernod. „Es gibt etwas Ernsteres als ein zerbrochenes Werkzeug.“ Und dann wiederholte er für Willibrod von Leons Bericht über das Ereignis auf der Frankenstraße, was ihm wichtig erschien.
Nun wurde auch Willibrod nachdenklich. „Sieht Ghotan nicht ähnlich, sich so aufzuführen.“
Leon hätte gern widersprochen. Er hatte den Schmied schon immer finster, geradezu unheimlich gefunden. Wenn er sich einen Schläger und Knochenbrecher hätte vorstellen sollen, wäre ihm als einzigartig passendes Modell sofort der Teufelsschmied eingefallen.
„Das ist es ja. Ich habe Leon gefragt, ob er etwas von dem, was Ghotan herausbrüllte, verstanden hat“, erläuterte Gernod.
Beide Mönche sahen Leon auffordernd an.
„Ich ... ich“, stotterte Leon, „muss erst darüber nachdenken.“
„Tu das.“ Gernod nickte ihm zu.
„Und Anna?“, flehte Leon. „Was ist mit Anna?“
„Alles zu gegebener Zeit. Sie hat auf ihren eigenen Beinen nach Hause gehen können, nicht wahr?“
„Mit einem gebrochenen Arm kann man noch laufen“, stieß Leon empört hervor, „das weiß sogar ich.“
Willibrod hatte sich einen Stuhl herangezogen, sich aber noch nicht gesetzt. „Noch einmal, Leon: Was hat Ghotan gesagt? Erinnere dich. Du musst ihn gehört haben“, sagte er beschwörend.
Leon wollte wieder aufbegehren, so unsinnig kam ihm die Forderung vor. Was hatten die beiden bloß? Etwas, das er nicht begreifen konnte, beunruhigte sie. Nur widerwillig schob er die Sorge um Anna beiseite. Je rascher die Sache mit Ghotan durchgekaut war, desto eher kamen die Mönche auf das zurück, was ihm das Wichtigste war.
Angestrengt rief er sich das Ereignis ins Gedächtnis. Vergegenwärtigte sich das Gebrüll. Lauschte dem Klang einer grollenden, kreischenden Stimme. Einer fast nicht mehr menschlichen Stimme. Einer entsetzlichen Stimme. Und langsam, ganz langsam schälte sich ein Wort heraus.
„Geschmeiß, ich glaube er hat Geschmeiß geschrien. Er war ja kaum zu verstehen. Begreift ihr das? Er hat Geschmeiß gebrüllt. Irre, wenn ihr mich fragt. Geschmeiß – das sind Fliegen, oder nicht?“ Auf dem Misthaufen in einer Stallhofecke kreisten in der Sommersonne Wolken von Fliegen, grün schimmernde, fette Schmeißfliegen. Ekelhaft.
Gernod nickte, beide Mönche schauten ihn gelassen an, als hätten sie alle Zeit der Welt. Ihre Mienen zeigten nichts anderes als die in langen Jahren der Klosterdisziplin erlernte nie endende Geduld. Er dagegen hätte vor Angespanntheit aus der Haut fahren können.
„Weiter“, forderte Willibrod nachsichtig, aber unerbittlich.
Leon merkte, wie ihm der Schweiß ausbrach. Erinnere dich, forderte er sich selbst auf. Versenk dich in die Erinnerung. Vergiss alles andere. Da war doch noch was. Lass dich darauf ein, tiefer, konzentrierter. Schwindlig wurde ihm. Ein so verflixtes Nachgraben in seinem Gedächtnis und dazu unter Beobachtung war er nicht gewohnt. Das ging ja gar nicht. Das konnte nie was werden. Der Schweiß rann ihm in die Augen, kitzelte an der Schläfe. Unwillig wischte er ihn weg. Und dann hörte er etwas. Klarer als bei dem schrecklichen Ereignis selbst. Jetzt wurde die Stimme Ghotans auf einmal verständlich.
„Er hat Blutsauger geschrien und dass er sie alle erschlagen wollte.“
Niemand sagte etwas. Gernod hatte den Kopf schief geneigt, als lauschte auch er Ghotan, als würde er dessen furchtbare Verzweiflung hören, die Leon jetzt erst wahrnahm.
„Was kann er gemeint haben?“, fragte Leon unsicher.
„Etwas Gefährliches“, sagte Gernod besonnen. „Das hast du gut gemacht. Auf deine Ohren und Augen können wir uns immer verlassen.“ Schwerfällig stand er auf und langte nach dem Pergament. „Man hört und sieht oft mehr, als einem gleich bewusst ist. Nun kann ich mir ungefähr vorstellen, in welchem Zustand Ghotan war. Nicht mehr richtig bei sich. Er hat nicht gemerkt, was er getan hat“, fügte er mehr zu sich selbst als zu den anderen hinzu.
Gernod war etwa zehn Jahre älter und nicht so kräftig wie der Bruder Gärtner. Für seine profunden medizinischen Kenntnisse und seine Heilkunst war er berühmt. Aber er machte sich wenig aus dieser Berühmtheit.
„Ich muss zur Vogtei“, erklärte er und rollte das Blatt zusammen, „Witzlaf sprechen. Er sollte wissen, was sich ereignet hat.“
„Ich begleite dich, ich darf dich doch begleiten?“, erkundigte sich Leon erleichtert. „Du wirst dir Annas Arm anschauen, ja?“
„Natürlich wird er das“, meinte Willibrod beschwichtigend. „Was hast du mit dem Spaten gemacht?“, fuhr er überraschend fort.
„Mit dem Spaten?“ Leon hatte nicht einen Moment mehr daran gedacht.
„Auf der Straße liegengelassen, denke ich. Suche ihn und bring ihn in die Schmiede“, wies ihn Willibrod an.
„Aber der Schmied ...“, begann Leon fassungslos und schluckte. „Der Schmied ist gefangen gesetzt, das weißt du doch.“
„Ghotan hat einen Bruder, Reymar, und der dürfte in der Schmiede sein“, sagte Willibrod trocken. „Du hast nicht erzählt, dass Reymar sich am Wahnsinn seines Bruders beteiligt hat. Also kümmere dich um unseren Spaten.“
„Ja, tu das!“ Gernod hatte Pergament und Schreibzeug weggelegt. Jetzt trug er einige Arzneien zusammen. Leon erkannte Kampfer und eine Ringelblumensalbe, für die er selbst die Blüten gepflückt hatte.
„Ich weiß nicht, ob Annas Arm blutet.“ Bei dem Gedanken wurde ihm schlecht. Sicher konnte der Arm so verletzt worden sein, dass er blutete. Er hätte ihn sich zeigen lassen sollen.
Gernod war an einen Spint getreten und holte schmale Leinenbinden heraus. Verbandszeug. Der Apotheker schüttelte den Kopf. „Das ist für Ghotan, du hast gesagt, der Spaten hat ihm die Wange aufgerissen. Wahrscheinlich muss ich sogar die Wunde nähen.“ Aus einem Kästchen fischte er eine dünne Nadel.
„Du willst dich um Ghotan kümmern? Nachdem er um ein Haar Leute erschlagen hat?“, entrüstete sich Leon.
„Die christliche Nächstenliebe fragt nicht nach Schuld“, wies ihn Gernod unbeeindruckt zurecht. „Und übrigens, wenn du nach dem Spaten suchst, schau dich auch nach dem Schmiedehammer um. Wenn du ihn findest, bring ihn zurück. Reymar wird nicht gern auf ihn verzichten.“
Leon holte tief Luft, auf einmal überkam ihn eine grenzenlose Wut. Und Anna?, wollte er brüllen. Warum verschwendet ihr tausend Gedanken an einen Verbrecher und keinen einzigen an Anna?
„Annas Arm werde ich mir natürlich auch ansehen. Bist du nun zufrieden?“
Leon nickte, er brachte keinen Ton heraus.
„Dann geh jetzt und schau dich in der Schmiede um. Versuch, Reymar zum Sprechen zu bewegen. Vielleicht kannst du von ihm erfahren, was in seinem Bruder vorgegangen ist.“
„Ja“, Willibrod zwinkerte, „versuch etwas herauszufinden. Egal, wie du es anstellst.“
Leon seufzte. „Mach ich.“ Reymar mehr als zwei Worte hintereinander zu entlocken, hieß, ein Wunder zu wirken. Und ein Wunder hatte Leon noch nie zustande gebracht. Der Schmied Reymar war so gesprächig wie ein toter Hering.
„Oder besteht Gefahr für Leon?“ Willibrod runzelte die Stirn. „Was meinst du, Gernod? Können wir es wagen, ihn in die Schmiede zu schicken?“
„Ich denke schon“, antwortete Gernod. „Sei ein bisschen auf der Hut, Leon. Und rede nicht über das, was du uns erzählst hast. Nichts darüber, was du aus Ghotans Gebrüll herausgehört hast. Es ist sehr beruhigend, dass es kaum zu verstehen gewesen war. Behalt sein Geschrei für dich, ja?“
Leon nickte verwundert. „Aber mit Anna darf ich darüber reden?“
„Ich glaube“, Gernod schmunzelte, „das nicht einmal wir dich davon abhalten könnten.“