LORENA
»Du wirst das super machen«, versichert mir Joe nicht zum ersten Mal, während er mir meinen zweiten Kaffee des Tages zubereitet. Ich stehe an seinem Stand, lehne mich gegen eine Auslage und seufze tief.
»Noch fühle ich mich überfordert.«
Ich würde das vor keinem anderen Menschen zugeben. Aber Joe war schon immer eine Ausnahme. Er kennt mich, seitdem ich ein kleines Kind war, und hat sich immer für mich eingesetzt. Er hat einfach an mich geglaubt. Ich weiß nicht genau, woher dieser Glaube kommt oder was ihn ausgelöst hat. Aber irgendwann hat er einfach entschieden, dass ich es wert bin, angefeuert und mit positiven Worten überschüttet zu werden. Ich bin ihm unendlich dankbar dafür, und er wird wohl niemals vollkommen verstehen, wie viel mir seine Unterstützung bedeutet. Er hat mir den Zuspruch gegeben, den ich mir von meinen Eltern gewünscht, aber nie erhalten habe.
»Natürlich tust du das«, sagt er und zuckt mit den Schultern, als wäre es keine große Sache. Aber es fühlt sich wie eine verdammt große Sache an, dass mir das alles nicht so leichtfällt, wie ich gehofft hatte. »Das ist deine erste Woche. Du hast dich in der Theorie gut darauf vorbereitet, die Praxis sieht aber immer anders aus. Damit musst du erst noch zurechtkommen. Aber ich zweifle keine Sekunde daran, dass dir das gelingen wird.«
Ich zweifle. Sehr viel sogar. Aber als er mir meinen Kaffeebecher reicht und mir ein aufmunterndes Lächeln schenkt, zweifle ich sogar ein bisschen weniger.
Joe arbeitet seit Jahrzehnten im Kaufhaus. Er hat hier angefangen, als mein Großvater noch Geschäftsführer war. In jeder einzelnen Abteilung hat er gearbeitet. Aber in der Kulinarik ist er geblieben. Mehrere Beförderungen hat er ausgeschlagen. Er wollte keine Etage leiten und diese Verantwortung tragen, sondern entspannt seinen Job machen und dann wieder nach Hause gehen. Und inzwischen ist er so was wie eine Institution. Er gehört genauso zur Einrichtung des Kaufhaus Kronenberger wie der alte Flügel, der zehn Meter von ihm entfernt steht, und die geschwungenen Buchstaben, die an der Fassade hängen.
Ich will ihm gerade wieder widersprechen und ihm klarmachen, dass ich vielleicht doch nicht in der Lage bin, jede Hürde zu nehmen. Da erklingt mein Name, und ich drehe mich um.
Juli kommt mit zügigen Schritten auf mich zu, Isaac folgt ihr mit ein bisschen Abstand. Sobald sich unsere Blicke begegnen, bleibt mein Herz für einen Moment stehen. Das tut es jedes Mal. Auch nach zwei Jahren noch.
Nach der Trennung haben mir so viele Menschen versichert, dass ich bald über ihn hinwegkommen würde. Sie haben mir von ihren Erfahrungen erzählt und dass es bei ihnen nur ein paar Monate gedauert hat, bis sie wieder nach vorn schauen konnten. Sie wollten mich aufmuntern. Doch sie haben das Gefühl der Verzweiflung tief in meinem Inneren nur noch schlimmer gemacht. Denn dass ich nach mehreren Monaten immer noch genauso in ihn verliebt war wie zuvor, habe ich als Zeichen gesehen, dass ich in einer anderen Situation stecke als die anderen. Sie konnten über ihre Ex-Partner hinwegkommen. Dass ich es nicht kann, kann nur bedeuten, dass er der Eine für mich war. Oder?
Ich hoffe inständig, nicht. Aber nach fast zwei Jahren habe ich meine unerwiderte Liebe fast schon als Naturgesetz hingenommen. Sie existiert genauso unumstößlich wie Gravitation. Und ich werde sie wohl mein ganzes Leben lang genauso deutlich spüren wie die Kraft, die uns alle auf den Boden drückt und uns daran hindert, zu fliegen.
»Was machst du denn hier?« Obwohl ich Isaac noch liebe, freue ich mich, meine Schwester zu sehen. Ich begrüße sie mit einer festen Umarmung. »Müsstet ihr nicht längst wieder in Berlin sein? Was ist mit deiner Ausbildung?«
Isaac erreicht mich, und ich umarme ihn ebenfalls. Er riecht genauso wie früher, und kurz gestatte ich mir, in eine andere Zeit zurückzukehren, als er mich immer gehalten hat und ich mich in seinen Armen nicht mehr ganz so verloren gefühlt habe. Doch ich gestatte mir nicht, zu verweilen und die Umarmung zu verlängern. Das tue ich nie. Er ist jetzt mit Juli zusammen, und ich weiß auch, dass sich das nicht ändern wird. Und ich will mich nicht mehr quälen als nötig.
»Müsstest du nicht auch wieder an der Kunsthochschule sein?«, frage ich ihn leichthin, als würde seine Anwesenheit nicht noch immer reichen, um meine Herzfrequenz in die Höhe schießen zu lassen.
Nach der Trennung waren wir direkt wieder Freunde, weil kurz danach August gestorben ist, Isaac und Matt verletzt waren und wir einander gebraucht haben. Ich bin also eine Meisterin darin, meine Gefühle zu verstecken und zu überspielen. Und ich glaube, er ist ein Meister darin, sie nicht zu sehen. Für ihn war es auch leichter, so zu tun, als wäre zwischen uns alles in Ordnung.
»Eigentlich hätten wir gestern schon fahren sollen, aber Juli wollte bis zur letzten möglichen Sekunde warten«, erklärt Isaac.
Als sie gerade frisch zusammen waren, haben sie in meiner Anwesenheit sehr viel Rücksicht genommen. Aber inzwischen sind sie schon seit zehn Monaten ein Paar, und es wäre albern, wenn sie sich in meiner Anwesenheit nicht berühren würden. Ich habe Juli mit einer Überzeugung, für die ich einen Oscar verliehen bekommen sollte, versichert, dass ich zu hundert Prozent über Isaac hinweg bin. Seitdem legt er auch mal seinen Arm um sie. So auch jetzt. Und obwohl ich es nicht will, zucken meine Augen immer wieder zu seiner Hand, die an ihrer Taille liegt.
Die beiden sind vor drei Monaten nach Berlin gezogen. Deswegen gehe ich nicht mehr jeden Tag mit Isaac Mittag essen, und das ist besser. Aber ich will, dass ich bei seinem Anblick einfach nichts mehr fühle außer freundschaftliche Zuneigung. Vermutlich kann ich darauf lange warten.
»Wir fahren heute Abend«, verteidigt sich Juli. »Dann bist du morgen pünktlich in deiner ersten Veranstaltung und ich bei der Arbeit.«
»Wir fahren heute Nacht«, korrigiert er. »Und wir werden pünktlich da sein, aber vermutlich nur mit drei Stunden Schlaf.«
Juli grinst nur und zuckt mit den Schultern.
»Und was macht ihr hier?«, frage ich, damit die beiden sich nicht mehr so süß angucken, sondern ihre Aufmerksamkeit wieder auf mich richten.
»Wir wollten dir bei der Arbeit einen Besuch abstatten. Julis WG kommt noch vorbei, und wir trinken alle zusammen einen Kaffee«, erklärt Isaac. »Juli will den Abschied feiern, als würde sie nicht bei der nächsten Gelegenheit, die sich ihr bietet, wieder in einen Zug steigen, um nach München zu fahren.«
Sie schlägt ihm gegen den Oberarm. »Das stimmt gar nicht.«
»Es stimmt schon«, erwidere ich. Juli wirft mir einen bösen Blick zu. »Ich beschwere mich nicht. Ich finde es schön, dich zu sehen.« Ich bin froh, dass ich wenigstens darüber nicht lügen muss.
»Da sind sie ja«, meint Isaac. Liv, Ava, Hanna und Jakob kommen gerade die Rolltreppe hoch. Mein Blick bleibt ganz automatisch an Hanna hängen. Sie ist wirklich hübsch. Sie hat dunkles Haar, das sie offen trägt. Ihr Pony hängt ihr ein bisschen in die Augen. Ihre Lippen sind sehr voll und ihre Wangen definiert. Das habe ich an anderen Frauen immer beneidet. Ich habe eher ein rundes und etwas pausbäckiges Gesicht. Dabei wollte ich doch immer hohe Wangenknochen.
»Hey, Milo«, sagt Juli an meiner rechten Schulter vorbei, und ich verkrampfe mich ganz automatisch. Unser Streit im Lagerraum ist nur wenige Tage her, und seitdem haben wir uns gemieden, als hätte der andere eine ansteckende Krankheit. Das war besser so. Eine weitere Auseinandersetzung wollte ich mir sparen. Ich fühle mich so schon beschissen genug, weil ich wie ein verzogenes reiches Mädchen rübergekommen bin. Das bin ich vermutlich auch. Aber das bedeutet nicht, dass ich das auch gern einsehe.
»Hey, solltest du nicht schon längst in Berlin sein?«, fragt er, und sie verdreht die Augen.
»Will mich jeder loswerden? Wieso fragen mich das alle?«
Niemand beantwortet ihr diese Frage. Wir grinsen einfach. Milo und ich sehen uns kurz an, und seine aufrichtige gute Laune fällt ihm einfach aus dem Gesicht. Diese Wirkung habe ich also auf andere Menschen. Gut, zu wissen.
»Wie gefällt es dir im Kaufhaus?« Juli scheint der Umschwung der Stimmung gar nicht aufgefallen zu sein. »Lorena ist bestimmt die beste Chefin, die man sich wünschen kann.«
Ich verkrampfe mich, während ich auf seine Antwort warte.
»Das stimmt«, sagt Milo zu meiner Überraschung, und ich drehe mich wieder zu ihm um. Er sieht mich aber nicht an, sondern fixiert Juli. Er wirkt angespannt. Will er verhindern, dass er meinem Blick begegnet oder vielleicht Hannas?
Sie steht noch ein bisschen abseits und redet mit Jakob. Sie lacht gerade laut auf und wirft den Kopf in den Nacken. Ich weiß nicht viel über Hanna. Nur dass sie Gitarrenunterricht an einer Musikschule gibt, eine On-off-Beziehung mit Milo geführt hat und den Namen ihres sehr gut aussehenden Mitbewohners im Bett gesagt hat. Das klingt nach der Art von Drama, von der ich mich am liebsten fernhalte. Es war vermutlich die beste Entscheidung, die ich jemals treffen konnte, nicht mit Milo zu schlafen. Diese Dreiecksbeziehung hat definitiv keine weitere Person gebraucht und ganz sicher nicht mich.
Noch während ich das denke, schaue ich wieder zu Milo zurück. Ich kann es einfach nicht verhindern. Ich will damit nichts zu tun haben, aber Neugierde folgt in den seltensten Fällen richtiger Logik.
Inzwischen kann er Hanna nicht mehr ignorieren.
Obwohl ich vermutlich die letzte Person auf dieser Welt bin, von der er getröstet werden will, überkommt mich das unbändige Bedürfnis, ihn in den Arm zu nehmen. Eigentlich sollte er mir egal sein. Aber Liebe, die nicht so erwidert wird, wie man es sich aus tiefstem Herzen und noch tieferer Seele wünscht, ist unglaublich schmerzhaft. Jedem Menschen, der das schon einmal ertragen musste, fühle ich mich ganz automatisch näher. Wir scheinen überhaupt nichts gemeinsam zu haben, aber dieser Punkt verbindet mich doch auf eine starke Weise mit ihm, weswegen wir uns an Silvester überhaupt erst so nahegekommen sind. Verbindet uns unser Schmerz immer auf eine intimere Weise mit anderen Menschen, als es unsere Freude jemals könnte?
»Wir gehen dann mal einen Kaffee trinken. Wollt ihr mitkommen? Eine kurze Pause machen?« Juli reißt mich aus meinen Gedanken, bevor ich in ihnen ertrinken kann.
»Ich muss leider arbeiten«, sage ich, obwohl ich mir eine Viertelstunde rausnehmen könnte. Mir ist aber nicht danach. Ich will weder Juli und Isaac noch Milo, Hanna und Jakob beobachten.
»Aber Milo …« Ich hatte vor, ihm zu sagen, dass er gern eine Pause machen kann, um ihm einen Olivenzweig zu reichen. Doch bevor ich den Satz beenden kann, wendet er sich mir zu und schüttelt kaum merklich den Kopf. Ich kenne ihn wirklich nicht gut. Trotzdem glaube ich, ihn verstanden zu haben.
»Sorry, Milo hat leider auch keine Zeit. Es muss immer jemand an seinem Stand sein, und er wird erst in ein paar Stunden abgelöst.«
Ich kann gern die Böse sein. Die Rolle macht mir nichts aus. Ich kenne sie schon. Ich bin nie die lockere Person gewesen, mit der man einfach Spaß hat und mit der jeder befreundet sein wollte. Auf den ersten Eindruck wirke ich kalt und distanziert und deswegen auch ein bisschen arrogant. Nicht jeder kann mich leiden, und obwohl dieses Wissen manchmal sticht, versuche ich auch nicht, anders zu sein.
Juli verzieht das Gesicht, und ich bin mir ziemlich sicher, dass ich bei ihren ehemaligen Mitbewohnern gerade keine Sympathiepunkte gesammelt habe. Aber was soll’s.
»Wenn ihr mich entschuldigt«, sage ich nur, umarme Juli noch einmal und wende mich dann von allen ab. Noch kurz sehe ich Milo an. Er nickt kaum merklich. Wenigstens sein Bild von mir ist gerade nicht schlechter geworden.
Mit zügigen Schritten laufe ich auf den Bürokomplex zu. Sobald die Tür hinter mir zufällt, ersterben die Geräusche, die das Kaufhaus füllen. Dass sie da sind, merke ich immer erst, wenn sie abrupt verstummen. Dann fehlen sie mir. Es gibt keinen schöneren Klang auf der Welt als das Chaos aus all den Gesprächen und dem Rascheln von Papier, Vorhängen und dem Zischen der Kaffeemaschinen und dem Klacken von hohen Absätzen und dem Trippeln von Kinderschuhen und dem Brummen der Fahrstühle und dem Lachen so vieler Menschen.
Ich laufe zügig weiter. Ich habe jetzt endlich auch ein eigenes Büro erhalten. Basierend auf seiner Größe war es bestimmt mal eine Besenkammer. Dass sie mir kein richtiges gegeben haben, soll bestimmt eine Botschaft sein. Aber ich habe mich entschlossen, diese zu ignorieren. Sie können mich alle mal.
»Lorena.«
Ich bleibe abrupt stehen. Als ich die Tür zum Büro meines Bruders passiert habe, bin ich automatisch schneller geworden. Er hat mich trotzdem bemerkt. Und jetzt gibt es kein Entkommen mehr.
»Du gehst mir aus dem Weg«, kommentiert er, während ich mich langsam zu ihm umdrehe.
Nach meinem ersten Arbeitstag bin ich nicht direkt zu ihm gegangen, wie unsere Mutter von mir gefordert hat. Sie war zum Glück so sehr von ihrer Aufgabe, den perfekten Mann für mich zu finden, abgelenkt, dass sie mich gar nicht mehr ermahnt hat, mit Johann zu reden.
Dass ich dieses Gespräch nicht auf ewig aufschieben konnte, hätte mir klar sein sollen. Aber ich hatte genug zu tun und hatte schlicht und ergreifend keine Lust, mich mit meinem großen Bruder auseinanderzusetzen.
»Wie läuft deine erste Woche im Kaufhaus?« Diese Frage ist so aufgeladen, dass sie die Luft zu elektrisieren scheint.
»Super«, lüge ich.
»Wolltest du mir davon erzählen?«
Sein vorwurfsvoller Unterton lässt mich meine Hände zu Fäusten ballen. Mein Gesicht wird heiß. Er tut so, als würde ich ihm irgendwas schulden, dabei tue ich das nicht. Trotzdem fühle ich zusätzlich zu der aufkochenden Wut auch ein schlechtes Gewissen. Natürlich tue ich das. Weil ich mir selbst nicht ganz glauben kann, wenn ich mir versichere, dass ich ihm nichts schulde.
»Wollen wir in meinem Büro reden?«
Er klingt wie mein Chef. Und das ist er jetzt auch. Wie ich das hasse. Er tritt zur Seite und öffnet seine Tür noch ein bisschen weiter. Ich atme einmal durch und betrete den Raum. Er hat sogar einen Assistenten, der im Vorraum hockt. Ich habe nicht einmal ein Fenster, durch das Tageslicht fällt.
»Hallo, David«, grüße ich den jungen Mann freundlich.
»Hallo, Lorena«, entgegnet er lächelnd. Er setzt sich sofort gerader hin und richtet seine Krawatte. Ich muss lächeln. An seinem ersten Tag hat er den Bürokomplex nicht gefunden und ist durchs Kaufhaus gerannt wie ein Huhn ohne Kopf. Ich habe ihn abgefangen, ihm den Anzug gerichtet, weil sich der Schlips schon ein bisschen gelöst hatte, und habe ihm den Weg gezeigt. Seitdem strahlt er mich immer an, wenn er mir begegnet.
Hinter Johanns Rücken zeige ich David einen Daumen hoch. Er nickt erleichtert, als wäre es sein schlimmster Albtraum, dass während der Arbeit mal seine Krawatte verrutscht.
Ich würde mich viel lieber mit ihm unterhalten als mit meinem Bruder, aber ich folge ihm in das nächste Zimmer. Er schließt die Tür hinter uns und bedeutet mir so förmlich, vor seinem Schreibtisch Platz zu nehmen, dass man denken könnte, wir wären gar nicht verwandt.
Ich verdrehe die Augen, lasse mich aber auf den Stuhl sinken.
Johann nimmt hinter seinem Schreibtisch Platz. Ich kann ihm viel zu deutlich ansehen, wie gut ihm die Machtdynamik gefällt, die ein so alltägliches Möbelstück zwischen uns erschaffen kann.
»Joachim und Richard haben mir erzählt, dass du jetzt die Kulinarikabteilung leitest und auch Geschäftsführerin des Kaufhauses werden willst.«
Seit er offiziell Mit-Geschäftsführer geworden ist, nennt er unseren Vater Joachim. Ich finde das unfassbar affig. Aber mich hat ja mal wieder niemand nach meiner Meinung gefragt.
»Das ist richtig«, erwidere ich kühl, weil ich es ganz sicher nicht zulassen werde, dass mich mein großer Bruder wie ein kleines Kind fühlen lässt. Der Rest meiner Familie kriegt das schon gut genug hin.
»Denkst du nicht, dass ich es verdient hätte, es von dir zu erfahren?«
Ich weiß, was er da versucht. Und obwohl ich ihn durchschaue, funktioniert es doch. Mein schlechtes Gewissen wächst an.
»Es war meine Entscheidung.« Seine Taktik funktioniert zwar, ich will allerdings verhindern, dass er das auch merkt, deswegen gebe ich mich ganz ungezwungen. »Ich will das schon mein ganzes Leben. Und ich wollte es endlich einfordern.«
»Einfordern?« Wie er dieses Wort betont, könnte man meinen, es wäre ein Schimpfwort. »Du willst es einfordern?«
Er klingt belustigt. Und sofort wird mein Gesicht noch heißer.
»Ich bin dazu in der Lage, diesen Job zu machen. Und das weißt du auch.«
Sein arroganter und überheblicher Gesichtsausdruck bricht ein bisschen auf. Für den Bruchteil einer Sekunde zeichnet Zweifel sein Gesicht. Doch dann verschwindet diese ungebetene Emotion auch wieder. So endgültig, als wäre sie nie dort gewesen.
»Wenn du das sagst.« Wir sitzen auf der gleichen Höhe, aber wenn er so von oben herab mit mir spricht, könnte man meinen, er säße mehrere Meter erhöht und würde die Worte von dort oben auf mich herabfallen lassen. »Ich wollte dir nur sagen, dass es mich verletzt hat, dass du dich mir nicht anvertraut hast.«
»Was hättest du denn gesagt, wenn ich dir vorher von meinem Plan erzählt hätte? Hättest du mich bestärkt?«
Er zögert einen Moment, obwohl wir doch beide längst die Antwort kennen. Das hätte er nicht getan. Ganz im Gegenteil. Er hätte versucht, es mir auszureden. Und genau deswegen habe ich ihn nicht vorher eingeweiht.
»Ich hätte dir klargemacht, worauf du dich einlässt.«
Wenn er es so ausdrückt, klingt er wie ein besorgter großer Bruder. Aber ich bin mir sehr sicher, dass mehr dahintersteckt.
»Mir ist bewusst, worauf ich mich einlasse. August hat mir alles erzählt.«
Johann stockt. Ich wollte August nicht auf den Tisch bringen. Unsere ganze Familie vermeidet es, über ihn zu reden, wenn es sich vermeiden lässt. Seitdem er tot ist, reicht es, ihn zu erwähnen, um einem Raum von einer Sekunde auf die andere sämtliche Luft zu entziehen.
»August?« Johanns Stimme wird sofort brüchiger.
»Ich habe ihm gesagt, dass ich Geschäftsführerin werden will, und er hat mich bestärkt.« Ich klinge heiser.
Johann schluckt schwer, als wäre sein Adamsapfel auf einmal zu groß für seinen Hals. Dann schüttelt er leicht den Kopf. »Das lässt sich ja wohl nicht mehr nachprüfen.«
Mein Gesicht brennt immer noch, gleichzeitig wird mir aber kalt. Tränen treten in meine Augen, und sie drohen über meine Wangen zu fließen, dabei würde ich doch viel lieber schreien als weinen.
»Ich mache mich dann mal wieder an die Arbeit«, sage ich hölzern und erhebe mich auf unsicheren Beinen. Wir haben nicht lange miteinander geredet, aber die wenigen Worte haben gereicht, um mich noch ein bisschen kleiner und beschissener zu fühlen.
Ich wende mich ab, doch Johanns Stimme hält mich noch mal zurück.
»Lorena.« Daran, wie sanft er meinen Namen ausspricht, erkenne ich, was er von mir will. Trotzdem bleibe ich stehen und drehe mich zu ihm um.
»Ja?«
»Hast du einen Moment? Hier ist so eine Monatsabrechnung, mit der ich nicht so viel anfangen kann.«
Er guckt mich so neutral an, als hätte er mir nicht gerade indirekt unterstellt, über etwas, das unser Cousin vor seinem Tod zu mir gesagt hat, zu lügen. Das macht er ständig. Er demontiert mich, und dann bittet er mich um Hilfe. Weil er sie braucht. Und trotzdem sieht er nicht ein, dass ich für diesen Job so viel besser geeignet bin als er.
Ich sollte einfach wortlos sein Büro verlassen. Davor sollte ich ihm vielleicht auch noch den Mittelfinger zeigen. Diese Reaktion wäre angebracht.
Doch natürlich tue ich das nicht. Ich seufze und gehe zu ihm zurück, weil ich einfach nicht anders kann.