MILO
Lorena hält ihr Versprechen. Sie hilft uns, aufzuräumen. Ihre hohen Schuhe hat sie einfach ausgezogen und die Ärmel ihres engen schwarzen Abendkleides hochgekrempelt. Dann hat sie angepackt, als wäre es keine große Sache. Und da es niemand infrage stellt, scheint es das auch nicht zu sein. Außer für mich vielleicht.
Ich kann noch immer nicht ganz fassen, dass ich sie einmal so falsch eingeschätzt habe. Sie ist nicht so unerreichbar wie all die Luxusgüter, die im Kaufhaus stehen. Sie ist nahbar. Wenn man sich nur die Mühe macht, lange genug hinzusehen.
»Hat deine Mutter inzwischen aufgehört, dich anzurufen?«, frage ich sie, als wir schließlich wieder den Bürokomplex betreten, nachdem wir alles andere erledigt haben. Die meisten anderen Angestellten haben das Kaufhaus bereits verlassen. Lorena ist am längsten geblieben, um sicherzugehen, dass alles richtig gemacht wurde.
»Ich bin kurz rangegangen«, entgegnet sie. »Sie wollte mir einen Vortrag halten, dass man so einen feinen jungen Mann nicht einfach versetzt. Doch dann habe ich so getan, als würde ich würgen, und habe ihr erklärt, dass sich mein Magen umgedreht hatte und ich nicht wollte, dass ich ihm gleich beim ersten Date vor die Füße kotze. Das hat sie schnell verstummen lassen. Und dann hat sie mir noch versichert, dass ich richtig gehandelt habe.«
Ich kann mir das Lachen nicht verkneifen, und es entfährt mir ein bisschen lauter als beabsichtigt. »Die Ausrede muss ich mir merken.«
»Musst du«, erwidert Lorena. »Ich kann ihre Wirksamkeit bezeugen.«
Wir betreten den Aufenthaltsraum, und Lorena lässt sich auf die ausgebeulte Couch sinken, die definitiv schon bessere Tage gesehen hat. Auch darauf sieht sie elegant aus.
»Er ist also nicht der zukünftige Mister Lorena Kronenberger«, stelle ich fest und ernte einen vernichtenden Blick von ihr. »Wie soll der zukünftige Mister Lorena Kronenberger denn sein?«, hake ich nach.
Lorena seufzt, setzt sich aber ein bisschen gerader hin, als bräuchte sie diese Körperhaltung, um besser denken zu können. »Gebildet, höflich, gute Manieren, aus gutem Hause, guter Job, reich.«
Ich ziehe die Augenbrauen nach oben. »Das klingt wie eine Liste, die deine Eltern angelegt haben.«
»Haben sie auch«, gibt sie ohne Umschweife zu.
»Und was willst du?«
Die Falten, die sich um ihre leicht lächelnden Lippen legen, scheinen das Wort Melancholie zu buchstabieren. »Solange ich mein Ziel nicht erreicht habe, ist das nicht wichtig.«
Ich erwidere das Lächeln, weil auch in meiner Brust auf einmal eine tiefe Trauer sitzt. Für sie. Für mich. Für all die Seelen auf dieser Welt, die nicht wissen, wie sie lieben sollen, und deswegen dazu verdammt sind, es immer auf die falsche Weise zu tun. »Es ist immer wichtig.«
Sie fixiert mich mit ihren grünen Augen und zieht damit an irgendwelchen Bändern, die mein Herz zusammenhalten.
Ich habe noch nie einen Menschen getroffen, dessen Intensität durch jede seiner Poren dringt. Ist sie sich ihrer Wirkung überhaupt bewusst?
Sie seufzt aus tiefster Seele. »Ich hoffe, ich bin auf der Feier nicht negativ aufgefallen.«
Ich grinse, um sie von all dem abzulenken, das sie ihre Augenbrauen so ernst zusammenziehen lässt. »Das hätte ich jetzt nicht erwartet.«
»Was?«, fragt sie irritiert nach.
»Lorena Kronenberger schert sich um die Meinung anderer Menschen?«
»Natürlich«, entgegnet sie sofort. »Image ist alles. Vor allem als Frau in dieser Familie.« Sie verschränkt die Arme vor der Brust. »Aber ich wünschte, es wäre mir egal. Das macht das Leben sicher einfacher. Menschen, denen die Meinung anderer egal ist, gibt es aber bestimmt gar nicht, das ist nur ein Mythos. Wie Bigfoot.«
»Was sagt es über mich aus, dass ich die Vorstellung, dass es sie gar nicht gibt, beruhigend finde?«
»Dass du viele Unsicherheiten hast, dir die Meinung anderer wichtig ist und dass du das besser akzeptieren kannst, wenn du denkst, allen anderen geht es genauso wie dir«, schlägt sie vor.
»So genau wollte ich es eigentlich gar nicht wissen.«
Wir lachen gleichzeitig auf, und mir gefällt der Klang.
»Wie läuft es mit Hanna?« Lorena versucht wohl, locker zu klingen, aber es gelingt ihr nicht ganz. Ich kann ihr anhören, dass sie schon lange darüber nachdenkt, wie sie das ansprechen soll.
»Gut.«
Sie legt den Kopf schief, was mir zu verstehen gibt, dass sie mir nicht glaubt. Doch sie spricht es nicht aus. »Seid ihr wieder zusammen?«, fragt sie stattdessen.
»Nein«, erwidere ich.
»Also dürft ihr auch was mit anderen Menschen anfangen?«
»Ja.« Wenn ich immer nur einsilbige Antworten gebe, hört sie mir vielleicht nicht an, wie schwer es mir fällt, zu antworten.
»Weißt du, ob sie auch was mit anderen hatte?«
»Nein.«
»Ihr redet gar nicht darüber?«
»Nein.«
»Und das ist okay für dich?«
»Nein.« Ich gebe es zu, bevor ich richtig darüber nachdenken konnte, ob ich das auch wirklich will.
»Willst du ihr das nicht sagen?«
»Kennst du das Gefühl nicht?«, frage ich zurück.
»Welches?«
»Diese Blockade in der Brust, wenn man etwas ansprechen will, aber Todesangst vor dem hat, was passiert, wenn man es tut.«
Lorenas Nicken ist so leicht, dass es kaum zu sehen ist. Aber ich habe es wahrgenommen.
»Eigentlich weiß ich, dass mich auch eine Abfuhr nicht umbringen würde. Manchmal fühlt es sich aber so an.«
»Also lieber ein Tod durch tausend kleine Schnitte?«
»Wenn ich es dann weniger merke«, entgegne ich, obwohl mir eigentlich bewusst ist, dass mir meine Angst nur noch mehr Schmerz bereiten wird.
»Willst du eine Beziehung führen, die so instabil ist, dass sie eine Aussprache nicht überlebt?«, fragt Lorena und schreibt Gänsefüßchen in die Luft, als sie Beziehung sagt.
Mir ist klar, welche Antwort von mir erwartet wird. Aber die Wahrheit ist, dass ich lieber nur eine Beziehung mit Gänsefüßchen mit Hanna habe, als ohne sie zu sein.
»Du solltest ihr sagen, dass du mit der Situation nicht zufrieden bist und was du von ihr willst.«
»Und was ist, wenn sie es nicht will?« Ich komme mir erbärmlich vor, als ich diese Worte ausspreche, aber ich konnte sie mir auch nicht verkneifen.
»Dann ist sie es nicht wert.« Sie stockt kurz. »Und wenn eure Bedürfnisse nicht zusammenpassen … dann passt ihr vielleicht auch nicht zusammen.«
Meine Brust wird mal wieder viel zu eng für mein Herz, das sich doch nach all den Verletzungen, die es erleiden musste, ein bisschen mehr Raum wünscht.
Ich räuspere mich, weil ich auf einmal so heiser geworden bin. »Wie läuft es mit der Arbeit?«
Ich denke, dass Lorena mir diesen offensichtlichen Themenwechsel nicht wird durchgehen lassen. Doch dann lächelt sie nur einmal wissend und kommt meiner unausgesprochenen Bitte nach.
»Geht so.«
»Wieso nur geht so?«
»Hast du nicht mitbekommen, wie Richard mich angeschrien hat? Das muss sich doch rasend schnell rumgesprochen haben.«
Zwei Angestellte haben vor ein paar Tagen im Pausenraum darüber geredet. Aber das werde ich ihr ganz sicher nicht verraten. Also zucke ich nur mit den Schultern.
»Ich habe Einweckgläser bestellt. Du hast mich auf die Idee gebracht. Mein Onkel fand es nicht so gut.«
»Du machst mich dafür verantwortlich. Das willst du mir doch damit sagen«, meine ich scherzend.
»Richtig.« Sofort wird sie wieder ernst. »Jetzt muss ich ihnen beweisen, dass ich das Geld, das ich dafür ausgegeben habe, auch wieder reinholen kann. Und dafür brauche ich gute Rezepte.«
»Du weißt, wen du danach fragen könntest«, sage ich ganz unschuldig. »Vielleicht die Person, die dich überhaupt erst auf die Idee gebracht hat. Ich weiß, dass das ein absurder Vorschlag ist, aber …«
»Jaja, ich habe es schon verstanden«, unterbricht sie mich amüsiert. »Ich hätte einfach direkt zu dir gehen sollen.«
»Richtig.«
Sie verdreht die Augen. »Wieso hast du eigentlich nie eine Ausbildung in die Richtung gemacht? Für dein Risotto würde ich einen Mord begehen.«
Ich verkrampfe mich wieder. Gibt es in meinem Leben auch Themen, die nicht diese Reaktion in mir hervorrufen? »Ich habe Ausbildungen angefangen. Aber nie fertig gemacht.«
Ich warte darauf, dass sie nachhakt. Zu meiner Überraschung tut sie es nicht.
»Im Kaufhaus kann man eine Konditorausbildung machen«, stellt sie nur fest.
Mein Herz beginnt zu rasen. »Ich weiß. Die Aufnahmebedingungen sind aber echt hart.«
»Mh, vielleicht gar nicht so schlecht, wenn man mit einer Kronenberger per du ist, findest du nicht?«
Ich weiß nicht, warum ich ausgerechnet in diesem Moment daran denken muss – ich habe es schon seit Wochen nicht mehr getan –, aber auf einmal erinnere ich mich an unseren Kuss zurück. Ich sehe ihr Gesicht wieder wenige Millimeter vor meinem schweben, ich spüre ihre Lippen auf meinen und ihre Hände in meinen Haaren. Mir wird sofort heiß. Ich hoffe, dass meine Wangen nicht verräterisch die Farbe wechseln.
Ich räuspere mich umständlich. »Wenn du es so sagst.« Ich räuspere mich noch mal, weil einmal nicht gereicht hat.
»Du hilfst mir mit meiner Bewerbung«, setze ich an, obwohl ich noch nicht ganz weiß, wie ich es schaffen soll, meine Familie diesmal mit einem Ausbildungsgehalt zu unterstützen. Früher hat es ja auch nicht geklappt. Aber im Kaufhaus verdiene ich gut und konnte sogar schon Geld zur Seite legen. Und die Ausbildung würde erst im September beginnen – falls ich den Platz überhaupt bekomme –, und bis dahin könnte ich noch mehr sparen. Bevor ich mich in all den Dingen, die dagegensprechen, verliere, zwinge ich mich, fortzufahren. »Du hilfst mir mit meiner Bewerbung und ich dir mit den Rezepten?«
Lorena zögert.
»Oder hast du Angst, mit mir gesehen zu werden?«, kann ich mir nicht verkneifen, zu fragen.
»Du weißt, dass ich das nicht so meine«, erwidert sie heftiger, als ich erwartet habe.
»Ich weiß«, entgegne ich. »Zu neunzig Prozent.«
Ihre Mundwinkel zucken, dann wird sie wieder ernst. »Wir treffen uns ja dann aus beruflichen Gründen. Das geht. Es geht nur nicht …« Sie spricht es nicht aus, aber ich weiß, dass sie auch an Silvester denkt. Sofort werden meine Wangen noch wärmer, als würde uns die Tatsache, dass wir beide gleichzeitig an unseren Moment an Silvester zurückdenken, diesen wieder näher bringen.
»Also haben wir einen Plan?«, frage ich und ignoriere, dass sich ein verletztes Gefühl in meiner Magengrube festsetzt, weil sie diese Grenze noch mal zwischen uns aufzeichnet.
»Wir haben einen Plan«, erwidert sie. Dann steht sie auf, läuft elegant auf mich zu – was ihr sogar barfuß gelingt – und hält mir ihre Hand hin, die ich, ganz ohne Zögern, ergreife.
»Wir haben einen Plan«, wiederhole ich nur und verstehe nicht, warum meine Stimme auf einmal so rau ist.
***
Ich rieche nach Gewürzen, als ich an diesem Abend das Kaufhaus verlasse. Mein Atem wirft Wölkchen in die Luft. Aber dies wird wohl einer der letzten Tage in diesem Jahr sein, an dem es dafür kalt genug ist. Der Kälteeinbruch war für März sehr extrem, aber auch er muss nun langsam einsehen, dass er sich dem Frühling beugen muss.
Nach meiner Schicht habe ich noch mehrere Stunden mit Lorena in der Küche verbracht und Gerichte perfektioniert, die in die Gläser passen und gut frisch gehalten werden können. Es hat nicht alles auf Anhieb so geklappt, wie wir es uns vorgestellt haben. Was Lorena so gut verkraften konnte, wie von so einem ungeduldigen Menschen wie ihr zu erwarten war. Aber schließlich haben wir gute Fortschritte gemacht, und wir haben beide mit einem Lächeln entschieden, dass wir genug gearbeitet haben.
Mit beschwingten Schritten und müden Augen mache ich mich auf den Weg zur S-Bahn. Lorena hat angeboten, mich nach Hause zu fahren. Das wollte ich jedoch nicht. Ich vertraue ihr viel mehr, als ich es noch vor ein paar Wochen getan habe. Es reicht allerdings nicht, um diese zwei Welten miteinander zu vermischen. Meine Familie und meine Arbeit sind getrennte Sphären, und das werde ich so gut es geht aufrechterhalten.
Lorena hat mich gefragt, ob ich ihre Breakup-Playlist schon gehört habe, und als ich verneinen musste, hat sie mich aufgefordert, es auf dem Heimweg nachzuholen. Doch nun rede ich mir ein, dass ich sie gar nicht brauche. Hanna und ich sehen uns noch regelmäßig, ergo brauche ich auch keine Trennungslieder.
Die Tatsache, dass wir schon oft Schluss gemacht haben, will mir widersprechen, doch diese ignoriere ich einfach. Wenn ich nicht so genau hinsehe, kann ich meine schlechten Entscheidungen und Fehler auch gar nicht erkennen. So einfach ist das.
»Hallo«, rufe ich in den Flur hinein, als ich das Haus betrete. Es stehen so viele Schuhe herum, dass man kaum noch Boden sieht. Ich schlüpfe in Hausschuhe, die am großen Zeh ein Loch haben, durch das die Kälte dringt, und springe über alle Gegenstände, die sich in meine Fußsohlen bohren könnten.
»Du kommst pünktlich zum Essen«, dringt es aus der Essküche. Ich lasse meinen Rucksack und meine Jacke in der Ecke stehen, weil an der Garderobe kein Platz mehr ist, und trete ein.
Und bleibe abrupt stehen.
Meine Geschwister decken gerade den Tisch. Mit Hannas Hilfe.
Als sich unsere Blicke begegnen, schenkt sie mir ein entschuldigendes Lächeln.
»Guck mal, wem wir beim Einkaufen im Supermarkt begegnet sind«, meint Emma gerade und grinst glücklich über beide Ohren. »Wir haben sie überredet, mal wieder bei uns zu essen.«
»Du weißt, dass es sich eigentlich nicht gehört, andere Leute zu zwingen, mit einem zu Abend zu essen«, entgegne ich.
Meine Schwester streckt mir die Zunge raus.
»Sie hat mich nicht gezwungen«, meint Hanna schnell. Sie kennt meine Familie. Sie war früher oft hier. Aber da waren wir offiziell ein Paar. Jetzt sind wir nichts Ganzes und nichts Halbes. Und deswegen sind wir wohl beide angespannt. Irgendwie kann man in diesem undefinierten Bereich, in dem wir uns befinden, viel besser Sex haben als ein Abendessen mit der Familie verbringen. Keine Ahnung, warum es so ist, aber diese Tatsache fühlt sich unumstößlich an.
»Sie hat dich gezwungen, und das wissen wir beide«, versuche ich, zu scherzen. Ich weiß nicht mal, wie ich sie begrüßen soll, geschweige denn, was ich sagen soll.
Eine Stimme in meinem Hinterkopf, die verräterische Ähnlichkeit mit Lorenas hat, will mir klarmachen, dass ich genau weiß, worüber ich mit ihr sprechen sollte. Meine Gefühle. Dass ich wieder richtig mit ihr zusammen sein will. Dass ich nicht will, dass sie mit anderen Männern schläft, und schon gar nicht mit ihrem Mitbewohner.
Aber das bringe ich nicht über mich.
Mit ein bisschen steifen Schritten gehe ich auf den Tisch zu, drücke Emma einen Kuss auf den Kopf, was sie mit einem Würggeräusch quittiert, und tue das Gleiche bei Hanna, weil man es dann auch als Scherz abtun kann. Wieso traue ich mich nicht, meine Emotionen ernst zu nehmen, und verstecke sie hinter Witzen, obwohl ich sie eigentlich eher zum Weinen als zum Lachen finde?
So viele Fragen, die ich mich nicht traue, zu beantworten.
»Es freut mich sehr, dass du endlich mal wieder hier bist, Hanna«, sagt mein Vater auf diese Weise, die keinen Zweifel lässt, wie ernst er seine Worte meint. Er fährt mit dem Rollstuhl an den Tisch heran, und wir setzen uns auf die Stühle. Es gibt Spaghetti mit Tomatensoße. Das gibt es immer, wenn ich nicht da bin, um zu kochen, und im Tiefkühlfach keine Gerichte mehr sind, die ich vorbereitet und eingefroren habe. Dazu kam ich wegen den Extraschichten mit Lorena nicht mehr. Das muss ich heute Nacht dringend nachholen.
»Danke«, sagt Hanna. Ich spüre ihre Überforderung quasi auf meiner Haut. Sie sitzt neben mir, aber wir berühren uns nicht. Und ich traue mich auch nicht, meine Hand nach ihr auszustrecken. Beiläufige Berührungen am Tisch, während meine Familie um uns herumsitzt, fühlen sich absurderweise intimer an als die Berührungen, die wir beim Sex tauschen. Was uns betrifft, ergibt nichts mehr Sinn. Und manchmal frage ich mich, ob das jemals anders war.
Lorenas Worte sind sofort wieder bei mir. Ich soll mit ihr über meine Bedürfnisse sprechen, und wenn sie es anders sieht als ich, ist sie es nicht wert. Vielleicht hat sie recht. Lorena ist eine Frau, die wohl nur selten unrecht hat. Aber nur weil ich weiß, dass mir die Nicht-Beziehung zu Hanna nicht guttut, macht es das auch nicht weniger schmerzhaft, sollte sie mich nicht wollen.
Emma erzählt ganz aufgeregt von ihrem Schultag und dominiert wie immer die Unterhaltung am Tisch. Hanna hört ihr aufmerksam zu. Und immer, wenn ich Emmas Freude darüber in ihren Augen sehe, glaube ich, dass meine Gefühle für Hanna noch tiefer reichen. Das ist nicht gut. Es ist nicht gesund. Aber wie komme ich gegen das Gefühl in meinem Inneren an, das mich ständig zu überfluten droht? Wie lerne ich, mich nicht mehr ständig danach zu sehnen zu ertrinken?
Nach dem Essen bleibt Hanna, um mir beim Abwasch zu helfen. Sobald wir den Tisch abräumen, scheinen sich meine Geschwister in Luft aufzulösen. Diese Fähigkeit können sie immer dann einsetzen, wenn ich sie um Hilfe in der Küche bitten will. Auf einmal fehlt von ihnen dann jede Spur.
»Emma freut sich immer, wenn du hier bist«, sage ich, weil mir nichts Besseres einfällt, während ich abspüle und Hanna abtrocknet. Mein Vater hat sich schon vor einer Minute mit einem vielsagenden Blick zurückgezogen. Er mag Hanna. Sie alle mögen Hanna. Das macht es auch nicht leichter.
»Nur Emma?«, zieht sie mich auf.
Ich lächle ein bisschen. »Nicht nur Emma.«
»Gut«, meint sie und räumt die Teller dorthin, wo sie hingehören, als würde sie auch hier wohnen.
»Auch Emil, Daniel, mein Vater.«
Sie gibt mir einen Stoß in die Rippen, und ich lache auf. Aber es hört sich hohl an.
»Ich vielleicht auch«, meine ich, obwohl ich mir gar nicht mehr so sicher bin, ob das stimmt. Ich will sie sehen. Trotzdem geht es mir danach jedes Mal schlechter als vorher.
Ich atme sehr bewusst aus und versuche, die richtigen Worte, die sich gegen mich wehren, so mit der Luft meinen Hals hinaufzuschieben.
Hanna, ich möchte wieder mit dir zusammen sein.
Hanna, ich möchte nicht, dass wir uns mit anderen treffen.
Hanna, ich möchte, dass du mich genauso liebst wie ich dich.
»Hanna«, setze ich an, doch weiter komme ich nicht, weil sie sich mir entgegenlehnt und ihre Lippen auf meine legt. Ich lasse den Schwamm ganz automatisch in die Spüle fallen. Ich will sie anfassen, aber meine Hände sind nass vom Spülwasser. Also halte ich mich nur an der Anrichte fest, während sie mich küsst und mit der Hand durch die Haare an meinem Nacken fährt. Es fühlt sich gut an. Verdammt gut. Wie immer. Aber da ist auch dieser Schmerz, den ich nicht länger ignorieren kann. Ich schmecke ihn fast intensiver als ihre Lippen.
Also löse ich mich langsam von ihr. Ich muss es ansprechen. Jetzt. Nicht später. Nicht irgendwann. Weil ich mich gut genug kenne, um zu wissen, dass später und irgendwann eigentlich nie und ich bin zu feige bedeuten. Und das muss sich ändern. Ich muss mich ändern.
»Hanna«, setze ich erneut an, diesmal mit festerer Stimme. Mein Herz rast schon wieder und übertönt mich. Es will auch nicht, dass sie meine Worte jemals hören kann.
Ich muss mich endlich trauen. Aber die Angst davor, mich von ihr lösen zu müssen, fühlt sich wieder lebensbedrohlich an. Die Hohlräume in mir geben immer nach, wenn sie mich bittet zu bleiben. Sie sehnen sich danach, gefüllt zu werden, obwohl sie doch inzwischen eingesehen haben sollten, dass sie das nicht schaffen kann.
Wir wollen ganz füreinander sein. Aber ich glaube, wir ziehen einander an, weil wir beide in Trümmern liegen.
Auf einmal weiß ich, was ich sagen muss. Und ich tue es, bevor ich den Mut wieder verlieren kann.
»Wir sollten damit endlich aufhören«, bringe ich hervor, obwohl es eigentlich das Letzte ist, was ich will. Aber ich erkenne, dass ich muss. Ich habe es vor langer Zeit erkannt, wenn ich mich mal für einen Moment traue, ehrlich zu mir selbst zu sein. Ich kann mich nicht länger vor der Erkenntnis verstecken.
Ein trauriges Lächeln legt sich auf Hannas perfekte Lippen. Die Erkenntnis trifft mich mit unvorbereiteter Härte. Das war gerade unser letzter Kuss.
»Damit könntest du recht haben«, sagt sie schließlich und betrachtet mich, als wüsste sie, dass es auch das letzte Mal sein wird, dass sie mich auf diese Weise ansieht. »Wir hätten vor langer Zeit aufhören sollen.«
Das hätten wir. Aber ich wollte und konnte nicht. Und jetzt, als sie sich umdreht, um zu gehen, halte ich sie nicht auf. Ich umklammere noch immer die Anrichte, damit mich der Impuls, sie zurückzuholen, nicht übermannt.
Sollten wir nicht noch so viel mehr sagen? Reichen so wenige Sätze, um zu beenden, was so lange zwischen uns war? Vermutlich. Weil das, was uns noch zusammengehalten hat, so instabil war, dass wenige Worte gereicht haben, um es endgültig zu zerreißen.
Ich bleibe an der Stelle stehen, bis ich die Tür wieder ins Schloss klicken höre. Dann scheint meine Körperspannung mich mit einem Ruck zu verlassen. Ich wundere mich, dass ich nicht wie ein nasser Sack auf dem Boden zusammensacke, sondern es irgendwie schaffe, stehen zu bleiben.
Wie lange ich so verharre, kann ich nicht sagen. Irgendwann widme ich mich wieder dem Geschirr, denn selbst bei Liebeskummer macht sich der Abwasch nun mal nicht von allein. Die automatisierten Bewegungen helfen mir, mein Herz zu beruhigen. Es rast nicht mehr. Aber es schmerzt.
Als ich endlich in mein Zimmer hochlaufe, fühle ich mich leer. Ich hole mein Handy aus der Hosentasche, stecke meine Kopfhörer rein und öffne Lorenas Playlist. Ich glaube nicht daran, dass Christina Aguilera auch nur eines meiner Probleme lösen kann. Trotzdem wähle ich ihren Song aus, und während ich rücklings auf meinem Bett liege, »Best of Me« höre und stumm weine, fühle ich mich doch ein bisschen weniger beschissen als vorher.