15. Kapitel

LORENA

Mai

»Hast du das neue Rezept schon zusammengeschrieben?«

»Lenk nicht ab«, erwidert Milo sofort.

»Ich lenke nicht ab. Ich will nur wissen, ob du das Rezept zusammengeschrieben hast, damit die Köche es für die kommende Woche vorkochen können«, erwidere ich ein bisschen schnippisch.

Ich höre sein Grinsen in seiner Stimme, sehe mich aber nicht zu ihm um. »Du willst ablenken, weil du heute wieder mit einer Geschichte dran bist. Du bist schon mehrmals stehen geblieben, als würdest du den Weg nicht auswendig kennen. Aber ich werde mal kurz so tun, als wäre es mir nicht aufgefallen, und dir deine Frage beantworten, obwohl du das eigentlich auch selbst kannst: Ja, das habe ich gemacht.«

Ich nicke nur und ignoriere den Anfang seiner Antwort. »Die Einweckgläser laufen gut«, sage ich.

Und diesmal weist er mich nicht darauf hin, dass ich einem Thema aus dem Weg gehe. Er lässt den Themenwechsel zu, und dafür bin ich ihm insgeheim dankbar.

»Das freut mich«, meint er. »Wie haben dein Onkel und dein Vater darauf reagiert?«

»Richard tut so, als würde es ihm nicht auffallen. Mein Vater hat mich letztens dafür gelobt, aber seine Worte klingen immer so hohl.«

»Wieso?«

Ich seufze. Wieso sind wir schon wieder bei einem Thema gelandet, über das ich doch gar nicht reden will?

»Wir haben kein besonders enges Verhältnis.«

»War das schon immer so?«

Ich überlege, wieder auszuweichen. Aber dann tue ich es zu meiner eigenen Überraschung doch nicht. »Nein, war es nicht. Wir hatten ein enges Verhältnis. Ich konnte gut mit ihm reden.«

»Was ist passiert?«

Ich traue mich das erste Mal, seitdem wir aufgebrochen sind, in Milos Richtung zu gucken. Heute scheint die Sonne auf diese unglaublich sanfte Weise, die im Hochsommer nicht mehr möglich sein wird. Sein braunes Auge wirkt im Schein ein bisschen heller. Und es strahlt.

»Juli ist aufgetaucht«, murmle ich in mich hinein und sehe wieder weg. »Ich komme einfach nicht darüber hinweg, dass er meine Mutter betrogen hat.«

»Aber du und Juli versteht euch doch gut.«

»Das hat auch gar nichts damit zu tun. Juli ist meine Schwester, und ich bin jeden Tag dankbar dafür, dass ich sie habe. Ich liebe sie wirklich.«

Ich bleibe stehen, weil wir den Ort erreicht haben. Und irgendwie hat unser Gespräch, obwohl ich es doch eigentlich verhindern wollte, den Weg zurück zu dem Thema gefunden, das ich vermeiden wollte.

»Hast du schon alle Unterlagen hingeschickt?«, starte ich einen letzten verzweifelten Versuch.

»Du hast mir doch geholfen, sie fertig zu machen. Du hast neben mir gesessen, während ich sie abgeschickt habe.« Seine Stimme ist sehr sanft. Und das ist auch seine Hand, als er damit meine ergreift.

Ich weiß nicht genau, wann es passiert ist. Aber irgendwann sind Milo und ich etwas geworden, was man wohl als Freunde bezeichnen könnte oder zumindest als Fast-Freunde.

Und deswegen erwidere ich wie immer den Druck seiner Hand.

»Ich hoffe, du hast auch ein gutes Wort für mich eingelegt, General«, zieht er mich auf.

»Natürlich habe ich das«, erwidere ich fast entrüstet.

Milo hat schon sein Probearbeiten hinter sich. Natürlich habe ich mich danach erkundigt und mitbekommen, dass er es sehr gut gemacht hat. Nicht, dass ich jemals daran gezweifelt hätte. Außerdem habe ich betont, dass er für die neuen Rezepte verantwortlich ist, die in der Kulinarikabteilung so gut ankommen.

Er wird die Ausbildungsstelle bekommen. Noch will er das nicht hören oder einsehen. Aber ich denke, dass er es auch ahnt. Er hat nur zu große Angst vor Enttäuschungen und redet sich deswegen ein, dass es nicht so schlimm wäre, wenn es nicht klappt. Da ich diesen Impuls verstehen kann, beharre ich auch nicht darauf, ihn zu überzeugen. Der Brief, in dem steht, dass er genommen wurde, wird das für mich übernehmen.

»Wieso sind wir hier?«, fragt er, nachdem er mir eine lange Stille gegönnt hat.

So machen wir das immer. Wir lassen dem anderen Zeit, bis wir für die nächste Geschichte bereit sind. Aber wir lassen es dem anderen auch nicht durchgehen, sich zu drücken. Wenn einer von uns es nicht allein schafft, anzufangen, muss der andere ihn eben sanft in die richtige Richtung schubsen.

Wir stehen vor einem Club, der tagsüber natürlich geschlossen hat. Wenn es nicht dunkel ist und sich keine lange Schlange vor der Tür befindet, wirkt das Gebäude mit der abbröckelnden schwarzen Farbe und den unzähligen Plakaten trostlos. Es lässt mich an einen unglücklichen Menschen, der sein Potenzial nicht genutzt hat, denken.

»Wir haben doch gerade schon über Juli und meinen Vater geredet.«

Ich glaube, Milo nickt, aber ich wende mich nicht um.

Kurz bilde ich mir ein, ich könnte die Musik vernehmen, die aus dem Gebäude dringt. Kurz geht die Sonne unter. Und kurz bin ich wieder in diesem Moment, der sich schon, als ich noch in ihm steckte, vom ganzen Alkohol verschwommen anfühlte. Jetzt, über ein Jahr später, ist er noch verwaschener. Aber die schmerzhaftesten Details sind noch klar.

»Ich habe Juli nicht gut behandelt, als ich sie kennengelernt habe. Es war leichter, auf eine Fremde sauer zu sein, als auf meinen Vater.«

Mein Rachen wird trocken. Nach außen kann ich wirken, als wäre ich selbstsicher und mir der Dinge, die ich tue, sehr bewusst. Doch in mir ist auch Bedauern.

»Ich kam schon mit ihrer bloßen Präsenz nicht klar. Und dann habe ich nach unserer Mitternachtsparty die Aufnahmen der Überwachungskameras gecheckt.«

Damals ist mein Herz stehen geblieben. Ich kann mich genau an das Gefühl erinnern. Als müsste mein Herz sich erst wieder sammeln, bevor es weiterarbeiten kann.

»Sie haben sich geküsst. Isaac und sie. Und damit kam ich nicht klar. Ich bin danach ständig mit Kommilitonen feiern gegangen, habe mich betrunken. Und dann waren wir einmal hier, und ich habe einer entfernten Bekannten von Juli erzählt, dem unehelichen Kind meines Vaters. Ich wollte meinen Frust ablassen. Und dann haben die Klatschseiten von ihr erfahren, und damit habe ich ihr sehr wehgetan.«

Ich atme zittrig ein und aus.

»Danach habe ich mir eingeredet, dass es ein Versehen war. Ich habe mich jemandem anvertraut, und diese Person hat mich verraten. Das war ja quasi nicht meine Schuld. Aber ich tue selten etwas unüberlegt. Was ist, wenn ein Teil von mir wusste, welche Konsequenzen mein Handeln haben könnte? Was ist, wenn ich Juli bewusst wehtun wollte, weil ich geglaubt habe, meinen eigenen Schmerz dann besser ertragen zu können?«

Irgendwie rechne ich damit, dass Milo meine Hand loslassen und sich von mir abwenden wird. Doch das tut er nicht. Er erhöht den Druck. Und das bringt mich dazu, mich zu ihm umzudrehen.

In seinen Zügen finde ich nur Verständnis. Und das überfordert mich.

»Man sagt ja immer, Liebe holt das Beste aus Menschen hervor«, setzt er getragen mit einem Tonfall an, der so gar nicht zur scheinenden Sonne und so viel besser zu einem verhangenen Himmel passen würde. »Aber das stimmt nicht immer. Und schon gar nicht für unerwiderte Liebe.« Er seufzt schwer. Komischerweise fällt mir heute zum ersten Mal seit Silvester auf, wie markant sein Gesicht ist. Auf diese unperfekte, besondere Weise. »Ich war so eifersüchtig auf Jakob. Das hat mich zu einem Menschen gemacht, der ich niemals sein wollte. Ich habe mir eingeredet, er wäre ein Arschloch, obwohl ich doch eigentlich wusste, dass er ein guter Kerl ist. Alles nur, weil er Hanna eben auch liebt. Und weil sie mit ihm anders sein konnte als mit mir. Gelöster. Warum lacht sie bei ihm lauter als bei mir? Das hat mich heimgesucht.«

Er lächelt mich sanft an, und das macht etwas mit mir. Ich bin aber nicht bereit, herauszufinden, was genau das bedeutet.

»Ich hatte so viele negative Gedanken. Doch statt sie gegen ihn zu richten, hätte ich mir einfach nur eingestehen sollen, dass es besser gewesen wäre, zu gehen, statt zu bleiben.«

»Du bist gegangen«, meine ich.

Milo nickt. »Ja, bin ich. Aber ich hätte es schon viel früher tun sollen.«

»Solche Gedanken bringen dir doch auch nichts mehr. Du bist gegangen und nicht zurückgekehrt. Das ist viel wert.«

»Du hast einen Fehler gemacht, dich aber dafür entschuldigt und es mit deinem Verhalten wiedergutgemacht. Trägt Juli es dir noch nach?«

»Nein«, gebe ich widerwillig zu, weil ich schon weiß, worauf er hinauswill.

»Dann trage es dir auch nicht mehr nach.«

»Soll ich mir das einfach durchgehen lassen?«

Milo lacht so gelöst auf, dass ich mich unwillkürlich frage, ob er vielleicht auch ohne Hanna gelöster lacht. »Ich glaube, ich kenne keinen Menschen, der sich so wenig durchgehen lässt wie du. Diese eine Sache darfst du auch loslassen.«

Mein erster Impuls ist, ihm auch diesmal zu widersprechen. Doch dann tue ich es nicht.

Ich atme tief ein und aus. Und dann sage ich nur ein einziges Wort, weil es mehr gerade einfach nicht braucht. »Okay.«