17. Kapitel

MILO

Juli

Während ich auf Lorena warte, strecke ich mein Gesicht der Sonne entgegen. Es ist eigentlich ein bisschen zu heiß. Schweiß sammelt sich in meinem Nacken. Aber ich mag das leichte Brennen auf meiner Haut, das vermutlich einen Sonnenbrand ankündigt, wenn ich mich nicht bald in den Schatten zurückziehe. Der Geruch von Sonnencreme liegt in der Luft, obwohl ich keine aufgetragen habe, gemischt mit dem Rauch von einem Grill, der vermutlich irgendwo auf einem Balkon steht, wo er eigentlich gar nicht stehen darf. Und ich bilde mir ein, dass ich die Aperols riechen kann, die gerade überall in der Stadt getrunken werden.

»Was machst du denn da?«, fragt Lorena.

Sobald ich die Augen öffne, grinse ich.

Sie trägt ein hellblaues Sommerkleid, das ihr bis zu den Knien reicht. Der leichte Stoff wird vom Wind gegen ihren Körper gedrückt, als wollte er mir noch mal beweisen, wie umwerfend sie aussieht. Das habe ich auch schon vorher gewusst. Ich muss mich zwingen, sie nicht zu offensichtlich anzustarren.

»Ich genieße den Sommer«, antworte ich ein bisschen verzögert. »Das solltest du auch mal ausprobieren.«

»Dafür habe ich keine Zeit«, entgegnet sie, und dass ich genau wusste, was sie sagen würde, bevor sie es getan hat, lässt mein Grinsen noch breiter werden.

»Wieso guckst du so?«, fragt sie skeptisch.

»Ach nur so.« Ich zucke mit den Schultern, was ihr natürlich nicht reicht. Doch statt nachzuhaken, kramt sie in ihrer kleinen Handtasche, zieht etwas hervor und wirft es mir in den Schoß. Es ist eine Tube Sonnencreme.

»Ich weiß, dass du keine aufgetragen hast. Aber ich will nicht, dass du an Hautkrebs stirbst. Also benutz sie.«

»Ja, General.« Ich komme ihrem Befehl nach. »Du willst mich wohl doch nicht loswerden.«

»Wenn ich dich loswerden wollte, wüsstest du das, glaub mir.«

Davon bin ich überzeugt, denke ich mir.

Erst als ich jeden Quadratmillimeter Haut, der nicht von Stoff bedeckt ist, eingecremt habe, ist Lorena zufrieden. Wir laufen los, und ich bestehe darauf, dass wir uns ein Eis holen, bevor wir an die Isar gehen.

Lorena bestellt sich Erdbeere und Vanille, und als ich sie damit aufziehe, dass das langweilig ist, meint sie nur, dass sie auf die Klassiker steht. Irgendwie passt das zu ihr. Über mein Minzeis mit Schokostückchen kann sie nur das Gesicht verziehen.

Wir setzen uns ans Wasser, wo es ein bisschen kühler ist. Ich mag, dass sie so nah neben mir ist, dass der Wind ihr Haar in meine Richtung weht und es manchmal sanft über meinen Nacken streicht. Es bildet sich eine Gänsehaut auf meinem Körper, als wären es ihre Finger gewesen, die mich berührt haben.

»Wie läuft’s mit Marina?«, fragt sie mich, nachdem wir einfach in einvernehmlicher Stille unser Eis gegessen haben.

»Gut«, meine ich. »Wir hatten noch ein paar Dates. Aber es ist nichts Ernstes. Das will ich gerade auch gar nicht.« Noch während ich das sage, weiß ich nicht, ob es noch vollkommen stimmt, aber ich traue mich nicht, mich zu fragen, warum sich meine Meinung geändert haben könnte.

»Verständlich«, sagt Lorena. »Wenigstens musst du Sex nicht mehr vermissen.«

»Du auch nicht«, erwidere ich.

»Das stimmt.«

»Man kann sagen, dass unsere ersten Dates sehr erfolgreich waren«, stelle ich fest.

»Mh«, macht Lorena und starrt aufs Wasser, in dem sich die Sonne spiegelt. Sie scheint wie in Gedanken gefangen zu sein. Sie ist irgendwo, wo ich sie nicht mehr richtig erreichen kann.

Während ich sie betrachte, merke ich, dass wir das erste Mal Zeit verbringen, ohne eine Ausrede zu benutzen. Sie braucht gerade keine neuen Rezepte für die Einweckgläser. Mein Bewerbungsprozess für die Konditorausbildung ist auch schon durch, ich warte jetzt nur noch auf eine Zu- oder Absage und weiß nicht, was davon mir mehr Angst macht. Heute sind wir auch nicht verabredet, um unsere Trennungen zu verarbeiten. Wir sind einfach hier, weil wir die Anwesenheit des anderen genießen. Und ich bin froh, dass wir endlich an einem Punkt angekommen sind, wo wir das zugeben können.

Bei ihr bin ich einfach nur ich, auch wenn ich es vor ein paar Monaten noch nicht für möglich gehalten hätte, dass ich mich in der Nähe von Lorena Kronenberger mal so wohlfühlen würde. Aber sie ist eben nicht nur Lorena Kronenberger. Sie ist auch nicht nur die Frau, die wie besessen um ihr Ziel kämpft.

Sie ist die Person, mit der ich lachen kann. Sie ist die Person, die ich ärgern kann und die mich zurückärgert, ohne dass einer von uns die Sprüche des anderen zu ernst nimmt. Und sie ist die Person, der ich mich öffnen kann.

Ich seufze. Ich habe mich bisher nie getraut, ihr wirklich von meiner Familie zu erzählen. Nur Schnipsel. Nur kleine Details. Nicht das ganze Bild. Aber gerade merke ich, dass ich das mit ihr teilen will. Ich seufze erneut.

Das bringt sie dazu, sich zu mir umzudrehen. Fragend schaut sie mich an.

»Ich kümmere mich um meine Familie«, setze ich mit zittriger Stimme an. »Ich bin für meine Geschwister nicht nur ein Bruder, sondern auch so was wie ein zweiter Erziehungsberechtigter. Meine Mutter ist tot, und mein Vater braucht meine Hilfe. Ich möchte den Ausbildungsplatz bekommen, aber als Auszubildender verdient man so wenig. Ich habe Angst, dass ich sie nicht richtig werde unterstützen können.«

»Hast du deswegen in letzter Zeit so viele Überstunden gemacht?«, fragt Lorena.

»Genau. Und das Geld, das du mir für die Rezepte bezahlt hast, hat auch sehr geholfen. Jetzt haben wir einen Puffer. Aber ich habe Angst, dass er nicht reicht.«

Sie ergreift meine Hand, und ich liebe die Selbstverständlichkeit, die inzwischen in jeder Geste steckt, die wir miteinander teilen. Manchmal ertappe ich mich bei dem Gedanken, dass diese leichte Berührung nicht genug ist. Aber ich gestatte es mir nicht, in solchen Gedanken zu verweilen, weil sie gefährlich sind. Lorena hat sehr klare Grenzen aufgestellt, und die werde ich niemals überschreiten.

»Wenn es Probleme gibt, finden wir gemeinsam eine Lösung. Das verspreche ich dir.«

Ich erwidere den Druck ihrer Hand und erkenne, dass ich auch in dieser Berührung Trost finde, auch wenn mein Körper sich nach mehr sehnt.

Umständlich räuspere ich mich. »Können wir über was anderes reden?«

Lorena nickt. Sie lässt mich los und holt ihr Handy raus. »Ich muss auch gleich los.«

Enttäuschung macht sich in mir breit. Ich will doch gar nicht viel. Nur noch ein paar Stunden neben ihr sitzen, auch schweigend, einfach nur bei ihr sein. Aber das sage ich natürlich nicht laut.

»Was hast du vor?«, frage ich unverfänglich.

»Ich treffe mich mit Christopher«, antwortet sie.

»Bei euch wird es ernster, oder?«, hake ich nach, obwohl ich die Antwort eigentlich gar nicht hören will.

»Vielleicht«, setzt Lorena an. »Er ist nett.«

»Er klingt ja wie dein Traummann«, sage ich sarkastisch.

Mir gefällt es, wenn sie wegen mir belustigt und genervt zugleich die Augen verdreht. »Ich verbringe gern Zeit mit ihm. Es ist angenehm.«

»Wie romantisch.«

»Du bist furchtbar.«

»Ich bin der Wahnsinn. Deswegen verbringst du ja so gern Zeit mit mir.«

Sie widerspricht mir nicht, und das reicht mir eigentlich schon.

»Ich geh dann mal los.« Sie steht auf und sieht noch einmal nachdenklich zu mir herunter.

»Wieso guckst du mich so an?«

Sie wird kurz sehr ernst, wie eigentlich nur Lorena ernst werden kann. Auf eine Weise, die nahelegt, dass sie über alles nachdenkt, was auf der Welt von Bedeutung ist. »Danke, dass du mir das mit deiner Familie erzählt hast. Das weiß ich sehr zu schätzen.«

Auf einmal sitzt da ein großer Kloß in meinem Hals. »Sehr gern«, kriege ich hervor.

Sie lächelt sanft, dann wendet sie sich ab und geht.

Ich sehe ihr nach und frage mich, ob ich das vielleicht mein ganzes Leben lang machen werde.

***

Mein Herz rast mit mir um die Wette, während ich durch das Kaufhaus hetze. Der Brief in meiner Hand flattert im Fahrtwind, und ich umklammere ihn so fest, als könnte ich auch die Worte, die darauf geschrieben stehen, verlieren, wenn ich ihn aus Versehen loslasse.

Wo ist Lorena? Ich muss sie unbedingt finden. Sofort. Jetzt. Ich muss mit ihr reden. Nur mit ihr. Mit niemandem sonst.

Mehr kann ich gerade nicht denken.

Ich komme vor ihrem Büro zum Stehen und schlittere fast an der geöffneten Tür vorbei. Doch sie sitzt nicht darin. Ich schnaufe frustriert und laufe weiter. Tobias, der Assistent ihres Vaters, sitzt mehrere Räume weiter an seinem Schreibtisch. Er weiß immer, wo Lorena gerade ist. Dass er in sie verliebt ist, ist momentan wohl das offenste Geheimnis im Kaufhaus Kronenberger.

»Tobias«, grüße ich ihn freudig. Ich traue mich nicht, den Vorraum zu Joachim Kronenbergers Büro zu betreten. Manchmal vergesse ich, dass er Lorenas Vater ist. Wenn ich Zeit mit ihr verbringe, scheint sie nur wenig mit der Welt ihrer Familie zu tun zu haben. Aber sobald wir hier sind, kann ich mich der Wahrheit kaum noch entziehen.

Ich bleibe in der geöffneten Tür stehen, als spürte ich, dass es mir nicht zusteht, in diese Sphäre einzudringen.

»Hey, Milo«, gibt Tobias freundlich zurück.

»Weißt du, wo ich Lorena finde? Es geht um die Kulinarikabteilung. Es ist wichtig, dass ich sofort mit ihr rede.«

So richtig gelogen ist das alles gar nicht. Aber Tobias wird sich definitiv eine ganz andere Situation ausmalen als die, die tatsächlich vorliegt.

»Sie ist gerade in der Kulinarikabteilung, soweit ich weiß«, meint er und strahlt sofort eine gewisse Eifrigkeit aus. Wenn er Lorena helfen kann, ist er immer zur Stelle. »Da steht ein Termin bei Herrn Kronenberger im Kalender. Sie sind anscheinend zum Kaffee verabredet. Im Goldenen Ausblick

So heißt das Café auf der Etage, das direkt an der Fensterfront liegt. Von den kleinen Tischen hat man einen Ausblick über ganz München. Dort habe ich nicht nach ihr gesucht, als ich gerade eben übers Stockwerk gerannt bin.

»Danke dir!«

Tobias sieht mich an, als hätte er am liebsten salutiert. Anscheinend kann er es sich nur knapp verkneifen. Ich schenke ihm noch ein dankbares Lächeln und renne weiter.

Gerade ist Hochbetrieb, und ich komme nur halb so schnell voran, wie ich möchte. Natürlich wird die Nachricht in diesem Brief nicht ablaufen, nur weil ich sie nicht direkt verkünde. Aber es fühlt sich ein bisschen so an.

Meine Schicht beginnt in einer halben Stunde, und dann am Stand festzusitzen, ohne vorher mit Lorena gesprochen zu haben, kommt mir unerträglich vor.

Endlich erreiche ich die oberste Etage und werde ein bisschen langsamer, um meinen Atem zu beruhigen. Ich kann ja schlecht völlig aus der Puste in das Café Goldener Ausblick stürmen.

Im Café halte ich nach Lorena Ausschau. Die runden Tische stehen direkt an der Fensterfront. So nah, dass ich vermutlich Höhenangst bekommen würde, statt meinen Kaffee genießen zu können.

Zuerst sehe ich Lorenas Eltern, die nebeneinandersitzen und doch weit voneinander weg wirken. Und dann mache ich Lorena aus, die sich mit ihnen unterhält. Doch das war noch nicht alles.

Neben ihr sitzt Christopher. Ich kann mich an den Moment zurückerinnern, als sein Profil auf ihrem Handy aufgetaucht ist. Manchmal ertappe ich mich dabei, wie ich mir vorstelle, dass ich ihn wegswipe, bevor die beiden matchen können. Es ist ein kindischer Gedanke, aber ich kann mich nicht so richtig gegen ihn wehren.

Obwohl sie ihn jetzt schon seit mehreren Wochen datet, redet sie nie besonders viel über ihn, weswegen ich nicht genau weiß, was Lorena von ihm hält. Und ich glaube, sie weiß es auch nicht so richtig. Er passt auf dem Papier sehr gut zu ihr. Auch jetzt macht er sich gut an ihrer Seite. Er trägt einen schicken Anzug. Seine hellen Haare sind zurückgegelt, und sein Lächeln kann man eigentlich nur als professionell beschreiben. Seinem Vater gehört irgendein Unternehmen, das was mit der Pharmaindustrie zu tun hat, und er hat da auch irgendeine Aufgabe. Ich habe die Details vergessen oder nur so halb zugehört, als Lorena mir davon erzählt hat. Ich bin mir aber sicher, dass auch sie ihm nur halb zuhört, wenn er darüber redet.

Lorena lächelt auch professionell. Sie lacht und wirkt interessiert. Aber ich kenne sie jetzt doch gut genug, um zu wissen, dass das nur aufgesetzt ist. Und ab und zu merke ich, wie einige Muskeln in ihrem Gesicht zucken, als hätte sie Schmerzen.

Der Brief fällt mir tatsächlich aus der Hand, weil ich ihn kurz vollkommen vergessen habe. Ich hebe ihn wieder auf, stecke ihn in meine hintere Hosentasche und glätte mein Outfit, das mir im Vergleich zum schicken Anzug, in dem Christopher steckt, geradezu schäbig vorkommt. Trotzdem laufe ich zielstrebig auf den Tisch zu, als hätte ich einen richtigen Grund, hier zu sein.

»Verzeihen Sie die Störung«, wende ich mich an den Tisch, an dem nur Menschen sitzen, die wohl die Nase rümpfen würden, wenn sie wüssten, wie das Haus aussieht, in dem ich aufgewachsen bin.

Nein. Das ist unfair. Lorena würde das nicht tun. Das weiß ich.

»Ja?«, fragt Joachim Kronenberger kritisch und schätzt mich einmal mit seinem Blick ab. Die rote Weste und Krawatte, die ich am Stand immer tragen muss, kommen mir unter seinen prüfenden Augen so unpassend wie eine Clownsnase vor. Erinnert er sich daran, dass wir gemeinsam mit Juli und ihren anderen Freunden an Kerstins Grab standen? Vermutlich nicht. Dann würde er mich wohl anders betrachten.

Lorenas Mutter schenkt mir nicht einmal richtig ihre Aufmerksamkeit. Die liegt voll und ganz auf dem Mann, den sie in ihrem Kopf vermutlich schon ihren Schwiegersohn nennt.

Lorena hat mir zwar schon erklärt, warum sie mir nach unserem Kuss so eine unfreundliche Ansage gemacht hat. Aber während ich auf demselben Quadratmeter stehe wie ihre Eltern, beginne ich, so richtig zu begreifen, was sie mit ihren Worten wirklich gemeint hat. Von ihnen geht eine missbilligende Ausstrahlung aus, ohne dass sie auch nur ein Wort sagen müssen. Es ihnen recht zu machen, muss unmöglich sein.

Und obwohl auch ich immer das Gefühl habe, meiner Familie nicht gerecht zu werden, weil ich immer noch besser für sie sorgen könnte, geben sie mir doch nie das Gefühl, nicht genug für sie zu sein. Das kommt nur aus mir selbst.

»Frau Kronenberger«, wende ich mich mit Verzögerung an Lorena. Es irritiert sie sichtlich, dass ich sie so anspreche. Aber sie hat sich schnell gefangen und sieht mich fachmännisch an. Doch da ist immer noch dieses leichte Zucken. Etwas stimmt nicht. Ich muss allein mit ihr sprechen, um herauszufinden, was los ist.

»Herr Weber«, gibt sie zurück. Und aus irgendeinem Grund muss ich mir jetzt Mühe geben, mir mein Grinsen, das bereits an meinen Mundwinkeln zieht, zu verkneifen. »Wie kann ich Ihnen helfen?«

Ich habe mir keine Ausrede ausgedacht, bevor ich an diesen Tisch herangetreten bin. Was ich in diesem Moment bitterlich bereue. Doch bevor ich richtig in Schweiß ausbrechen kann, rede ich einfach drauflos. »Ihre Präsenz wird in der Küche verlangt. Ihre grandiose Idee mit den Einweckgläsern ist ein durchschlagender Erfolg. Und nun brauchen die Köche Ihre fachmännische Meinung.«

Diesmal kämpft Lorena ein Grinsen nieder. Vielleicht habe ich ein bisschen zu dick aufgetragen. Aber ich weiß, dass sie von ihrer Familie nicht die Anerkennung bekommt, die sie definitiv verdient. Manche Menschen muss man eben draufstoßen.

»Die Arbeit ruft«, sagt Lorena an ihre Eltern und Christopher gewandt. »Es tut mir leid.«

»Entschuldige dich nicht dafür. Das ist wichtig«, meint Christopher sofort und gibt ihr einen kurzen Kuss auf den Mund, den man auch in der Anwesenheit von Eltern austauschen kann. Trotzdem wünschte ich mir, er hätte es nicht getan, und verbiete mir mal wieder, aus meinen eigenen Gefühlen Schlüsse zu ziehen.

»Danke dir«, meint sie. »Kommt ihr kurz ohne mich zurecht?«

»Ich freue mich, wenn ich noch die Möglichkeit habe, mich mit deinen Eltern zu unterhalten. Vielleicht verraten sie mir ja peinliche Geschichten über dich.«

Lorenas Mutter lacht viel lauter, als bei diesem mittelmäßigen Scherz angebracht wäre. Aber ein Mann mit Geld und aus der richtigen Familie kann es in ihren Augen wohl nur richtig machen. Und ein Mann ohne Geld aus der falschen Familie wohl nur falsch.

»Wenn du ganz lieb fragst«, säuselt Lorenas Mutter, und man könnte fast meinen, sie würde Christopher daten und nicht ihre Tochter.

»Dann bis später.«

Lorena erhebt sich und folgt mir mit für sie ein bisschen unsicheren Schritten. Wir betreten den Bürokomplex, und ich führe sie direkt zu ihrem Büro. Dort lässt sie sich kraftlos auf ihren Stuhl fallen und sackt ein bisschen in sich zusammen, was auch so überhaupt nicht zu ihr passen will.

Mit wenigen Schritten bin ich bei ihr und gehe vor ihr in die Hocke.

»Was ist los?«

»Man verlangt wohl doch nicht in der Küche nach mir«, zieht sie mich auf.

»Lenk nicht ab«, fordere ich, ohne auf ihre Aussage einzugehen, weil wir ohnehin beide die Antwort darauf kennen.

»Ich habe nur meine Tage«, meint sie und macht eine wegwerfende Handbewegung. Doch wieder zuckt sie leicht zusammen. Seitdem wir uns in den sicheren vier Wänden ihres Büros befinden, ist ein Teil ihrer Selbstbeherrschung von ihr abgefallen, und ich kann deutlicher erkennen, wie schlecht es ihr geht.

»Bleib hier«, fordere ich und gehe zur Küche. Dort lasse ich einen Tee kochen, und eine der Küchenhilfen findet sogar eine Wärmflasche. Es dauert nur wenige Minuten, aber das geht mir eigentlich schon nicht schnell genug. Ich will sie nicht allein lassen.

Ich eile so schnell, wie der heiße Tee in meiner Hand es zulässt, in Lorenas Büro zurück und reiche ihr beides.

Sobald ich eintrete, setzt sie sich reflexartig ein bisschen gerader hin. Doch als sie mich erkennt, lässt sie sich wieder in den Stuhl sinken, und ich nehme das als Zeichen, dass sie mir wenigstens ein bisschen vertraut. Das sollte mich wohl nicht so sehr freuen, wie es tut.

»Hier«, sage ich und reiche ihr beides.

Sie zieht kritisch die Augenbrauen in die Höhe.

»Ich habe eine kleine Schwester, die seit ein paar Monaten ihre Tage hat.«

Lorena lächelt, obwohl die Schmerzen wohl immer noch da sind.

Ich muss nicht noch mal nachhaken, aber sie erklärt es trotzdem. »Ich habe Endometriose. In den letzten Monaten konnte ich gut damit umgehen. Aber manchmal sind die Schmerzen echt schlimm. So wie heute.«

»Und trotzdem bist du bei der Arbeit?«, frage ich irritiert und kann mich gleichzeitig an mehrere Situationen erinnern, in denen mir Lorena seltsam verkrampft vorkam. Damals kannte ich sie aber noch nicht gut genug, um es auch deuten zu können. Ich wünschte, ich hätte es schon früher erkannt. Sofort fühle ich mich schuldig, weil ich es nicht getan habe.

»Natürlich bin ich das«, entfährt es Lorena ein bisschen ungehalten. »Meine Familie traut mir nichts zu, weil ich eine Frau bin. Denkst du, meine Chancen, dieses Kaufhaus eines Tages zu übernehmen, steigen, wenn ich bei der Arbeit fehle, weil ich Frauenprobleme habe?« Sie malt Gänsefüßchen in die Luft.

»Du hast richtige Schmerzen«, entgegne ich, obwohl mir bewusst ist, dass es nicht sie ist, die ich davon überzeugen muss, wie unfair das alles ist. »Das ist keine Kleinigkeit.«

»Das mag sein. Aber sie würden es wieder nutzen, um es gegen mich zu verwenden.«

Ich wünschte, ich könnte ihr einreden, dass es nicht so wäre. Aber die Wahrheit ist wohl leider, dass sie recht hat.

Also sage ich gar nichts und ergreife wie immer, wenn mir nichts Besseres einfällt, ihre Hand. Sie lächelt wieder ein bisschen. Vielleicht ist es manchmal sogar gut, wenn mir nichts Besseres einfällt. Ihre Hand zu halten, fühlt sich aufregend und beruhigend zugleich an. Meiner Mutter wäre bestimmt ein seltsamer Vergleich dazu eingefallen. Ihre Hand zu halten, ist, als würde man seine Zukunft halten, oder so was. Und ich hätte nicht verstanden, was sie damit eigentlich sagen will, und es wäre mir erst Monate später aufgegangen.

»Wieso lächelst du gerade so?«, fragt mich Lorena.

»Wie denn?«

»Anders als sonst irgendwie.«

»Ich habe an meine Mutter gedacht«, sage ich ehrlich. »Ich glaube, sie hätte dich gemocht.«

Lorena erhöht den Druck ihrer Hand auf meine. Ich glaube, das macht sie auch, wenn ihr nichts Besseres einfällt. Und vielleicht finde ich es auch schön, wenn ihr nichts Besseres einfällt.

Obwohl ich das eigentlich nicht will, muss ich mich irgendwann erheben und sie loslassen. Meine Schicht ruft, und ich kann mich nicht vor ihr drücken.

»Sag, wenn du noch was brauchst«, fordere ich mit Nachdruck und wende mich schon zur Tür. Da hält mich ihre Stimme noch mal zurück.

»Was hast du da in der Hosentasche?«

Ich bleibe irritiert stehen und greife zu meiner hinteren Hosentasche. »Hast du mir etwa auf den Hintern geguckt, General?«, ziehe ich sie auf.

»Auf den riesigen weißen Umschlag, der da eigentlich nichts zu suchen hat, ja«, erwidert sie trocken. Sie lässt sich nicht so leicht aus dem Konzept bringen.

»Ach so ja«, meine ich dann und drehe den Brief in meinen Händen, wegen dem ich erst so hektisch durchs Kaufhaus gerannt bin und den ich dann doch vergessen habe. »Davon wollte ich dir eigentlich erzählen.«

Ich mache eine Kunstpause, und Lorena verdreht die Augen.

»Mach es nicht so spannend«, fordert sie.

»Ich habe die Ausbildungsstelle bekommen. Und ich wollte, dass du der erste Mensch bist, der davon erfährt.«

Lorena erhebt sich, die Wärmflasche geht mit einem Platsch auf den Boden, und dann steht sie auch schon vor mir und schließt die Arme um meinen Hals.

»Herzlichen Glückwunsch«, flüstert sie ganz nah an meinem Ohr.

Ein Schauer geht durch meinen Körper, und ich drücke sie instinktiv an mich. Ihr Geruch dringt in meine Nase und erinnert mich sofort an ein dunkles Zimmer, vertrauliche Worte und einen Kuss, der nach Jägermeister schmeckt.

»Danke«, kriege ich heiser hervor und halte sie einfach fest. Solange sie es zulässt. Und muss wohl langsam einsehen, dass es keinen Unterschied macht, wenn ich keine Schlüsse aus meinen Gefühlen ziehe. Sie sind trotzdem da.