LORENA
Oktober
In besonders schicken Restaurants kommt mir der Geräuschpegel leiser vor als in anderen Lokalen. Auch hier sitzen viele Menschen und unterhalten sich miteinander. Aber sie wirken kontrollierter. Es dringt nie ein schallendes Lachen durch das Hintergrundrauschen. Hier sind keine Kinder, die schreien könnten. Niemandem fällt klirrend das Besteck aus der Hand. Und irgendwie fehlt mir deswegen etwas.
Im Kaufhaus gibt es auch reiche Klientel, aber eben nicht nur. In der Spielwarenabteilung herrscht Chaos. Es gibt Gruppen, die schlendern nur an den Auslagen vorbei, ohne die Absicht zu haben, etwas zu kaufen. Sie besuchen das Kaufhaus wie andere ein Museum. Und ich verstehe sie. Ich wünschte, sie wären auch jetzt hier. Meine Umgebung kommt mir leblos vor.
Ich sitze neben meinem Bruder Johann und meinen Eltern gegenüber. Wenn meine Mutter isst, fällt nie auch nur ein Krümel von ihrer Gabel. Manchmal macht mich ihre krampfhafte Perfektion richtig wütend. Ich will doch nur, dass ihr auch mal was aus der Hand fällt, eine Haarsträhne nicht dort sitzt, wo sie hingehört, sie endlich mal die Emotionen rauslässt, die sie vor der ganzen Welt verschlossen hält. Dann würde ich mich selbst weniger ungenügend fühlen.
Intuitiv streiche ich meine Bluse mit beiden Händen glatt. Und mache es gleich noch mal, weil einmal nicht gereicht hat, um mich zu beruhigen.
»Ich kann es immer noch nicht fassen, dass du dich von Christopher getrennt hast«, sagt meine Mutter.
Dieses Thema schlägt sie seit einem Monat immer und immer und immer wieder an. Jedes Mal klingt sie aber so, als würde sie ihre Entrüstung zum allerersten Mal zum Ausdruck bringen. Sie wird einfach nicht müde, mir Vorwürfe zu machen.
»Ich hatte keine Gefühle für ihn. Das bringt doch dann auch nichts.« Das sage ich auch nicht zum ersten Mal. Zwischendurch hatte ich überlegt, ob ich mir immer mal wieder neue Erklärungen ausdenken sollte, um meiner Mutter ein bisschen Abwechslung zu bieten. Aber die bietet sie mir ja auch nicht, also sollte ich keine Rücksicht auf sie nehmen.
Meine Mutter schüttelt tadelnd den Kopf, als wäre das ein kindischer Grund, eine Beziehung zu beenden. Genau das ist es für sie vermutlich auch. Was erklären dürfte, warum sie lieber verkrampft neben meinem Vater sitzt, statt uns endlich allen den Gefallen zu tun, sich von ihm scheiden zu lassen.
»Er war ein anständiger junger Mann aus guter Familie. So viele gibt es von denen nicht. Wie viele willst du noch vergraulen?«
So gemein ist sie bisher noch nicht geworden, und ich kann es nicht verhindern, dass ich leicht zusammenzucke. Natürlich fällt mir die Kartoffel, die ich gerade feinsäuberlich auf meine Gabel geschoben hatte, wieder auf den Teller. Was den aufmerksamen Augen meiner Mutter natürlich nicht entgeht.
»Iss anständig.«
Johann hat heute Abend schon mehrmals mit offenem Mund gekaut und mit vollem Mund gesprochen. Eine seiner Kartoffeln liegt irgendwo zu unseren Füßen unter dem Tisch. Ich atme einmal tief durch. Wieso rege ich mich darüber überhaupt noch auf? Ich kenne das doch alles schon.
»Ich hatte keine Gefühle für ihn.« Ich komme mir vor wie eine Platte, die einen Sprung hat und dazu verflucht ist, immer und immer wieder das Gleiche zu sagen. »Und es wäre unfair gewesen, so zu tun, als wäre es anders.«
»Ich hatte ihn schon zum Sommerfest eingeladen«, jammert meine Mutter, als hätte sie mir gar nicht richtig zugehört. »Wie unangenehm wird es, ihn jetzt wieder auszuladen?«
Ich würde sie ja darauf hinweisen, dass das Sommerfest erst im Sommer stattfindet, also erst in über einem halben Jahr. Bis dahin hat Christopher das Fest – und auch mich – vermutlich schon längst wieder vergessen. Aber wenn ich das sage, würde es meiner Mutter mit Sicherheit wieder missfallen. Also sage ich lieber gar nichts mehr.
»Magnus’ Mutter hat nach dir gefragt. Anscheinend hat Magnus immer noch Interesse an dir, obwohl du ihn so schändlich behandelt hast. Melde dich doch mal bei ihm.«
Magnus Frederick Friedrich Wilhelm Robert Justus Maximilian von und zu Arschkriecher hat mir gerade noch gefehlt. Aber ich mache nur eine vage Kopfbewegung, die man als Nicken oder auch als Kopfschütteln interpretieren kann, je nachdem, was man sehen will.
»Die beiden machen sich gut bei der Arbeit«, versucht mein Vater, das Thema zu wechseln. Dabei wirft er mir einen Blick zu, der wohl verschwörerisch gemeint ist. Aber er wirkt eher gequält. Genauso wie sein kläglicher Versuch, es bei mir wiedergutzumachen.
»Natürlich macht sich Johann gut«, sagt meine Mutter sofort und drückt kurz Johanns Oberarm.
»Lorena auch«, beharrt mein Vater. Ich weiß, dass es lieb gemeint ist, aber es kommt mir so vor, als würde er Almosen an mich verteilen.
»Mh«, macht meine Mutter und steckt sich natürlich genau in dem Moment den nächsten Bissen Fisch in den Mund, um darauf nichts erwidern zu müssen.
Ich würde darüber lachen, wenn mir nicht schon die ersten Tränen von innen gegen die Augen drücken würden. Ich blinzle, bis das Gefühl nachlässt. Warum will ich gerade weinen? Es ist ja nicht so, als wäre das eine neue Situation. Ganz im Gegenteil. In diesem Moment finde ich mich ständig wieder.
»Lorena hat die Kulinarikabteilung lukrativer gemacht.«
Ich wünschte, mein Vater würde das Thema einfach fallen lassen. Dann würde mich das Verhalten meiner Mutter nicht immer und immer wieder verletzen.
»Kannst du mir das Salz reichen, Joachim?«, fragt Johann. Er kann nicht zu mir herübersehen. Er will genauso wenig über meine Erfolge reden wie unsere Mutter. Hat er so große Angst davor, jemals wieder in dem Schatten einer anderen Person zu verschwinden, dass er mir lieber mein ganzes Licht stiehlt, damit diese Gefahr nie wieder besteht?
»Ja, reich ihm bitte das Salz, Joachim«, äffe ich meinen Bruder nach, weil ich es nicht unterdrücken kann.
»Nenn deinen Vater nicht so. Das ist albern«, ermahnt mich meine Mutter, obwohl es mein Bruder gerade mal vor wenigen Sekunden ebenfalls getan hat.
Mir entfährt ein frustriertes Lachen, bevor ich es verhindern kann.
Meine Mutter zieht kritisch die Augenbrauen hoch. »Hast du noch was zu sagen, Lorena?«
Oh ja, würde ich gern sagen.
Eine Menge, würde ich gern sagen.
Dann würde ich sie darauf hinweisen, dass sie gar nicht so unauffällig ist, wie sie denkt, wenn sie dieses Familienessen immer dann plant, wenn Juli auf gar keinen Fall in München ist.
Ich würde ihr deutlich machen, dass sie mich schlechter behandelt, weil ich eben kein Sohn und nur eine Tochter bin, obwohl sie mich als Frau doch besser verstehen müsste.
Die Liste ist lang. Doch ich spreche nicht einen Punkt laut aus.
»Nein«, sage ich also, streiche wieder meine Bluse glatt und schweige den restlichen Abend, und niemandem fällt es auf, niemanden stört es.
***
An diesem Abend komme ich völlig erschöpft in meine Wohnung. Sobald ich die Tür hinter mir schließe, entfährt mir ein Seufzen, das ich wohl schon mehrere Stunden zurückgehalten habe. Ich seufze gleich noch mal, weil ich mir beweisen muss, dass ich noch existiere. Meine Familie weiß vielleicht, dass ich am Leben bin. Aber sie sehen mich nicht. Nicht wirklich. Sie sehen nicht das, was mich ausmacht. Und deswegen fühle ich mich in ihrer Gegenwart manchmal, als wäre ich gar nicht richtig da.
Ich lasse den Schlüssel in die Schale fallen, und der Aufprall kommt mir so laut wie eine Explosion vor.
Ich kicke meine Schuhe von meinen Füßen und lasse meinen Mantel auf den Boden fallen. Ich bin so verdammt müde, ich habe nicht mal mehr die Kraft, alles richtig aufzuhängen.
»Lorena?«, kommt Stellas Stimme aus der Küche.
»Ja?«, gebe ich zurück, während ich mich auf die angelehnte Tür zubewege.
»Ich will kurz mit dir reden.«
Stella sitzt am Küchentisch, eine Tasse Tee vor sich. Eine Kanne und eine weitere Tasse hat sie auch eingedeckt. Sie wirkt angespannt. Ihre Beine hibbeln, und sie zieht immer wieder eine ihrer Locken lang, bis sie glatt ist, und lässt sie dann zurück in ihre Ursprungsform springen.
»Was ist los?«, frage ich sofort alarmiert. »Geht es Benny gut?«
»Natürlich«, sagt Stella schnell. »Er macht sich gut in der Schule und geht wöchentlich zur Therapie. Ihm geht’s gut.«
Ich atme direkt auf. Nach den letzten Jahren fällt es mir schwer, nicht ständig vom Schlimmsten auszugehen.
»Geht’s Joschka gut?«, frage ich als Nächstes. Ich habe Augusts Freund erst vor wenigen Monaten kennengelernt. Er wollte nicht alle Mitglieder der Familie seines toten Freundes auf einmal treffen, was ich gut verstehen kann. Stella und Matthew kannte er als Erstes. Dann Benny. Und dann war er im Sommer gemeinsam mit mir bei Oma Coletta. Ich wünschte, ich könnte ihn öfter sehen und ihn alles fragen, was er gemeinsam mit August erlebt hat. Aber ich weiß, dass ihm das vermutlich zu viel wäre. Deswegen akzeptiere ich, dass wir nur sporadisch Kontakt haben.
»Ihm geht’s auch gut«, sagt Stella. »Jedem geht es gut, also musst du jetzt auch nicht eine ganze Liste abfragen.«
Ich hatte schon Matts Namen auf der Zunge liegen, schlucke ihn jetzt aber wieder runter und setze mich Stella gegenüber an den Tisch.
»Okay, aber wenn du ein Gespräch so ankündigst, kannst du es mir auch nicht verdenken, dass ich direkt davon ausgehe, irgendwas wäre los.«
»Das stimmt. Das war meine Schuld«, gibt Stella zu. Sie wirkt noch ein bisschen unruhiger.
»Ist was mit dir los? Du wirkst, als würdest du gleich aus deiner Haut fahren.«
Stella hält abrupt in ihren Bewegungen inne, aber dadurch wirkt sie, als würde sie vor angestauter Energie vibrieren.
»Bitte rück einfach mit der Sprache raus. Sonst werde ich auch noch nervös.«
Stella seufzt, nickt aber. »Du hast recht.« Sie seufzt wieder. Nie ein gutes Zeichen. »Matt und ich haben geredet. Und wir wollen …« Sie stockt, und ich verdrehe die Augen.
»Stella«, ermahne ich sie.
»Jaja«, macht sie. »Matt und ich wollen zusammenziehen.«
Sie reißt das Pflaster ab, genauso wie ich gefordert habe, doch nun wünschte ich mir, sie hätte es einfach dran gelassen.
»Also ich will in seine Wohnung ziehen«, beginnt Stella, zu plappern, als ich nicht direkt reagiere, um die seltsame Stille zwischen uns zu füllen. »Und ich weiß, dass du die beste Mitbewohnerin der Welt bist und er nicht mal ansatzweise so ein toller Mitbewohner sein wird. Aber ich würde gern immer neben ihm aufwachen und …«
»Ich verstehe das schon«, unterbreche ich sie, bevor sie noch an ihren eigenen Worten erstickt, weil sie vergessen hat, zu atmen. »Du musst mir nicht erklären, warum du mit deinem Freund, den du liebst, zusammenleben willst.«
Stella seufzt wieder. Diesmal aber erleichtert. »Danke, dass du es verstehst!«
Ich verstehe es. Das stimmt. Trotzdem wird mir auf einmal ziemlich kalt.
»Natürlich tue ich das«, presse ich hervor und setze ein Lächeln auf, das sich gezwungen anfühlt. »Herzlichen Glückwunsch! Das wird bestimmt großartig.«
Stella springt auf und nimmt mich in den Arm. Ich schaffe es noch eine Stunde lang, meine Freude zu heucheln und sie auszufragen, wie sie die Wohnung nun einrichten will, wenn sie bei ihm einzieht. Ein paar Mal gähne ich sehr strategisch, bis es ihr auffällt und sie mich fragt, ob ich müde bin. Dann entschuldige ich mich und ziehe mich mit der Ausrede, dass ich erschöpft bin, zurück.
In meinem Zimmer kann ich das falsche Lächeln endlich loswerden. Und die Anspannung fällt von meinem Körper ab. Aber sie war das, was mich zusammengehalten hat. Und auf einmal fühle ich mich ausgeliefert.
Ich stehe einige Minuten in meinem dunklen Zimmer und muss überlegen, bis mir klar wird, wem ich mich ausgeliefert fühle.
Es ist Einsamkeit.