21. Kapitel

LORENA

Dezember

»Bemuttere mich nicht«, fordere ich, doch Milo reagiert nicht einmal richtig auf mich. Er läuft durch meine Küche, als würde sie ihm gehören. Er setzt eine große Kanne Tee auf, füllt nicht nur eine Wärmflasche, sondern gleich zwei, und drapiert frisch gebackene Kekse auf einem Teller.

»So schlimm sind die Schmerzen nicht«, beharre ich, während es sich so anfühlt, als wollte sich meine Gebärmutter einmal von links nach rechts stülpen.

»Sagt sie, während sie vornübergebeugt an dem Tisch sitzt und sich kaum rühren kann.«

Ich zeige ihm den Mittelfinger, was ihm aber nur verrät, wie stark meine Hände zittern. Wissend blickt er mich an.

»Geh bitte in dein Zimmer, und leg dich ins Bett. Du musst heute sowieso nicht zur Arbeit, weil das Kaufhaus geschlossen ist. Du hast frei. Hier ist niemand, dem du was beweisen musst.«

Das stimmt nicht, will ich sagen. Du bist hier. Und was noch viel wichtiger ist: ich selbst.

Ich muss es mir beweisen. Immer. Zu jeder Tageszeit. Egal, wie es mir geht. Denn nur wenn ich alles aushalten kann – die Missgunst meiner Familie, meine Schmerzen und den Druck, den ich mir selbst mache –, nur dann bin ich die Person, für die ich mich gehalten habe. Oder die ich sein will.

Das kann ich aber nicht aussprechen, weil ich dann erkennen müsste, wie albern es klingt. Noch bin ich nicht bereit, mich vollkommen von meinen alten Denkmustern zu lösen.

»Bitte«, sagt Milo und klingt fast flehend. Das lässt meinen Widerstand brechen.

»Okay«, wende ich ein. »Ich mache das aber nur dir zuliebe.«

»Das weiß ich sehr zu schätzen«, sagt er, als wüsste er nicht, dass es eigentlich eine Lüge ist.

Ich stehe auf, meinen Oberkörper kann ich kaum gerade halten, so schlimm sind die Krämpfe, doch Milo läuft voraus, als wüsste er, dass ich es nur schwer ertragen kann, dass er mich so sieht.

Er schlägt meine Decke zur Seite, arrangiert meine Kissen neu und stellt Essen und Trinken auf dem Nachttisch ab.

Sobald ich liege, deckt er mich zu und legt eine Wärmflasche in meinen Rücken und eine auf meinen Bauch. Dabei ist er so liebevoll, dass mir fast die Tränen in die Augen schießen. Ich blinzle heftig, bis sie endlich damit aufhören.

»Hier.« Er reicht mir eine dampfende Tasse, die er mir gerade eingeschenkt hat. »In der Apotheke meinten sie, das hat irgendwelche Kräuter, die helfen.«

»Du warst extra in der Apotheke?«

Er nickt nur und zuckt mit den Schultern, als wäre es keine große Sache. Dabei muss ihm doch klar sein, wie riesig sie ist. Mein Herz wird warm, und das liegt nicht nur an den beiden Wärmflaschen, die mich ein bisschen zum Schwitzen bringen.

»Wie läuft es bei der Arbeit?«, frage ich und atme dann hechelnd ein und aus, während der nächste Krampf meinen Körper zu verbiegen droht.

»Gut«, meint Milo.

Ich warte darauf, dass er sich in langen Beschreibungen des Backprozesses von Croissants oder in den Tücken der Herstellung von Buttercreme verzettelt, aber das bleibt aus. Er schweigt einfach. Obwohl er eigentlich immer etwas über seine Arbeit zu sagen hat.

»Nur gut?«, frage ich nach.

»Einfach gut.«

Er weicht mir aus. Das erkenne ich nicht nur an seinen Worten, sondern auch daran, dass er mir nicht in die Augen sieht.

»Milo …«, setze ich an, doch er lässt mich nicht zu Wort kommen.

»Welchen Film willst du gucken?«

Er setzt sich auf meinen Schreibtischstuhl, den er neben mein Bett geschoben hat, nimmt die Fernbedienung zur Hand und starrt gespannt auf den Bildschirm, obwohl er immer noch schwarz ist.

Ich will nachhaken. Weil wir es uns doch eigentlich nicht durchgehen lassen, wenn wir uns vor schwierigen Themen drücken wollen. Aber heute bin ich zu erschöpft, um gerade sitzen zu können. Ich kann nicht diskutieren. Also nehme ich es einfach hin, dass er nicht mit mir darüber reden will.

»Mir egal. Du kannst irgendwas aussuchen.«

»Das ist mutig«, sagt er zum Bildschirm. »Ich könnte meine frisch gewonnene Macht missbrauchen und einen Film aussuchen, den du furchtbar findest.«

»Das wäre in Ordnung. Du hast mir Tee gebracht.«

Jetzt sieht er mich doch wieder an. »So gefällst du mir nicht, General. Sei bitte nicht so nett zu mir.«

Ich muss lächeln, und die Krämpfe fühlen sich kurz erträglicher an.

»Wir gucken Downton Abbey«, stellt er fest, und schon wieder drücken Tränen von innen gegen meine Augen. Er dürfte alles auswählen, und er nimmt meine Lieblingsserie. Dann stellt er sie auch noch auf Englisch ein, obwohl er Probleme hat, die Akzente zu verstehen, nur weil er weiß, wie sehr ich den Klang ihrer Stimmen mag.

Ich schiebe es auf meine Schmerzen, dass diese kleine Aufmerksamkeit reicht, um mich gefühlsduselig zu machen.

»Okay«, murmle ich in mich hinein und ziehe meine Decke fast bis zu meiner Nasenspitze.

Milo macht es sich auf meinem Schreibtischstuhl bequem. Kurz überlege ich, ihm anzubieten, sich neben mich aufs Bett zu setzen. Aber dann wäre ich vielleicht dazu verleitet, meinen Kopf an seine Schulter zu lehnen. Also lasse ich es lieber.

Milo startet die erste Folge, deren Dialoge ich schon mitsprechen kann. Sein Blick ruht auf mir. Auf eine Weise, die ich nicht deuten kann.

»Was ist los?«, frage ich.

Einen Moment lang wirkt er so, als wollte er etwas ansprechen. Irgendwas Wichtiges. Doch dann schüttelt er einfach nur den Kopf und tut es nicht. Und ich verstehe ihn sogar, weil ich auch die ganze Zeit, wenn er in meiner Nähe ist, so viel sagen will und dann doch nur schweige.

***

»Wieso hast du mir nicht gesagt, dass du deinen Ausbildungsplatz verloren hast?«, rufe ich aufgebracht ins Telefon. Ich bin irgendwann in den vergangenen Minuten aufgestanden, ohne es zu merken, und laufe jetzt gehetzt in meinem winzigen Büro auf und ab, das eigentlich zu klein für all die Energie ist, die ich gerade loswerden muss.

»Ich wollte nicht, dass du dich aufregst«, kommt es mit schwacher Stimme aus meinem Handy.

Mein Herz sinkt sofort. »Natürlich rege ich mich auf. Du hättest zu mir kommen können. Das Kaufhaus gehört meiner Familie, falls du das vergessen haben solltest.«

»Wie könnte ich das jemals vergessen?«

Milos Tonfall lässt mich kurz stutzen. Mich überkommt ein schlechtes Gefühl, das sich in meiner Magengrube einnistet, aber ich kann nicht sagen, was genau es auslöst.

»Ich meine damit, dass ich es hätte regeln können.«

»Ich wollte aber nicht, dass du es für mich regelst, Lorena.«

Er nennt mich nie bei meinem Namen. Er nennt mich immer General. Ich vermisse die scherzende Tonlage, mit der er sich immer über mich lustig macht.

»Sei nicht so verdammt stur oder stolz oder was auch immer du gerade bist. Ich könnte dir helfen. Also lass mich verdammt noch mal auch helfen.«

Er lacht leise auf, und ich ertappe mich beim Wunsch, er stünde jetzt vor mir und ich könnte sein Lachen live hören, damit ich auch sehen kann, wie sich dabei sein ganzes Gesicht aufhellt.

»Was sagt es über mich aus, dass ich diese rumkommandierende Seite an dir tatsächlich mag?«

»Nichts Gutes«, murmle ich in mich hinein.

Er lacht wieder. »Vermutlich.«

Ich seufze schwer. »Milo, wieso darf ich dir nicht helfen?«

»Herr Heinz will mich nicht mehr in seiner Küche haben. Aus gutem Grund. Und wenn du ihn dazu zwingst, mich wieder aufzunehmen, wird das kein gutes Ende nehmen.«

Er hat vermutlich recht. Ich hasse es, wenn ich unrecht habe.

»Aber du kannst weiterhin in der Kulinarikabteilung arbeiten«, sage ich schwach.

Jetzt seufzt Milo. »Okay«, murmelt er schließlich und betont das O länger, als wäre es ihm schwergefallen, auf meinen Vorschlag einzugehen. »Ich kann es mir nicht leisten, dafür zu stolz zu sein.«

»Ein bisschen mehr Begeisterung bitte.« Ich versuche, neckisch zu klingen, aber mir gelingt wohl eher ein niedergeschlagener Ton. »Dann siehst du mich schließlich wieder täglich.«

»Das ist der beste Part am Job, General.«

Mein Herzschlag zieht ein bisschen an.

»Will ich auch meinen.« Ich räuspere mich, weil ich so heiser bin. »Im neuen Jahr sehe ich dich also wieder.«

»Wir sehen uns auch bei der Silvesterfeier, oder?«

»Du kommst zu Juli?«, frage ich vorsichtig.

»Natürlich«, entgegnet er auf eine Weise, als gäbe es überhaupt keinen Grund, warum er nicht hingehen sollte. Wir wissen es beide besser. Aber deswegen muss ich ihn auch nicht darauf hinweisen.

»Das freut mich«, kriege ich hervor.

Es ist jetzt schon fast auf den Tag genau ein Jahr her, dass wir uns in Julis dunklem Wohnzimmer begegnet sind. Ein Jahr lang haben wir ständig Zeit miteinander verbracht und unseren Kuss vielleicht mal angedeutet, aber nie richtig darüber geredet. Und ich glaube, deswegen kribbeln jetzt meine Lippen. Wenn man etwas zu einem Geheimnis macht, gibt man dieser Sache mehr Bedeutung. Mehr Bedeutung, als sie gehabt hätte, wenn man darüber Scherze gemacht hätte. Zumindest rede ich mir das jetzt ein, um nicht darüber nachzudenken, woher die Bedeutung, die ich diesem Moment beimesse, sonst stammt.

»Mich auch«, sagt er mit ein bisschen Verspätung, und ich kann nicht verhindern, dass ich mich frage, ob er an etwas Ähnliches gedacht hat wie ich. Ich wünschte, ich könnte in seinen Kopf blicken. Dann würde ich den Inhalt meines eigenen vielleicht besser verstehen.

»Dann sehen wir uns da«, sage ich, einfach, um nicht schweigen zu müssen.

»Sieht so aus.«

Wie viele bedeutungslose Phrasen können wir noch miteinander teilen, bis wir dieses Gespräch wirklich beenden müssen?

»Hast du nicht gleich die Besprechung?«

Ich nicke. Dass ich mich gleich mit meinem Onkel und mit meinem Vater treffe, um über das letzte Jahr zu sprechen, konnte ich wegen der Neuigkeit, dass Milo seinen Job verloren hat, kurz vergessen. Nun kommt die Nervosität mit einem Schlag zurück.

»Ja«, sage ich verspätet, als mir klar wird, dass Milo mein Nicken gar nicht sehen kann.

»Das wird super«, versichert er mir. »Sie werden dir die Stelle geben, und dein Traum wird wahr.«

»Das klang jetzt sehr dramatisch«, ziehe ich ihn auf.

»Ich gucke zu viele Disney-Filme«, gibt er zu.

Ich grinse und bin erleichtert, dass er mich gerade nicht sehen kann. Es hätte ihm zu viel verraten. Aber vielleicht nach dem Meeting …

Das erste Mal gestatte ich mir, darüber nachzudenken. Wenn ich mein Ziel erreicht habe, wenn ich eine Unterschrift unter das wichtigste Dokument meines Lebens gesetzt habe, dann kann ich mein Leben so leben, wie ich will. Dann muss ich mich nicht mehr ständig beweisen. Also könnte ich auch … daten, wen ich will.

Falls er das auch will …

Mein Rachen wird schon wieder trocken und meine Stimme schon wieder heiser. »Ich mache mir nicht zu viele Hoffnungen«, sage ich und weiß nicht, ob ich über den Job rede oder vielleicht über was ganz anderes.

»Solltest du.« Ich wünschte, er würde auch nicht über den Job sprechen. »Du hast mir doch erst vor einer Woche von den Zahlen erzählt. Die Kulinarikabteilung war noch nie so lukrativ wie in diesem Jahr. Davor können sie nicht die Augen verschließen.«

Ist meine Familie nicht genau darin Meister?

»Ich muss jetzt los, damit ich nicht zu spät komme«, sage ich, obwohl ich gar nicht auflegen will.

»Sag mir dann Bescheid«, fordert Milo mit Nachdruck.

»Am Telefon?«, frage ich. »Ist das eine Telefon-Neuigkeit?«

»Eigentlich nicht«, erwidert er. »Ich will ja dein freudestrahlendes Gesicht sehen, wenn du mir die frohe Kunde überbringst.«

Ich will dein Gesicht immer sehen.

Der Gedanke kommt mir albern vor, aber ich kann meinem Kopf wohl in letzter Zeit nicht verbieten, alberne Dinge zu denken. Wenigstens kann ich meinem Mund noch verbieten, alberne Dinge zu sagen.

»Dann bis morgen«, sage ich.

»Wir werden auf das neue Jahr anstoßen und auf deinen neuen Job als Geschäftsführerin und auf …«

Er spricht nicht weiter. Und gleichzeitig will ich, dass er den Satz beendet, und gleichzeitig will ich es nicht.

»Machen wir«, bekomme ich noch hervor, dann lege ich auf.

Mein Herz rast, und mir bleiben nur fünf Minuten, um es zu beruhigen, bevor ich zum Besprechungsraum gehen muss.

Ich horche kurz in mich hinein und erkenne, was mir mein Herz gerade in Morsecode buchstabiert: Angst. Ich habe Angst, dass sich alles wiederholt.

Ich muss an die Worte meiner Oma denken. Liebe geht nie gut aus, also warum sollte man sich davon zurückhalten lassen?

Aber wie soll ich an den Anfang von Liebe glauben, wenn ich immer nur an das Ende denken kann?

Wie soll ich mich fallen lassen, wenn der Aufprall alles ist, an das ich mich erinnere?

Ich atme tief durch und schüttle mich, in der Hoffnung, meine störenden Gedanken loszuwerden. Es hilft nicht komplett. Aber meine Angst verschiebt sich wie zwei Erdplatten, die damit ein Beben auslösen.

Jetzt fürchte ich mich vor dem Gespräch, das mir bevorsteht.

Ich straffe meine Schultern wie immer, wenn ich nicht will, dass irgendjemand meine Unsicherheiten erkennen kann. Ich streiche meine perfekt gebügelte Bluse glatt und laufe mit zielstrebigen Schritten aus meinem Büro, den Gang entlang und dann in den Besprechungsraum.

Ich setze mich auf einen Stuhl und starre einfach die Tür an, während ich warte. Ich bin zu angespannt, um nach meinem Handy zu greifen und mich abzulenken. Also verharre ich einfach so.

Als sich Schritte nähern, zwinge ich mich, ein bisschen lockerer dazusitzen. Ich will nicht wirken, als würde ich planen, die beiden gleich umzubringen.

Richard und Joachim betreten den Raum, und mein Onkel sieht mal wieder so aus, als hätte er viel Besseres zu tun, als hier zu sein. Mein Vater lächelt mich ein bisschen peinlich berührt an. Die Distanz zwischen uns kann sich wohl nur in seltsamen Gesichtsausdrücken äußern.

»So, wir halten uns kurz«, sagt Richard sofort und setzt sich mir gegenüber hin.

»Natürlich«, sage ich nur, obwohl ich mir denke, dass er die paar Minuten ja wohl für mich erübrigen kann.

Um Zeit geht es vermutlich auch gar nicht. Er fühlt sich angegriffen, weil ich etwas ändern will, das schon immer so war. Er hat die Regeln nicht gemacht. Aber er erhält sie aufrecht. Vermutlich, weil er glaubt, dass sie auch ihn aufrechterhalten.

»Wir haben uns die Zahlen angesehen«, sagt Richard. »Sie sind gut.«

Das ist die Untertreibung des Jahres, und das muss ihm auch bewusst sein.

»Eine solche Steigerung der Einnahmen hatte keine Abteilung des Kaufhauses seit den Siebzigern mehr«, erwidere ich. »Und damals hat noch mein Großvater das Kaufhaus geführt.«

Richard verzieht das Gesicht. Vielleicht war das nicht schlau, aber seine Art bringt mich einfach dazu, auch ein bisschen herablassend zu werden. Keiner von beiden hat es jemals geschafft, eine Abteilung so aufzubauen, wie ich es getan habe. Richard will das vielleicht nicht wahrnehmen, aber das ändert auch nichts an den Tatsachen, die er sogar mit Zahlen nachprüfen kann.

»Es wurden sogar Artikel über die gesteigerte Nachhaltigkeit des Kaufhauses veröffentlicht«, fahre ich fort. »Das hat dem Image geholfen.« Das Wort betone ich, weil wir doch alle wissen, dass Image in dieser Familie alles ist.

»Das stimmt«, sagt mein Vater und lächelt schon wieder so peinlich berührt, als wären wir entfernte Bekannte, die nicht wissen, wie sie miteinander umgehen sollen.

»Ein paar Artikel wurden veröffentlicht«, sagt Richard und kann sich die wegwerfende Geste nicht ganz verkneifen. »Das ist jetzt auch nicht die Welt.«

Ich schlucke hundert verschiedene Kommentare herunter, von denen ich weiß, dass sie mir nicht weiterhelfen werden.

»Ihr habt mir ein Jahr gegeben, um mich zu beweisen. Das habe ich offensichtlich getan. Die Kulinarikabteilung hat gute Presse erhalten und ihren Umsatz gesteigert. Einen besseren Ausgang hätte es gar nicht geben können.«

Mein Vater nickt, Richard macht erst mal gar nichts. Dann lehnt er sich über den Tisch und stützt sich mit beiden Armen ab. Ein Teil von mir weiß schon, dass er verloren hat. Der Rest ist aber noch nicht bereit, sich die Niederlage einzugestehen.

»Ein Jahr reicht nicht, um sich ein gutes Bild machen zu können«, erwidert Richard mit ruhiger Stimme, als würde er damit nicht gerade irgendwas in mir kaputtmachen. »Und es gab schließlich Startschwierigkeiten.«

Damit spielt er auf die Einweckgläser an, obwohl wir beide wissen, dass das keine Startschwierigkeiten waren, sondern Investitionen, die sich vollkommen ausgezahlt haben. Aber das zu sagen, wird mir nichts bringen. Sie wollen mich nicht so sehen, wie ich bin, also werden sie mich immer anders wahrnehmen.

Mir wird heiß und kalt zugleich, während ich wie eine Statue in meinem Stuhl sitze und ihn einfach nur anstarren kann.

»Wir wollen nichts überstürzen. Hier geht es schließlich um eine Jahrzehnte andauernde Tradition. Die werden wir nicht nach einem Jahr über den Haufen werfen«, fährt Richard fort. »Wir sind noch nicht vollständig von deinen Fähigkeiten überzeugt, deswegen geben wir dir ein weiteres Jahr, und dann reden wir noch einmal.«

Ich würde gern schreien. Nur einmal. Um alles rauszulassen. Ich bin mir sicher, wenn ich jetzt den Mund öffnen würde, würde mir ein Schrei entkommen. Deswegen nicke ich einfach.

Was bleibt mir denn anderes übrig?

Ich habe mehr geleistet, als Johann jemals hinbekommen hat. Und es war trotzdem nicht genug. Eigentlich sollte mir bewusst werden, dass es niemals genug sein wird, egal, was ich tue, egal, wie viel ich von mir selbst aufgebe, egal, wie viel Energie ich investiere. Ich sollte einfach aufgeben. Denn in einem Jahr werde ich wieder hier sitzen und die gleichen Worte hören. Trotzdem kann ich meinen Traum nicht einfach aufgeben. Denn da ist noch ein Funke Hoffnung. Nur ein Funke. Aber solange er glüht, werde ich nicht von ihm loskommen.

»Wir haben ein Meeting«, sagt Richard auf einmal und erhebt sich. »Und du musst bestimmt auch wieder arbeiten.«

Er geht einfach. Mein Vater bleibt noch einen Moment. »Du hast deine Arbeit wirklich gut gemacht«, betont er, als würde das alles besser machen.

Ich blinzle nicht mehr, während ich ihn fixiere. »Aber nicht gut genug. Es ist niemals gut genug.«

Er will den Mund öffnen, um etwas zu sagen, aber er wird schweigen. Mein Vater verliert immer die Fähigkeit, zu sprechen, wenn es wirklich darauf ankommt. Und zu schweigen, wenn so viele Worte nötig sind, ist wohl das Feigste, was ein Mensch tun kann.

Ich will ihm nicht beim Zögern und Hadern zusehen, also erhebe ich mich einfach und verlasse den Besprechungsraum. Ich sollte auch das Kaufhaus verlassen. Doch natürlich steuere ich nur die Abstellkammer an, die ich ein Jahr lang fälschlicherweise als Büro bezeichnet habe.

Ich lasse mich auf den Stuhl fallen und starre immer noch geradeaus. Obwohl ich doch inzwischen erkannt haben sollte, dass dort nicht die Zukunft auf mich wartet, nach der ich mich sehne.