MILO
Silvester
Es kommt mir so vor, als wäre ich schon mal hier gewesen. Und damit meine ich nicht nur diesen Ort, sondern auch diesen Moment.
Ich stehe auf dem Dach und schaue über München, während die Ungeduldigen schon die ersten Feuerwerkskörper in den Himmel schicken. Meine Mutter hat mal zu mir gesagt, dass sie diese Menschen gut verstehen kann. Wenn man sich auf etwas freut, erscheint einem auch die Wartezeit von fünf Minuten zu lang, um endlich damit anzufangen.
Ich glaube, sie hatte im Allgemeinen mehr Verständnis für menschliches Verhalten als die meisten. Zumindest basierend auf meinen Erinnerungen, die sich jedes Mal, wenn ich sie hervorhole, ein bisschen mehr so anfühlen, als würden sie in einer verstaubten Box ruhen, auf alten Schwarz-Weiß-Bildern festgehalten, genauso wie die Fotos, die meine Großeltern als junge Menschen zeigen.
Meine Mutter hat sich selten darüber aufgeregt, dass andere Menschen sich nicht gut verhielten. Wenn in der Schule ein Kind etwas Gemeines zu mir gesagt hat, hat sie mir erklärt, dass dessen Eltern sich vielleicht gerade scheiden lassen. Wenn jemand im Supermarkt einen bösen Kommentar gemacht hat, meinte sie, dass er bestimmt Probleme in seiner Familie hat.
So hat meine Mutter ihre Energie gespart, statt sie damit zu verschwenden, sich über andere aufzuregen, wie so viele es tun. Wie auch ich es tue. Und obwohl ich weiß, dass ihre Taktik die bessere ist, fällt es mir doch schwer, sie auch immer anzuwenden.
Ich lehne mich ein bisschen über die kleine Mauer, die das Dach begrenzt. Sie ist zu niedrig, um sicherzugehen, dass keiner von uns hinabfällt. Und ich beuge mich über sie, um mir das noch mal zu beweisen. Während ich hinabstarre, habe ich das Gefühl, dass ich etwas suche, aber ich bin mir nicht ganz sicher, was. Das Einzige, was ich finde, ist ein leichtes Flattern im Magen, weil ich selbst in der Nacht erkennen kann, wie weit es hinabgeht.
»Bitte spring nicht.«
Hannas Stimme zieht mich vom Abgrund fort. Das ist neu. Sonst treibt sie mich darauf zu.
Ich wende mich von der Mauer ab und ihr zu.
Sie steht in einer dicken schwarzen Jacke vor mir und hat die Hände in den Taschen vergraben. Ihr Pony ist mal wieder ein bisschen zu lang und fällt ihr in die Augen. Das tut er immer, obwohl Juli ihn so oft nachschneidet. Aber dass sie öfter blinzeln muss und sich ständig Strähnen fortstreicht, gehört zu Hanna. Genauso wie ihre braunen Augen, die sanft geschwungenen Lippen und das verhaltene Lächeln, selbst in Situationen, in denen ein Lächeln gar nicht verhalten sein müsste, da es sich für seine Biegung der Mundwinkel eigentlich niemals schämen sollte. Aber ich glaube, das tut sie auch nur, wenn wir voreinanderstehen. Und das hätte mir vermutlich schon viel früher etwas sagen sollen.
»Hatte ich nicht vor«, sage ich ein bisschen verspätet.
»Gut«, meint Hanna, und ihr Lächeln wird sofort noch ein bisschen verhaltener, als wüsste es nicht, ob es sich vor mir blicken lassen darf.
Seit wir unsere Nicht-Beziehung beendet haben, haben wir uns nicht mehr richtig gesehen. Wenn ich Juli begegnet bin, war sie manchmal dabei. Aber die letzten Worte, die wir direkt aneinander gerichtet haben, waren bis gerade eben noch unsere Abschiede voneinander.
Unsere Verbindung war nie wirklich vorbei. Wir haben sie immer wieder für beendet erklärt, eine Beerdigung veranstaltet, uns dann aber doch nicht begraben. Das hat sich jetzt geändert. Normalerweise haben unsere Auszeiten immer nur wenige Wochen angehalten. Nun haben wir uns fast neun Monate nicht mehr gesehen. Wir beide wissen, dass das jetzt endgültig das Ende bedeutet.
Und obwohl da auch Melancholie in meiner Brust sitzt, hockt neben ihr auch Erleichterung. Ich kann nicht für immer die gleichen Schritte gehen und dabei hoffen, dass ich endlich mal ein anderes Ziel erreiche. Ich brauche einen neuen Weg. Vielleicht weiß ich noch nicht genau, wie der aussieht. Nachdem ich mal wieder gefeuert wurde und meine Traumausbildungsstelle verloren habe, wohl noch weniger als sonst. Aber ich weiß, dass ich ihn nur finden kann, wenn ich nicht immer das Gleiche mache.
»Ich freu mich, dass du da bist«, sagt Hanna, als ich schweige. »Ich wusste nicht, ob du kommen würdest.«
»Ich auch nicht«, erwidere ich. »Aber nichts spricht dagegen, dass wir Freunde sein können. Und diesmal richtige Freunde.«
Hanna nickt langsam. »Das wäre schön.«
»Also nicht sofort«, setze ich hinzu.
Hanna entfährt ein Lachen, das ein bisschen weniger verhalten ist als ihr Lächeln. »Okay, gut. Ich glaube, das wäre noch ein bisschen viel.«
»Ich glaube auch.« Mein Blick schweift über das Dach. Heute sind mehr Menschen hier als im letzten Jahr. Jeder von Julis Mitbewohnern hat noch weitere Freunde eingeladen, und jetzt befinden sich rund zwanzig Leute hier oben, um deren Leben ich fürchten muss, sobald sie betrunken sind und über das nicht gut gesicherte Dach torkeln.
Ich entdecke Jakob ein bisschen weiter hinten bei der Bierzeltgarnitur, auf der der Alkohol steht. Er will es sich nicht anmerken lassen, aber er schaut nicht gerade unauffällig zu uns herüber.
»Du und Jakob?«, frage ich, weil ich es mir nicht verkneifen kann.
Hanna reißt geschockt die Augenbrauen hoch. »Nein, wie kommst du denn darauf?«
Ich bin mir sicher, dass sie mich nicht anlügt oder mir etwas vorspielt. Trotzdem kann ich es noch immer nicht ganz fassen, dass Hanna auch nach all den Jahren nicht versteht, dass ihr Mitbewohner in sie verliebt ist. Jeder scheint es zu wissen. Nur sie nicht. Aber es ist nicht meine Aufgabe, es ihr zu sagen. Und wenn ich ehrlich bin, bin ich auch noch nicht bereit, es ihr zu sagen. Ich habe mich gegen sie entschieden, aber das heißt nicht, dass ich ihr bei ihrem Liebesleben helfen will.
»Nur so«, antworte ich so beiläufig, als wüssten wir beide nicht, dass sie seinen Namen mal gestöhnt hat, während ich in ihr war.
»Okay«, macht sie nur. Wie seltsam es sich anfühlt, einer Person, der man einmal so viel erzählen konnte, auf einmal nichts mehr zu sagen zu haben.
Ich glaube, ich fühle gerade einen weiteren Verlust. Wir haben unsere Nähe bereits verloren, aber zu erkennen, dass wir sie uns beide nicht wirklich zurückwünschen, fühlt sich wie ein zweiter Verlust an.
»Hiiii.« Julis betrunkener und aufgeregter Schrei reißt uns aus diesem unangenehmen Moment. Ich sehe mich um. Lorena ist gerade durch die Dachluke getreten, und Juli hat sie so stürmisch umarmt, dass die beiden fast rückwärts hineingefallen sind.
»Beruhig dich«, höre ich Lorena nicht ganz so ernst, wie sie wohl will, fordern. »Ich habe nicht viele Ansprüche an mein Silvester, aber ich würde das neue Jahr schon gern lebendig mitbekommen.«
»Sorry, sorry«, murmelt Juli.
»Ich wünsche dir noch einen schönen Abend«, sage ich zu Hanna, lächle sie noch einmal unbeholfen an und laufe dann zu Juli und Lorena hinüber.
Sie hat es heute spannend gemacht. Ich habe ihr mehrere Nachrichten geschrieben, wie die Besprechung mit ihrem Vater und ihrem Onkel lief, aber sie hat keine davon beantwortet.
Hat sie ihre Ziele erreicht? Das will ich nicht nur wissen, weil es Auswirkungen auf unsere Beziehung haben könnte. Ich will es wissen, weil es ihr viel bedeutet.
»Ich brauche einen Drink. Einen starken«, sagt sie gerade zu Jakob, der zu ihnen getreten ist, um Juli zu stabilisieren. Da sie sich so freut, zu Hause zu sein und alle zu sehen, hat sie mit jeder Person, die das Dach betreten hat, erst mal einen Shot getrunken. Das rächt sich jetzt. Auch mit Lorena will sie einen trinken, doch die schüttelt vehement den Kopf, kippt erst ihren Shot und dann auch noch Julis herunter, bevor diese danach greifen kann.
»Du kriegst heute nichts mehr«, sagt Lorena, als hätten sich die beiden ihr ganzes Leben lang gekannt und als wäre sie immer schon Julis große Schwester gewesen, die auf ihre kleine achtgibt.
Manche verpassten Chancen sind tragisch genug, um einem Tränen in die Augen zu treiben. Ich verbiete mir, an die Leben zu denken, die ich niemals gelebt habe und auch niemals leben werde.
Jakob reicht Lorena einen Gin Tonic. Sie trinkt die Hälfte aus, als wäre es Wasser.
Mein Magen verkrampft sich. Unsere Blicke treffen sich, und sie schüttelt kaum merklich den Kopf.
Sie hat die Stelle nicht bekommen.
Ich will sie in den Arm nehmen. Doch wieder schüttelt sie kaum merklich den Kopf, bevor sie sich von mir abwendet, weitertrinkt und sich von Juli mitreißen lässt.
Und auf einmal kommt es mir so vor, als wäre kein ganzes Jahr vergangen und sie wäre wieder eine Fremde, die nicht einmal meinen Namen kennt.
***
Weil sich dieser ganze Abend nicht wie ein eigenständiger Moment anfühlt, sondern nur wie eine Wiederholung, treibt mich irgendwas auch an dieselben Orte. In zehn Minuten beginnt das neue Jahr, und ich steige die Leiter hinunter und betrete dann die dunkle WG.
Ich war ewig nicht mehr hier, aber ich schalte das Licht nicht an, um herauszufinden, was sich verändert hat.
»Da hatten wir wohl dieselbe Idee.«
Insgeheim hatte ich mir gewünscht, ihre Stimme wieder aus der Dunkelheit dringen zu hören.
»Sieht so aus«, sage ich und steuere das Sofa an. Das Licht lasse ich immer noch aus. Es wäre falsch, etwas an der Vertrautheit, die mich gerade überkommt, zu verändern.
Ich setze mich neben Lorena auf das ausgedellte Polster des Sofas. Wieder hält sie eine Flasche Jägermeister umklammert.
»Es tut mir leid, dass du den Job nicht bekommen hast«, murmle ich.
»Es tut mir leid, dass ich dich ignoriert habe.«
»Ist mir gar nicht aufgefallen.«
»Lügner.«
Ich bin mir sicher, dass sie ein bisschen lächelt, während sie das sagt.
»Es ist mir aufgefallen«, gebe ich zu.
»Es tut mir leid.« Sie seufzt schwer. »Ich weiß nicht, wie ich vor anderen mit dir umgehen soll.«
»Einfach wie immer?«
Sie schnaubt. »Wenn das so einfach wäre, könnten wir auch …«
Sie stoppt sich, bevor sie den Satz beenden kann. Aber mein so verdammt leichtsinniges Herz, das seine Lektion vermutlich niemals lernen wird, glaubt zu wissen, was sie sagen wollte, und schlägt schneller. Ganz erwartungsvoll.
»Ja?«, frage ich nach, weil ich mich nicht darauf verlassen will, dass ich diesen Satz wahrheitsgemäß fortgeführt habe. »Dann könnten wir auch …« Sie trinkt einen großen Schluck.
»Bitte sieh mich an«, flüstere ich.
Ein zittriger Atemzug geht einmal durch Lorenas ganzen Körper, dann bewegt sie sich langsam, bis ich ihr Gesicht betrachten kann. Im Licht fällt mir immer jedes Detail darin auf. Aber gerade scheine ich nur zu erkennen, worauf es ankommt. Die Schatten verbergen alles außer die Biegung ihrer rot geschminkten Lippen und die Reflexe in ihren Augen.
»Dann könnten wir was?«, frage ich.
»Du weißt, was ich sagen will.«
»Ich hoffe, dass ich es weiß. Aber das ist nicht das Gleiche, wie es wirklich zu wissen.«
Lorena sieht zu meinem Mund. Über unseren Köpfen dröhnt das Jubeln der anderen. Das neue Jahr hat wohl begonnen. Es könnte mir nicht egaler sein. Ich warte nur auf Lorenas Worte. Sie sind das Einzige, worauf es gerade noch ankommt.
»In dem Fall schon«, meint sie schließlich.
Ich rechne mit noch mehr Zögern. Das ist schließlich das, was Lorena und ich schon seit über einem Jahr machen. Immer und immer wieder. Wir zögern so lange, bis wir gar nichts mehr tun.
Doch heute macht Lorena das nicht mehr. Sie lehnt sich mir entgegen und legt ihre Lippen direkt auf meine. Sie schmeckt genauso wie damals, ist der erste Gedanke, der mir durch den Kopf huscht. Nach den bitteren Kräutern von Jägermeister.
Und danach denke ich nur noch, dass ich mehr will.
Ich ziehe sie an mich und vertiefe den Kuss sofort. Wir nähern uns nicht langsam an. Das machen wir schon viel zu lange. Jedes Wort, jede Berührung und jedes Lachen, das wir geteilt haben, hat uns genau hierhergebracht.
Sie stöhnt an meinen Lippen, und ich ziehe sie noch näher, bis sie auf meinem Schoß sitzt. Die Hände vergräbt sie in meinen Haaren. Dabei ist sie ein bisschen grob, aber das genieße ich irgendwie.
Ich packe sie noch fester an der Hüfte, und sie stöhnt lauter. Sie ist ungehalten. Die Beherrschung, die sonst um Lorenas Körper liegt wie ein eng geschnürtes Korsett, scheint sich aufgelöst zu haben. Sie gibt mir zu verstehen, was sie gut findet. Und als meine Hände zu zögerlich über ihre Seite wandern, ergreift sie sie, um sie auf ihre Brüste zu drücken.
Dass jederzeit jemand dieses Zimmer betreten könnte, ist uns gerade vollkommen egal. Andere Menschen spielen gerade keine Rolle. Nicht ihre Meinungen. Nicht ihre Erwartungen. Nicht ihre Gefühle. Wie könnten sie, wenn ich Lorena so deutlich spüre?
Ich habe mir lange verboten, mir einzugestehen, wie sehr ich das will. Wie sehr ich sie will. Während mein Herz wild in meiner Brust tobt, kann ich es nicht mehr leugnen. Und eigentlich will ich es auch gar nicht.
Sie presst ihre Lippen auf meinen Hals und bringt mich zum Stöhnen. Sie beißt leicht in meine Haut, und ich lasse den Kopf in den Nacken fallen. Dann küsst sie mich wieder.
Wir küssen uns so lange, bis wir nach Luft schnappend innehalten müssen. Lorena löst sich weit genug von mir, damit wir uns in die Augen sehen können. Noch nie hat sie mich so betrachtet. Aber jetzt will ich, dass sie es nie wieder anders macht. Die Sanftheit in ihren Augen scheint nicht zu der Entschlossenheit zu passen, die sie immer ausstrahlt. Aber inzwischen kenne ich sie gut genug, um zu wissen, dass alles, was sie tut, mit Entschlossenheit passieren kann. Auch ein sanfter Blick. Und deswegen spüre ich diesen gerade noch intensiver. Sie sieht mich so an, weil sie es wirklich will. Es ist kein Versehen. Das, was zwischen uns passiert, ist kein Versehen.
»Wollen wir zu mir gehen?«, fragt sie schließlich, und ein angenehmer Schauer läuft einmal durch meinen ganzen Körper.
»Ja«, ist das einzige Wort, das in diesem Moment noch Sinn ergibt.
»Dann los«, meint sie und steht auf. Kurz schwankt sie, aber sie hat sich schnell wieder gefangen. Wir nehmen uns unsere Jacken, wir verabschieden uns von niemandem, sondern machen uns einfach auf den Weg und können, während wir die Treppen hinabgehen, kaum die Hände voneinander lassen und bleiben immer wieder stehen, um uns zu küssen. Lorena ruft ein Taxi, und während der Fahrt kommt es mir so vor, als würde mein ganzer Körper vibrieren, weil sie so nah ist und ich sie gerade nicht berühren darf.
Wir erreichen den Gebäudekomplex, in dem ihre Wohnung liegt. Lorena ergreift meine Hand, wie sie es schon so oft getan hat, und doch ist es diesmal anders, und ich lasse mich einfach von ihr fortreißen. Wir eilen die Stufen hinauf, sie öffnet die Wohnungstür, und wir stolpern über die Schwelle. Sobald die Tür hinter uns ins Schloss fällt, liegen ihre Lippen wieder auf meinen und ihre Hände in meinem Nacken. Sie drückt sich noch enger an mich.
»Schlafzimmer«, murmle ich zwischen zwei Küssen.
»Mh«, macht Lorena nur und läuft rückwärts, ohne sich von mir zu lösen.
Vor der verschlossenen Tür halten wir kurz inne. Lorena sieht zu mir auf. Ihr Blick ist ein bisschen anders als vorher. Er wirkt verschwommen.
»Geht’s dir gut?«, frage ich auf einmal alarmiert. »Wir müssen auch nichts überstürzen.«
Sie nickt, als hätte sie mich kaum verstanden. Ich will mich wiederholen, doch bevor ich dazu komme, sprintet sie auch schon an mir vorbei ins Bad, fällt auf die Knie und übergibt sich ins Klo.