23. Kapitel

LORENA

Januar

Das neue Jahr beginnt noch ein bisschen beschissener, als das letzte geendet hat. Als ich aufwache, dreht sich mein Magen drohend um, obwohl er zu leer ist, um mich wieder zum Übergeben zu bringen. Vom ekelhaften Geschmack auf meiner Zunge wird mir trotzdem gleich noch ein bisschen übler. Ich versuche, meine Augen zu öffnen, aber sie fühlen sich an, als hätte sie jemand zugeklebt.

Wieso habe ich so viel getrunken? Mir hätte doch klar sein müssen, dass meine Probleme auch am nächsten Morgen noch da sein würden. Und dass sie sich verkatert noch schlechter ertragen lassen.

»Wie geht’s dir?«

Die Stimme lässt mich heftig zusammenzucken. Sofort beginnt mein Kopf, zu dröhnen.

»Sorry, ich wollte dich nicht erschrecken.«

Endlich schaffe ich es, meine Augen richtig zu öffnen, und suche mein Zimmer ab, das in einem dämmerigen Licht vor mir liegt.

Milo hockt auf meinem Sofa, das zwischen Kleiderschrank und Schreibtisch steht. Offensichtlich hat er darauf geschlafen, obwohl es schon für mich zu klein wäre. Mir tut alles weh, trotzdem bringt mich der Anblick, wie seine langen Beine über die Lehne hängen, zum Lächeln.

»Alles gut«, sage ich. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich denken, dass mir beim Sprechen der Rachen aufreißt, so trocken ist er.

Milo scheint es mir anzuhören, denn er erhebt sich und reicht mir eine Wasserflasche.

»Hast du ernsthaft auf diesem Minisofa geschlafen?«, frage ich, bevor ich die Flasche ansetze und fast in einem Zug austrinke.

»Ich habe es zumindest versucht.«

Als ich ihm die Flasche zurückgebe, lässt er sich vorsichtig auf dem Fußende meines Bettes nieder. Seine Bewegungen sind so langsam, als wäre er sich nicht ganz sicher, ob es ihm zusteht, hier zu sein.

Wenn es gestern nach mir und nicht nach meinem Magen gegangen wäre, hätte er nicht nur auf diesem Bett gesessen, sondern nackt mit mir darin gelegen.

Die Erinnerungen an den gestrigen Abend kommen langsam zu mir zurück, und ich vergrabe kurz das Gesicht in den Händen.

»Wie sehr habe ich mich danebenbenommen?«, frage ich, obwohl ich die Antwort eigentlich gar nicht hören will.

»Du hast dich nicht danebenbenommen«, beharrt Milo.

»Ich habe dich fast die ganze Zeit ignoriert.«

»Dafür hast du dich schon entschuldigt«, erinnert er mich.

»War trotzdem scheiße.«

Er widerspricht nicht, und ich bin ihm dankbar dafür.

»Und es tut mir leid, dass du mich kotzen gesehen hast.«

Ich bin eigentlich noch nicht bereit, aus meinen Händen aufzutauchen. Doch Milo legt sanft seine darauf und zieht sie noch sanfter von meinem Gesicht, damit ich ihn ansehen muss.

»Ich habe gern auf dich aufgepasst.«

Dass er das so ernst meint, macht diese ganze Situation nur noch schlimmer.

»Obwohl ich natürlich auf einen anderen Ausgang des Abends gehofft hatte«, scherzt er.

Ich lache leise. »Ich auch.«

Wir sehen uns an. Wie sich eben zwei Menschen ansehen, die wissen, wie die Lippen des anderen schmecken, und die herausfinden wollen, wie der Körper des anderen sich auf dem eigenen anfühlt.

Ich unterbreche den Blickkontakt.

Betrunken in der Nacht konnte ich kurz vergessen, welche Regeln gelten. Verkatert am nächsten Morgen erinnere ich mich viel zu deutlich an sie.

»Sie haben mich nicht zur Geschäftsführerin gemacht«, kriege ich schwerfällig hervor, als wollte meine Zunge diese Worte gar nicht formen, weil sie sie dann als wahr annehmen muss.

»Das tut mir ehrlich leid.«

Wie oft werden wir uns wohl noch beieinander für Dinge entschuldigen, für die wir gar nichts können?

»Muss es nicht«, sage ich. »Sie haben nicht endgültig Nein gesagt. Ich soll mich nur weiter beweisen, und dann sehen wir weiter. Es ist schon okay.«

»Ist es nicht«, widerspricht Milo. »Du hast ihnen gezeigt, wie fähig du bist, aber sie wollten es nicht sehen. Das ist nicht in Ordnung. Und es ist okay, wenn du das sagst und dich aufregst. Es ist unfair.«

»Mich aufzuregen, wird mir aber nichts bringen«, entgegne ich und klinge seltsam schwach. Dieser Tonfall passt nicht zu mir. Zumindest rede ich mir das schon sehr lange und sehr vehement ein. Vielleicht bin ich gar nicht so stark, sondern habe es nur allen vorgemacht und dabei auch mir selbst. »Ich muss einfach weitermachen und mich beweisen, und dann werden sie schon meine Fähigkeiten erkennen und mich dafür belohnen.« Eigentlich glaube ich das ja selbst nicht. Ich will das aber nicht zugeben. Ich kann noch nicht einsehen, dass meine Mühen aussichtslos sind. Wenn ich das tue, was bleibt mir denn dann noch?

»Denkst du wirklich, dass es so funktionieren wird?«, fragt Milo vorsichtig, als könnte er spüren, dass ich meine ganze bröckelige Identität auf ein Gedankenkonstrukt stütze, das er mir nicht einfach so von jetzt auf gleich nehmen will.

»Wenn es so nicht funktioniert, wäre es aussichtslos. Und das kann ich nicht einfach so hinnehmen. Verstehst du das?«

Wir wissen beide, dass sich diese Frage nicht nur auf meinen Traum bezieht, sondern auch auf das, was es für uns beide bedeutet, wenn ich ihn weiterhin ohne Rücksicht auf Verluste verfolge.

»Ich versuche, es zu verstehen«, meint Milo, nachdem er eine Weile darüber nachgedacht hat. Ich mache kurz den Fehler, ihn direkt anzuschauen. Sein blaues Auge wirkt schon wieder so melancholisch, als könnte es nicht nur mich sehen, sondern auch all die Erinnerungen, die wir wegen meiner Entscheidung niemals miteinander teilen werden.

»Das ist der einzige Weg, mein Ziel zu erreichen. Ich kann das Kaufhaus nicht einfach aufgeben.«

Zwischen den Zeilen schweben noch andere Worte: Deswegen gebe ich das auf, was zwischen uns sein könnte.

Milo hört es auch, dessen bin ich mir sicher, als sich seine Züge für den Bruchteil einer Sekunde gequält verziehen.

Sein Gesicht mit seiner schönen Asymmetrie ist fast genug, um mich umzustimmen. Aber eben nur fast. Sich für einen Weg zu entscheiden, heißt immer auch, dass man unendlich viele andere nicht gehen kann. Es ist unvermeidbar, dass ich ihnen nachtrauere. Ich muss mir nur überlegen, welchen Verlust ich besser ertragen kann. Und ich kann nicht das loslassen, an das ich mich schon so lange klammere. Meine Hände sind schon so verkrampft, dass ich sie nicht öffnen kann, um etwas anderes festzuhalten. Auch nicht ihn.

»Es tut mir leid«, hauche ich, weil mir nichts Besseres einfällt.

»Was denn?«, fragt Milo und versucht, herausfordernd zu grinsen. Es will ihm nicht ganz gelingen.

»Alles«, erwidere ich.

»Es muss dir nicht leidtun.« Seine Hand zuckt, weil sie nach meiner greifen will, wie sie es schon so oft getan hat, doch dann lässt er sie einfach auf meiner Decke liegen. Auf einmal scheinen wir weiter voneinander entfernt zu sein. Ich weiß, dass er sich in den letzten Minuten nicht bewegt hat, aber es fühlt sich an, als wäre er mehrere Meter von mir abgerückt.

Ich muss erkennen, dass sich nicht nur ein Körper, sondern auch das, was tiefer liegt, abwenden kann. Distanz schaffen wir nicht nur damit, indem wir aufstehen und gehen, sondern auch in unseren Köpfen. Milo musste es nicht aussprechen. Ich kann deutlich spüren, dass er sich von mir distanziert hat.

»Dann fügen wir diesen Abend einfach der Liste an Dingen hinzu, über die wir nicht sprechen.« Er versucht, locker zu klingen. Es gelingt ihm nicht. »Das kennen wir doch schon. Das sollten wir hinkriegen.«

Ich will nicht, dass wir das hinkriegen. Ich will, dass er in meinem Leben ist, wie er es die letzten zwölf Monate war. Aber ich will auch, dass er sich mir jetzt entgegenbeugt und seine Lippen und seinen Körper auf mich presst, bis in meinem Kopf nur noch Platz für ihn ist.

So funktioniert es allerdings nicht.

Heute gelten die gleichen Regeln wie vor einem Jahr, obwohl sich das falsch anfühlt. In der Zwischenzeit ist so viel passiert, dass sie eigentlich keine Bedeutung mehr haben dürften. Aber das tun sie. Und nur weil ich mir wünsche, dass sie verschwinden, werden sie mir den Gefallen nicht tun. Genauso wie ich es nicht schaffe, nur durch meine Willenskraft Geschäftsführerin des Kaufhauses zu werden.

»Das sollten wir hinkriegen«, sage ich also.

Milo lächelt gezwungen und erhebt sich. »Ich sehe dich dann morgen bei der Arbeit, General.«

Sonst bringt mich der Spitzname zum Lächeln. Aber das funktioniert nicht, wenn er ihn so kraftlos ausspricht.

»Bis morgen«, bringe ich hervor, während ich Milo dabei zusehe, wie er meine Wohnung verlässt, und ihn doch nicht davon abhalte, obwohl ich es gern tun würde.

***

Ich habe beide Arme auf dem Tisch abgestützt, meinen Kopf auf den Händen liegen und starre schon seit Stunden auf dieselben Unterlagen. Richard und mein Vater haben es mir übertragen, die Jubiläumsfeier zur Gründung des Kaufhauses auszurichten. Mir wird damit eine große Ehre zuteil, haben sie gesagt. Aber mich erinnert es nur daran, dass ich mein Ziel, an diesem Tag schon Geschäftsführerin zu sein, nicht erreicht habe. Und dass sie mir diesen Job zwar nicht geben, aber auch nicht auf meine Arbeit verzichten wollen.

Das ist wieder eine Chance, mich zu beweisen, rede ich mir ein. Meine Gedanken sind heute allerdings überall, nur nicht da, wo sie eigentlich hingehören.

»So kriegst du ja eine ganz furchtbare Haltung«, erklingt die tadelnde Stimme meiner Mutter, die wirklich das Letzte ist, was ich gerade gebrauchen kann.

Trotzdem sehe ich auf und setze mich gerader hin.

Meine Mutter hat wieder ihren gespielt fürsorglichen Blick aufgesetzt, von dem sie wohl wirklich denkt, dass sie ihn aufrichtig meint, doch ich weiß es besser.

»Ich habe mit deinem Vater geredet. Du hast dir das mit der Arbeit im Kaufhaus wohl leichter vorgestellt.«

»Ich habe die Abteilung lukrativer gemacht.« Wie oft muss ich den Satz wohl noch sagen, bis endlich ein Mitglied meiner Familie erkennt, was er wirklich bedeutet?

Meine Mutter nickt langsam, als hätte ich ihr gerade von einer guten Schulnote erzählt.

Heute habe ich nicht genug Nerven übrig, um gelassen zu bleiben, während sie mich mit jeder Geste und jedem Wort klein und unbedeutend fühlen lässt. Milo geht mir seit dem ersten Januar aus dem Weg. Wir haben kaum noch Zeit miteinander verbracht. Und ich vermisse ihn. So unendlich sehr. Aber ich weiß, dass es mir vermutlich gar nicht zusteht, ihn zu vermissen, weil ich die Person bin, die ihn verletzt hat.

»Das hast du, mein Schatz.«

Ich warte nur noch darauf, dass sie mir über den Kopf streichelt und mir versichert, dass ich eine brave Tochter bin.

»Ich habe mit Magarete Liebherr gesprochen. Magnus wird sich die nächsten Tage vermutlich bei dir melden.«

»Mama«, setze ich ein bisschen vorwurfsvoll an, aber sie lässt mich natürlich nicht aussprechen.

»Er ist ein guter Mann, und dass er sich noch einmal bei dir melden will, obwohl du ihn so unzeremoniell hast abblitzen lassen, zeigt, wie anständig er ist.«

Oder wie verzweifelt, denke ich.

»Lorena, versprich mir, dass du ihm noch einmal eine Chance gibst. Und diesmal eine richtige.«

Ich würde gern Nein sagen, aber leider hat sich auch nach einem Jahr harter Arbeit nichts an meiner Situation geändert. Also darf sich auch nichts an der Art ändern, wie ich mich benehme.

»Ja, Mama«, sage ich und klinge dabei ein bisschen trotzig.

»Sehr gut. In deinem Alter war ich schon verheiratet, und du hast nicht einmal eine Beziehung. Da macht man sich als Mutter wirklich Sorgen.«

Bevor ich etwas sagen kann, das ich zwei Sekunden später bereuen würde, klopft es an der angelehnten Tür.

»Ja«, sage ich dankbar, bevor ich gesehen habe, wer hinter der Tür wartet.

Ein blonder Haarschopf mit pinken Spitzen schiebt sich zuerst hinein, und dann folgt Julis schwarz gekleideter Körper. Meine Mutter, deren Haltung sowieso nie als locker bezeichnet werden kann, versteift sich noch weiter.

»Hallo«, sagt Juli ein bisschen befangen, versucht sich aber an einem Lächeln, obwohl sie inzwischen festgestellt haben sollte, dass meine Mutter es niemals erwidern wird. Auch heute nicht. »Ich wollte fragen, ob du spontan Lust hast, mit mir Mittag essen zu gehen.«

»Sehr gern«, entfährt es mir wohl eine Spur zu dankbar. Die gerümpfte Nase meiner Mutter ignoriere ich. »Bis später, Mama«, versuche ich es versöhnlich und gebe ihr Küsschen rechts und Küsschen links, bevor ich Juli aus meinem Büro folge.

»Danke«, flüstere ich sehr leise, obwohl wir schon fast um die nächste Ecke verschwunden sind. Ich traue meiner Mutter zu, ein übernatürliches Gehör zu haben.

»Keine Ursache«, sagt Juli mit einem Zwinkern, hakt sich bei mir unter, und gemeinsam verlassen wir das Kaufhaus.

Wir steuern ein kleines Restaurant an, wo wir im Sommer immer draußen sitzen. Nun quetschen wir uns an einen der kleinen Holztische, die direkt vor den bodentiefen Fenstern stehen. Ein Kellner bringt uns das Mittagsgericht. Während ich die erste Gabel nehme, fällt mir Julis aufmerksamer Blick auf.

»Was?«, frage ich.

»Was ist los bei dir?«, fragt sie.

»Was soll denn los sein?«

Juli verdreht die Augen. »Du hast dich an Silvester echt abgeschossen.«

»Sagt die Richtige«, erwidere ich und will es eigentlich dabei belassen. Die nächste Frage kann ich trotzdem nicht unterdrücken. »Ich habe nichts Peinliches gemacht, oder?«

»Nicht peinlicher als sonst.«

Ich gebe ihr einen Stoß in die Rippen, und sie grinst zufrieden, als hätte sie genau diese Reaktion provozieren wollen. Manchmal kommt es mir so vor, als wären wir gemeinsam aufgewachsen. Und wenn mir dann wieder einfällt, dass wir es nicht sind, werde ich nostalgisch für ein Leben, das ich nie gelebt habe. Juli hat mir vor ein paar Monaten mal gestanden, dass es ihr genauso geht. Das macht irgendwie alles besser.

»Es macht dir was aus, dass du nicht Geschäftsführerin geworden bist«, stellt sie jetzt fest und betrachtet mich noch immer aufmerksam, statt ihr Essen anzurühren.

»Offensichtlich«, sage ich trocken.

»Du zeigst es aber nicht«, erwidert sie. »Du darfst es zeigen. Und zwar nicht nur, wenn du betrunken bist.«

»Darf ich nicht.« Ich räuspere mich, weil ich, nachdem ich Juli zu meiner wahren Schwester erklärt habe, beschlossen habe, nie wieder mit so einem harten Tonfall mit ihr zu reden, wie ich es getan habe, als wir uns kennengelernt haben. »Du kennst doch unsere Familie: Nur wer nichts im Kopf hat …«

»Muss auf sein Bauchgefühl hören«, vervollständigt sie den Satz und macht die Illusion, dass sie schon immer ein Teil meines Lebens war, noch ein bisschen glaubhafter. »Dir ist schon klar, dass die Mitglieder unserer Familie viel Mist von sich geben, wenn der Tag lang ist. Nur weil Kronenbergers diesen Satz schon seit Anbeginn der Zeit sagen, heißt das noch lange nicht, dass er stimmt.«

»Ob er im Rest der Welt stimmt oder nicht, spielt aber keine Rolle. Solange ich im Kaufhaus arbeiten will, muss ich die Regeln befolgen, die dort gelten.«

Juli kommentiert es nicht weiter, und wir essen schweigend unsere Pasta. Immer wieder spüre ich aber, dass ihr Blick auf mir ruht, und ich habe das Gefühl, dass sie noch mehr zu sagen hat. Was das ist, erfahre ich aber erst, nachdem unsere leeren Teller bereits abgeräumt wurden und wir auf unsere Kaffees warten.

»Du bist mit Milo nach Hause gegangen«, sagt sie unvermittelt.

Obwohl ich den Impuls verspüre, ertappt zu gucken, verziehe ich keine Miene. »Hast du mir nachspioniert?«

»Du bist irgendwann verschwunden. Als ich nach dir gesucht habe, habe ich gesehen, wie Milo und du die Treppe runtergelaufen seid. Ihr habt sehr … vertraut gewirkt.«

Ich zwinge mein Gesicht, nicht rot anzulaufen, und ich glaube, es gehorcht mir, weil es nicht heiß wird. Milo und ich sind auf unserem Weg die Treppe runter immer wieder stehen geblieben, um zu knutschen, weil wir die Hände nicht lange genug voneinander lassen konnten. Vertraut beschreibt es sehr diplomatisch.

»Wir haben nur ein bisschen rumgemacht«, versuche ich, es runterzuspielen.

Ich halte viel von meinem Pokerface, aber Juli kennt mich inzwischen gut genug, um zu wissen, dass dahinter etwas verborgen liegt.

»Dass ihr euch geküsst habt, hat mich gar nicht so erstaunt. An Silvesterpartys macht doch jeder mit irgendjemandem rum.«

Diesmal ziehe ich die Augenbrauen hoch.

»Du kanntest mich früher nicht. Ich habe oft mit irgendwelchen Kerlen rumgemacht«, erklärt sie.

»Ich bin irgendwie traurig, dass ich diese Juli niemals kennengelernt habe. Sie klingt nach Spaß.«

»Bringe ich dir so etwa nicht genug Spaß?«, fragt sie gespielt entsetzt.

»Mh«, mache ich, und diesmal landet ihr Ellbogen in meiner Seite. Ich wusste früher nicht, wie liebevoll sich ein spitzer Knochen zwischen meinen Rippen anfühlen kann.

»Worauf ich eigentlich hinauswollte«, nimmt Juli den Faden wieder auf. »Dass ihr euch geküsst habt, hat mich nicht erstaunt. Mich hat erstaunt, wie vertraut ihr miteinander seid.«

»Du wusstest doch, dass wir befreundet sind«, erwidere ich.

»Ja schon, aber ihr habt nicht nur befreundet gewirkt, sondern als wärt ihr schon lange mehr als das.«

»Wir sind nicht mehr als das«, sage ich reflexartig.

Juli lässt mal wieder ihre Augenbrauen für sich sprechen.

»Abgesehen von zwei Küssen«, gebe ich zu.

Unsere Kaffees werden aufgetragen, aber ihren ignoriert Juli genauso wie vorher ihr Essen, weil ich heute anscheinend unfassbar interessant bin. »Ich will alles wissen«, stellt sie fest.

Ich könnte ausweichen und das Thema wechseln. Aber wenn ich Juli gegenübersitze, will ich das gar nicht. Eine kleine Schwester zu finden, hat etwas, das lange in mir hart war, weich werden lassen. »Also«, setze ich an und rede, ohne Luft zu holen. »Letztes Jahr an Silvester haben wir schon mal rumgemacht. Dann haben wir uns bei der Arbeit gesehen. Ich habe unsensible Sachen gesagt, er konnte mich nicht leiden, aber dann habe ich ihm mal den Rücken freigehalten, und dann wurden wir Freunde. Seitdem haben wir viel Zeit miteinander verbracht. Aber dann haben wir uns dieses Silvester wieder geküsst, und jetzt ist es seltsam zwischen uns, und er geht mir aus dem Weg.«

Das alles auszusprechen, hat gutgetan, obwohl ich den großen Punkt – nämlich, dass unsere unerwiderte Liebe uns ursprünglich verbunden hat – auslasse, weil ich Juli kein schlechtes Gewissen machen will. Sie ist mit Isaac zusammen und glücklich mit ihm. Dafür soll sie sich niemals schlecht fühlen.

Juli braucht einen Moment, um auf meinen Vortrag zu reagieren. »Also mögt ihr euch mehr als nur Freunde«, stellt sie schließlich fest.

»Kann man so sagen.«

»Also habt ihr jetzt was miteinander?«, fragt sie begeistert.

»Nein«, sage ich, und ihre Begeisterung verschwindet.

»Wieso denn nicht?«

»Juli, er arbeitet für unsere Familie. Ich kann ihn nicht daten.«

Juli schnaubt belustigt. Damit hätte ich nicht gerechnet. »Lorena, ich weiß, du guckst gern Downton Abbey, aber es tut dir offensichtlich nicht gut. Wir leben nicht im England des frühen 20. Jahrhunderts. Er ist nicht der Chauffeur und du nicht die Tochter des Dukes.«

»Earls.«

»Was?«

»Der Lord von Downton Abbey ist ein Earl.«

Juli grinst. »Mein Punkt ist«, beginnt sie, ohne auf meinen letzten Einwurf einzugehen, »dass es egal ist, dass er für unseren Vater arbeitet. Du kannst trotzdem mit ihm zusammen sein. Geld und Stand spielen keine Rolle.«

»Sagt die Kronenberger, die mit einem Jordan zusammen ist.«

»Mir ist egal, wer er ist«, entgegnet Juli sofort und mit viel Nachdruck.

»Ich weiß«, meine ich beschwichtigend. »Aber du bist anders aufgewachsen als ich.«

»Das stimmt wohl.« Endlich schenkt sie ihrem Kaffee, der inzwischen kalt ist, Beachtung und trinkt einen Schluck. »Ist dir egal, wer Milo ist?«

»Meine Familie …«

Sie lässt mich diesen Satz nicht einmal beenden. »Ich will nicht wissen, was unsere Familie denkt, sondern du.«

»Mir ist es egal«, sage ich ohne Zögern.

»Dann weißt du alles, was du wissen musst.«

Kurz lasse ich Julis Worte wirken, bevor ich gleich wieder dagegen argumentiere.

»Es geht nicht darum, ob ich ihn daten will oder nicht. Ich will Geschäftsführerin des Kaufhauses werden. Wenn ich Milo date, wird meine Familie mir diesen Wunsch absprechen.«

Juli sieht aus, als wollte sie mir das ausreden, aber dann tut sie es doch nicht. Sie weiß, dass es die Wahrheit ist. »Das mag sein«, sagt sie also. »Aber du musst irgendwann entscheiden, was dir wirklich wichtig ist und welche Dinge oder Menschen du bereit bist, aufzugeben. Wird dein Traum immer über deinem persönlichen Glück stehen?«

»Ja«, sage ich, obwohl ich weiß, dass Juli das nicht hören wollte.

Sie seufzt, lächelt aber auch und ergreift meine Hand mit einer Selbstverständlichkeit, die etwas in mir noch ein bisschen weicher werden lässt.

»Ich werde nicht mit dir darüber diskutieren, was für dein Leben das Beste ist. Deine Eltern reden dir schon seit Ewigkeiten ein, dass sie es besser wüssten. Aber niemand weiß es besser als du.«

Ein Kloß bildet sich in meinem Hals, doch ich schlucke ihn herunter, bevor er so groß wird, dass ich ihn nicht mehr ignorieren kann. »Wer hätte gedacht, dass wir eines Tages so zusammensitzen würden.« Meine Stimme ist belegt.

»Ich ganz sicher nicht.«

»Oh, ich auch nicht. Sind wir mal ehrlich.«

Wir lachen beide auf.

»Das ist ja das, was uns ausmacht«, meint Juli. »Wir sind immer ehrlich zueinander.«

»Manchmal vielleicht ein bisschen zu ehrlich«, scherze ich.

»Man kann nicht zu ehrlich sein.«

Sie will wohl, dass ich doch noch auf ihre Aussage eingehe, aber das werde ich nicht. Und Juli nimmt das Thema auch nicht wieder auf. Sie hat alles gesagt, was sie sagen wollte. Und ich werde mich jetzt damit auseinandersetzen müssen, dass von nun an Zweifel in meinem Kopf leben, die ich so gar nicht gebrauchen kann.