25. Kapitel

LORENA

Februar

Ich laufe so langsam den Flur entlang, als würde ich hoffen, dass ich es so schaffen könnte, mich rückwärts zu bewegen.

Die Stimmen dringen aus dem Erdgeschoss zu mir nach oben. Das gekünstelte Lachen meiner Mutter ist mir immer ein bisschen wie ein Echo vorgekommen, das aus meiner eigenen Zukunft zu mir dringt und mir prophezeit, wie ich mich eines Tages verhalten werde. Wenn ich daran denke, läuft mir ein kalter Schauer den Rücken herunter.

Meine Eltern haben Magnus Frederick Friedrich Wilhelm Robert Justus Maximilian Ludwig Leopold von und zu Arschkriecher und mich zum Essen eingeladen. Meine Mutter hielt es für angemessen, einen Mann, mit dem ich nur auf ein paar Dates war, schon direkt zu Hause zu bekochen. In ihren Augen sind wir vermutlich längst verlobt.

Ich muss an Milos Worte denken und lächle ein bisschen, obwohl mich die Wahrheit, die in ihnen enthalten ist, erneut erschaudern lässt. Wenn ich nicht aufpasse, werde ich niemals damit aufhören, zu versuchen, meine Eltern glücklich zu machen, und mich irgendwann in einem Leben wiederfinden, das ich niemals wollte.

Ich muss gleich zurückgehen, sonst denken sie noch, ich hätte mich mit einer Magen-Darm-Grippe auf die Toilette zurückgezogen. Vielleicht wäre das sogar am besten.

Ich komme an den Türen vorbei, die in die Kinderzimmer von Johann und mir führen. Ich öffne sie nicht. Dafür betrete ich den Raum, den meine Mutter in meiner Kindheit immer ihr Büro genannt hat, obwohl sie nicht gearbeitet hat. Es ist ihr Rückzugsort. Ich war so lange nicht mehr hier, dass ich mich nicht an den Sekretär oder die Bilder an der Wand erinnern kann. Auch nicht an die fast schon Serienkiller-hafte Ordnung, die mich bei meiner Mutter jedoch nicht überrascht.

Ich sollte nicht hier sein, scheinen die staubfreien Flächen zu schreien. Sie wird erkennen, dass ich hier war. Sie wird merken, wenn etwas verändert wurde. Trotzdem kann ich mich nicht gegen die Anziehung wehren, die der Sekretär, auf dem nicht einmal eine Topfpflanze steht, auf mich ausübt. Ich habe eine Schublade aufgezogen, bevor ich es mir anders überlegen kann.

Dort herrscht keine Ordnung, und das wirft mich ein bisschen aus der Bahn. Papiere liegen übereinander und Stifte wild verteilt. Mein Herz schlägt viel zu schnell.

Das sind Zeichnungen. Ich hole eine heraus. Unten sind die Initialen meiner Mutter eingezeichnet. Aber nicht DK. DA. Das A steht für ihren Mädchennamen Arlt. Und darüber eine kleine Zahl. 94. 1994? So alt ist die Zeichnung schon?

Ich versuche, mit meinen Fingern keinen Druck auf das Papier auszuüben. Berühre ich es nur noch ein bisschen leichter, lasse ich das Blatt einfach los.

Es zeigt einen Cowboystiefel. Inzwischen ist er ein bisschen verwischt, aber ich kann trotzdem die präzise gesetzten Lichtreflexe erkennen und das Muster, das nicht wie skizziert, sondern eingraviert aussieht.

Mein Vater hat bei seiner Rede auf der Silbernen Hochzeitsfeier gesagt, dass er sich in ihre Kreativität verliebt hat. Damals haben die Worte noch keinen Sinn für mich ergeben. Nun tun sie es.

Meine Mutter hat gezeichnet. Und zwar gut. Richtig gut.

Sie war mal ein eigenständiger Mensch, mit Leidenschaft, mit Hoffnungen und eigenen Träumen. Irgendwann, bevor sie zum Zusatz meines Vaters wurde.

Ich kann kaum noch schlucken.

Das passiert mit einem Menschen, der immer nur das tut, was andere von ihm erwarten. Er versteckt Teile von sich, die er eigentlich stolz präsentieren sollte. Dieses Bild sollte nicht in einer Schublade liegen, sondern an einer Wand hängen, wo es jeder bewundern kann.

Trotzdem lasse ich es wieder in der Dunkelheit verschwinden. Ich muss ins Esszimmer zurückkehren, obwohl mir das jetzt sogar noch schwerer vorkommt.

Ich verlasse den Raum, bevor mich noch ein anderes Bruchstück meiner Mutter überraschen und hier festhalten kann.

»Da bist du ja endlich wieder«, begrüßt Magnus Frederick mich, sobald ich das weiträumige Esszimmer meiner Eltern wieder betrete. Er klingt so, als würde er mich schon seit Jahren so ansprechen. Er kann das gut. Wirklich. Er ist ein formvollendeter Gentleman. Aber eben nicht aus Überzeugung, sondern weil es ihm beigebracht wurde. Der Unterschied ist fein, aber doch entscheidend. Er verhält sich nicht, wie er es tut, um des guten Benehmens willen, sondern weil er etwas dafür will. Seine Reaktion darauf, dass ich ihn nach unserem ersten Date nicht in meine Wohnung gebeten habe – obwohl er mir doch alle Türen aufgehalten hat, aus der Jacke und wieder hinein geholfen hat und mir den Stuhl zurechtgerückt hat –, kann man eigentlich schon als Schmollen bezeichnen. Er erwartet eine Belohnung für seine guten Manieren. Und es ist ziemlich eindeutig, welche Belohnung er sich erhofft, jedes Mal, wenn sein Blick ein bisschen länger über meinen Körper streift.

»Hast du dich etwa verlaufen?«, fragt meine Mutter, als ich mich wieder an den Tisch setze – natürlich ist Magnus Frederick zur Stelle, um meinen Stuhl zu richten, was meine Mutter mit einem Funkeln in den Augen bemerkt. »Ich sage doch immer, dass du zu selten hier bist.«

Das sagt sie nie, aber ich korrigiere sie nicht.

»Deine Eltern haben gerade darüber gesprochen, wie sie einander kennengelernt haben. Eine wunderbare Geschichte«, meint Magnus Frederick an mich gewandt.

»Deine Mutter war eine wundervolle Frau. Ist sie noch immer«, sagt mein Vater gezwungen charmant. Ob er mit diesen Worten die verkühlte Beziehung zu mir oder meiner Mutter aufwärmen will, kann ich nicht sagen. Er scheitert auf jeden Fall mit beidem. »Wir haben uns perfekt ergänzt. Wir waren einfach bei allen Themen einer Meinung. Wir haben die gleichen Werte geteilt, sind ähnlich aufgewachsen. Es hat sich angefühlt, als würde ich einer Person begegnen, die genauso ist wie ich.«

Mein Vater beschreibt das so, als wäre das etwas Erstrebenswertes, doch das stelle ich inzwischen infrage. Um von einer Person ergänzt zu werden, muss diese doch auch anders sein als man selbst, oder? Sie sollte die Eigenschaften haben, die einem fehlen. Sie sollte die Dinge können, die einem schwerfallen. Sie sollte einem den Spiegel vorhalten können und einen herausfordern.

Ich betrachte meine Mutter und frage mich, ob sie noch immer zeichnen würde, wenn sie einen Mann geheiratet hätte, der sich in vielen Dingen von ihr unterschieden hätte.

Das werde ich niemals wissen. Aber ich glaube, dass ich mir, wenn ich den Kopf leicht schief lege und die Augen zusammenkneife, vorstellen kann, wer sie einst war.

Sie war mal mehr, sie wollte mal mehr von ihrem Leben, aber sie hat sich so vehement eingeredet, dass ihr das nicht zusteht, dass sie nun das Gleiche bei mir tut. Vielleicht kann sie ihr eigenes Unglück besser ertragen, wenn sie darin nicht allein ist.

Der Abend schleicht dahin. Als Magnus Frederick sich ein bisschen früher verabschiedet, weil eine Dienstreise, die ihn hoffentlich ganz weit von hier fortbringt, auf ihn wartet, kann ich mir ein erleichtertes Seufzen nur knapp verkneifen.

Meine Eltern lassen mich danach nicht direkt aufbrechen. Meine Mutter ist noch damit beschäftigt, über Magnus Frederick Friedrich Wilhelm Robert Justus Maximilian Ludwig Leopold von und zu Arschkriecher zu schwärmen. Ich höre nur mit halbem Ohr zu.

Seit ich die Zeichnung meiner Mutter entdeckt habe, fühle ich mich unruhig. Und ich bin davon überzeugt, dass ich mit einer gewissen Person reden muss, damit mich diese Unruhe endlich loslässt. Also tippe ich unterm Tisch unauffällig eine Nachricht auf meinem Handy.

Bist du zu Hause? Kann ich gleich vorbeikommen?

Seine Antwort erhalte ich fünf Minuten später, als Mama gleich zum zweiten Mal von dem tollen Brunch berichtet, den sie mit Magnus Fredericks Mutter verbracht hat.

Klar.

Ich brauche noch weitere fünfzehn Minuten und fünf gescheiterte Versuche, bis ich es schließlich schaffe, mich elegant zu erheben und aus diesem Gespräch zu entziehen.

»Ich brauche meinen Schönheitsschlaf, sonst habe ich morgen Augenringe«, setze ich als Ausrede an, weil ich weiß, dass meine Mutter dem nicht widersprechen wird.

Sie reagiert wie erwartet. »Richtig so«, meint sie.

Meine Eltern umarmen mich an der Tür, als ich mich zum Gehen wende. Obwohl ich sie umarme wie immer, fühlt es sich seit gewisser Zeit so an, als würde ich sie gar nicht mehr richtig berühren.

Ich steige in meinen Wagen und fahre wie auf Autopilot zu meinem Ziel. Es ist kalt und dunkel, als ich auf das Wohnhaus zulaufe. Irgendwie passt das, ich kann aber auch nicht beschreiben, wieso.

Ich klingle, betrete das Haus und fahre mit dem Fahrstuhl hinauf. Als dieser auf seiner Etage aufgeht, steht er schon in der offenen Tür und erwartet mich.

Kurz kommt mir der Fahrstuhl wie eine Zeitmaschine vor, die mich nicht nur vier Stockwerke nach oben, sondern auch vier Jahre zurückgebracht hat.

Isaac hat immer so im Türrahmen gelehnt, wenn er auf mich gewartet hat. Früher hat er mich zur Begrüßung geküsst. Heute tut er das nicht. Und das beweist mir, dass mein Leben vier Jahre weiter ist als diese Gedanken, an denen ich mich so lange festgehalten habe.

Auf einmal lasse ich sie los und vermisse seine Lippen nicht auf meinen, als ich zur Begrüßung nur umarmt werde und dann seine Wohnung betrete.

Sie sieht anders aus als früher. Aber das tut Isaac auch. Wo früher nur Schwarz, Weiß und Chrom war, sind heute Farbkleckse. An den Wänden im Gang, in seinem Wohnzimmer, aber auch an seinen Händen.

Dass er diesen Teil von sich so lange vor mir geheim gehalten hat, tut nicht mehr so weh. Ich sehe ein, dass ich auch Teile von mir vor ihm verborgen habe. Meinen Wunsch, das Kaufhaus eines Tages zu übernehmen, habe ich nie mit ihm geteilt. Obwohl dieser Traum mit meiner Identität verwoben ist.

»Willst du was trinken?«, fragt er, als ich mich auf ein Sofa niederlasse. Mehrere Staffeleien stehen wild im Raum verteilt. Ich mag die Farben, die einen Platz in seinem Leben gefunden haben. Trotzdem habe ich mich noch nicht ganz daran gewöhnt, dass in Isaacs Zuhause nicht mehr nur makellose Ordnung herrscht. Das war die Eigenschaft, mit der ich ihn die längste Zeit verbunden habe. Dass sie nicht ihm selbst entsprungen ist, sondern wie so vieles andere, woran er sich so lange gehalten hat, seiner Familie, weiß ich jetzt. Und vielleicht war mir das schon sehr lange klar, ich konnte es nur nicht sehen, weil auch ich vieles schon so lange aus den falschen Gründen tue, dass ich mich nicht mehr an die richtigen erinnern kann.

»Gern«, sage ich ein bisschen verzögert. Neben mir auf dem Sofa liegt sogar eine unförmige Decke aus bunter Wolle. Da Julis Mitbewohnerin Liv sich bei ihrer Arbeit als Einzelhandelskauffrau immer so schrecklich langweilt, sucht sie sich ständig neue Hobbys, um ihren Geist zu beschäftigen. Vor ein paar Monaten hat sie gehäkelt. Und auch Isaac war vor ihren Geschenken nicht sicher. Dass er die Decke nicht nur hervorholt, wenn Liv kommt, sondern sie wirklich benutzt, zeigt, was ich so an ihm geliebt habe – und was mich so lange daran gehindert hat, wirklich über ihn hinwegzukommen.

Isaac verschwindet kurz in seiner Küche, die Tür lässt er angelehnt. Der Wasserkocher beginnt zu brummen. Ich verharre auf seinem Sofa und sehe mich weiter um. Auf dem Boden liegen Zeichnungen verteilt, auf den Staffeleien stehen Bilder. Aber ich weiß, dass es keine sind, an denen er aktuell arbeitet, da er nur ab und zu hier zu Besuch ist. Julis und seine Wohnung in Berlin habe ich noch nicht gesehen. Ich sollte wohl mal hinfahren und sie besuchen. Aber bisher habe ich mich immer davor gedrückt. Ich glaube, ich habe mich davor gefürchtet, zu sehen, wie ein Ort aussieht, der den beiden gehört. Ein Ort, den sie gemeinsam gestaltet haben und der ausdrückt, wer sie zusammen sind.

Ich glaube, ich muss mich nicht mehr davor fürchten.

Ein paar Minuten später kehrt Isaac mit zwei dampfenden Tassen zurück. In meinem Tee ist ein Schuss Milch, was mich zum Lächeln bringt. Er hat mir immer versucht zu erklären, dass Milch nicht zu jedem Tee passt, aber weil ich es nicht einsehen wollte, hat er mir immer Milch in meinen Tee geschüttet, wenn auch unter Protest.

»Danke«, sage ich, als er mir die Tasse reicht. Er setzt sich neben mir auf die Couch und wendet sich mir zu.

Kurz gestatte ich es mir, ihn zu betrachten, wie ich es mir schon lange nicht mehr gestattet habe. Der Dampf steigt von der Tasse auf und scheint sich in seinen dunklen Strähnen zu verheddern. Er trägt seine Haare jetzt ein bisschen länger, ein bisschen weniger geordnet. Alles an ihm ist weniger geordnet. Er hat noch immer gern die schwarzen Pullis und die Stoffhosen an, die so gut sitzen. Aber er wirkt dabei entspannter. Nicht mehr so, als würde er sich über jede Falte im Stoff Gedanken machen. Vielleicht sollte ich ihn mal fragen, wie er das hinbekommt. Dann kriege ich es vielleicht auch irgendwann auf die Reihe, nicht so verdammt verkrampft zu sein.

»Wieso bist du hier?«, fragt er nach einer kurzen Stille. Mir ist es nicht unangenehm, dass ich ihn so offensichtlich betrachtet habe und er es bemerkt hat. Früher dachte ich mal, ich müsste sterben, sollte er erfahren, dass ich so lange nicht damit aufhören konnte, ihn zu lieben. Jetzt fühle ich mich davon befreit.

»Ich habe sehr lange gebraucht, um über dich hinwegzukommen«, sage ich, um auch dem Rest von mir zu beweisen, dass ich die Wahrheit tatsächlich überleben kann. »Es war mir peinlich, wie lange ich dafür gebraucht habe.«

Isaac versucht nicht, irgendwelche Worte zu finden, die über die Intensität meiner hinwegtäuschen können. Er lässt sie einfach wirken. Und obwohl ich sie deswegen auf meiner Haut spüre, rede ich weiter.

»Ich habe gehofft, dass es meine Gefühle weniger real macht, wenn ich sie totschweige. Aber inzwischen habe ich erkannt, dass ich sie damit noch verstärkt habe. Ich habe sie in mir verschlossen. Und natürlich konnte ich sie so nicht loslassen.« Ich atme zittrig ein und aus, und ein bisschen Tee schwappt über, weil sich das Zittern auch auf meine mal wieder schwitzigen Finger überträgt, aber ich halte nicht inne. »Ich schäme mich nicht mehr für meine Gefühle. Ich habe dich geliebt, länger als du mich. Doch das sollte mir nicht unangenehm sein.«

Unerwiderte Liebe zu spüren, kam mir fast schon unanständig vor. In meinen Augen war es ein dunkles Geheimnis, für das mich andere verurteilen oder – was noch viel schlimmer wäre – bemitleiden würden.

Isaac lächelt sanft. Auf eine Weise, die immer viel mit mir gemacht hat. Heute löst sie weniger in mir aus. Und am liebsten würde ich deswegen erleichtert aufseufzen. Nicht mehr auf jede Geste von ihm mit einem Herzrasen zu reagieren, fühlt sich erlösend an.

»Ich war heute bei meinen Eltern essen, und da ist mir etwas klar geworden, was ich lange nicht wahrhaben wollte. Es war gut, dass wir uns getrennt haben. Für uns beide.«

Immer noch sagt Isaac nichts, was mich nun dazu bringt, ein Schnauben von mir zu geben. »Es ist dir gestattet, menschliche Reaktionen auf meine Worte zu zeigen.«

Er grinst. »Das ist mir bewusst, aber ich wollte dich ausreden lassen.«

»Ganz der Gentleman«, necke ich ihn.

»Was ist dir bei deinen Eltern klar geworden?«, fragt er nach, als würde ihn alles interessieren, was ich zu sagen habe. Und natürlich tut es das. Das war immer so. Und nur, weil er irgendwann nicht mehr mit mir zusammen sein wollte, hat das nie bedeutet, dass er nicht mehr aufrichtig wissen wollte, wie es mir geht. Das verstehe ich inzwischen.

»Dass wir wie sie geendet wären, hätten wir nicht Schluss gemacht.«

»Was ein beängstigender Gedanke.« Er sagt es nur halb im Scherz.

»Das ist es«, sage ich. Ich habe mich immer davor gefürchtet, dass er nur aus Pflichtgefühl mit mir zusammen war, aber inzwischen verstehe ich, dass die Frage viel zu einfach gestellt ist, wenn ich bedenke, wie komplex die Antwort darauf sein muss. Unser Pflichtgefühl war so eng mit uns verknüpft, dass es unmöglich war, festzustellen, wo es aufhörte und wir anfingen. Mir darüber den Kopf zu zerbrechen, wird mir niemals etwas bringen, weil vermutlich nicht mal Isaac es so genau sagen kann. Und inzwischen ist das in Ordnung.

»Wir sind uns zu ähnlich. Wir waren die perfekten Kinder, die ihren Eltern immer alles recht machen wollten. Wären wir zusammengeblieben, wären wir unglücklich geworden, weil wir in einem Leben gesteckt hätten, das wir gar nicht wollten. Wir hätten nie damit aufgehört, für unsere Eltern zu leben.«

»Hast du denn inzwischen damit aufgehört?«, fragt er ernst.

»Ich arbeite dran«, sage ich und nehme mir vor, es morgen endgültig mit Magnus Frederick Liebherr zu beenden.

Isaac grinst wieder ein bisschen. »Gut, du solltest nicht so leben, wie sie es für richtig halten. Du bist schlauer als sie. Du weißt es so viel besser.«

»Natürlich tue ich das«, sage ich auf eine Art, als würde ich daran niemals zweifeln.

Ich glaube, dass Isaac mich durchschauen kann. Er spricht es aber nicht aus.

»Du hast Juli gebraucht«, sage ich sehr ernst. »Sie hat dir gezeigt, dass du es nicht deinen Eltern recht machen musst, sondern nur dir selbst. Es war nicht leicht, euch zusammen zu sehen. Aber das habe ich immer gewusst.«

Isaac stellt seine Tasse zur Seite und nimmt mir auch meine weg, damit er meine Hände in seine nehmen kann.

»Es tut mir leid, dass ich dir wehgetan habe. Das war nie meine Absicht.«

»Das weiß ich doch«, erwidere ich und verdrehe die Augen. »Ich glaube, als Freunde funktionieren wir sowieso besser. Und ich habe aufgehört, Freundschaft als Trostpreis zu sehen. Als Freunde können wir uns so viel mehr geben, als wir es als Paar je konnten.«

Isaac sieht kurz so aus, als würde er gleich in Tränen ausbrechen. Ich bin ihm dankbar, als er es nicht tut. Das hätte auch bei mir einen Damm brechen lassen.

»Ich glaube, ich habe nicht nur unsere Beziehung vermisst«, setze ich an, als er meine Hände wieder losgelassen hat. »Sondern einfach, wie mein Leben war. Vor dem Unfall.«

»Das verstehe ich.«

Ich nicke. »Wir waren alle so unzertrennlich.« Mein Hals wird ein bisschen eng, aber davon lasse ich mich nicht aufhalten. »Wir haben immer alles zusammen gemacht. Wir waren eine Einheit und immer füreinander da. August, Matt, Stella, du, ich und Johann. Und dann waren wir es nicht mehr. Wir sind uns inzwischen zwar wieder nähergekommen. Dass du und Matt euch wieder wie richtige Brüder benehmt, macht mich glücklich. Oder auch dass Stella und Matt wieder zusammen sind. Aber wir sind nie wieder zu dieser Einheit geworden, die wir früher einmal waren.« Ich atme tief durch. »Manchmal fühlt es sich so an, als wäre ich die einzige Person, der das wirklich etwas ausmacht.«

»Das stimmt nicht«, entgegnet Isaac vehement.

»Wirklich?« Ich will ihn nicht infrage stellen, um ihn zu provozieren. Ich tue es, weil ich ihm wirklich nicht glaube.

»Natürlich macht es auch mir etwas aus.« Sein Tonfall lässt keinen Raum für Zweifel an seiner Aufrichtigkeit. »Aber wir haben uns alle verändert. Unser Leben hat sich verändert. Und deswegen kann auch nicht mehr alles so sein wie früher. Wir sind nicht mehr so wie früher.«

Ich nicke langsam.

»Willst du denn wieder wie früher sein?«

»Nein«, gebe ich zu. »Aber ich vermisse es, wie wir waren.«

»Natürlich tust du das. Wir waren noch nicht richtig erwachsen, oder gerade erst, und da war alles leichter, und unsere Entscheidungen hatten weniger Konsequenzen, und wir kannten echte Tragödie noch nicht. Natürlich sehnen wir uns alle nach einer Zeit, die einfacher war. Aber nur weil es damals einfacher war, heißt es ja nicht, dass es heute nicht auch schön ist. Auf gewisse Weise schöner.«

Ich will ihm widersprechen, einfach, weil es manchmal sehr viel Freude macht, Isaac Jordan zu widersprechen. Aber das kann ich nicht. Früher war vielleicht alles einfacher, zumindest in meiner verklärten Wahrnehmung, aber damals wusste ich noch nicht, dass ich eine Schwester habe. Ich habe noch nicht für meinen Traum gekämpft, weil ich ihn für unerreichbar hielt. Und ich kannte Milo noch nicht.

Wenn ich zurückgehen würde in diese magische Zeit des Frühers, müsste ich all das zurücklassen. Und das will ich nicht.

»Vielleicht hast du recht«, sage ich.

Isaac sieht mich auf eine Weise an, als wüsste er, dass ich mir das vielleicht auch hätte sparen können.

Ich räuspere mich. »Trinken wir noch einen Tequila zusammen?«

»Wie in den guten alten Zeiten?«

»Richtig.«

Isaac erhebt sich und kommt mit zwei Shotgläsern und einer Flasche aus der Küche wieder zu mir zurück.

Er gießt uns beiden ein.

Tequila war das erste alkoholische Getränk, das wir je zusammen getrunken haben. Ich hatte damals eine Flasche aus dem Getränkeschrank meines Papas geklaut. Wir haben danach das Gesicht verzogen und ich mir sogar den Mund ausgespült, weil ich den Geschmack so widerlich fand. Aber seitdem war es unser Getränk. Und auch unser allererster Kuss hat nach diesem Brennen geschmeckt.

Nun schmecken dieses Gespräch und all die Worte, die ich schon vor Ewigkeiten hätte sagen sollen, danach.

Wir stoßen an und trinken.

Und irgendwie fühlt es sich so an, als hätten wir damit etwas besiegelt. Früher haben wir so auf unsere Beziehung angestoßen. Heute machen wir das mit unserer Freundschaft.

Ich lächle ehrlich und erkenne, dass das gar nicht so eine schlechte Veränderung ist, wie ich immer geglaubt habe.