MILO
Als ich am nächsten Morgen in die Küche komme, um mir ein Glas Wasser zu holen, sitzt Jakob bereits am Tisch und nippt an seinem Kaffee. Er wollte sich gerade die Tasse an die Lippen führen. Sobald er mich erkennt, erstarrt er jedoch und hält mitten in der Bewegung inne. Er trägt wie ich nur Boxershorts und ein Shirt. Seins ist schon so ausgewaschen, dass die Tattoos darunter durchscheinen. Wenn wir nicht allein in diesem Raum wären, würde ich ihm wohl vorwerfen, dass er dieses Oberteil strategisch gewählt hat, damit die Blicke anderer an der Tinte auf seiner Brust kleben bleiben. Aber ich denke, ich komme nur auf den Gedanken, weil man die negativen Gefühle, die man anderen Menschen gegenüber empfindet, nicht so schnell ablegen kann.
»Guten Morgen«, sage ich ein bisschen verspätet.
Sein finsterer Gesichtsausdruck legt nahe, dass er seine negativen Gefühle, die er bei meinem Anblick empfindet, auch noch nicht abgelegt hat.
»Guten Morgen«, brummt er verspätet. Sein Kiefer sieht so verkrampft aus, dass es mich wundert, dass er es überhaupt geschafft hat, Worte herauszubringen.
Ich nehme mir ein Glas von der Anrichte über der Spüle und halte es unter den Wasserhahn. Ich trinke das Wasser in schnellen Zügen, während die unangenehme Stille auf meinen Körper drückt.
Jakob gibt ein Schnauben von sich. »Du und Hanna also.«
Es ist keine richtige Frage und eigentlich auch keine Aussage. Aber da ich Lorena in Zukunft öfter hier besuchen werde, will ich, dass wir besser miteinander auskommen. Deswegen werde ich auf ihn eingehen, als hätte er sich mit einem richtigen Satz an mich gerichtet.
»Nein, ich habe bei Lorena geschlafen«, sage ich und wende mich von der Spüle ab und ihm zu.
Jakob hat wieder innegehalten, bevor die Tasse seine Lippen erreicht hat, und lässt sie jetzt zurück auf den Tisch sinken. »Du und Lorena also.«
Ich grinse vorsichtig. »Richtig.«
Jakob grinst nicht, aber sein Gesicht hat diesen neutralen Ausdruck angenommen, den er immer aufgesetzt hat, wenn er jeden anderen Menschen außer mir betrachtet.
Dann steht er auf und läuft zur Küchenzeile, wo ich noch immer stehe. Kurz rechne ich damit, dass er mir die Hand reicht, aber das wäre wohl zu viel des Guten gewesen. Stattdessen steuert er die Kaffeemaschine an, holt eine Tasse hervor und gießt sie voll. »Dann darfst du dir den Rest des Kaffees nehmen«, sagt er.
Mir entfährt ein leises Lachen. »Sehr großzügig.«
Seine Mundwinkel zucken, und ich kann es mir gerade so verkneifen, laut »Ha« zu rufen und mit dem Zeigefinger darauf zu deuten, um ihm klarzumachen, dass es mir nicht entgangen ist. Doch ich verkneife es mir. Das könnte diese instabile Versöhnung viel zu leicht ins Wanken bringen.
»Wie trinkst du ihn?«, fragt er.
»Was?«
»Deinen Kaffee.«
»Mit Milch.«
Er gießt mir Milch ein, bis ich nicke, um ihm zu verstehen zu geben, dass es genug ist. Dann reicht er mir die Tasse.
Ich muss an Juli denken, die mir mal gesagt hat, dass Jakob Zuneigung nur dadurch ausdrücken kann, indem er sich merkt, wie andere Menschen ihren Kaffee trinken, und ihnen diesen dann genau so, wie sie ihn am liebsten haben, vor die Nase stellt.
Wir setzen uns schweigend an den Tisch, gegenüber voneinander, und trinken seelenruhig unseren Kaffee. Ob man jemals mit einem Mann befreundet sein kann, dessen Name gestöhnt wurde, während man Sex mit der Frau hatte, die man damals geliebt hat, weiß ich noch nicht. Aber vielleicht werde ich es im Laufe der Zeit herausfinden.
Als ich gerade begonnen habe, mich in unserer einvernehmlichen Stille wohlzufühlen, höre ich, wie eine Tür quietschend aufgeht. Einen Moment später kommen Liv und Ava in die Küche. Als sie mich entdecken, weiten sich ihre Augen fast gleichzeitig.
»Milo?«, fragt Liv verwirrt. Sie reibt sich den Schlaf aus den Augen, um sicher zu sein, dass es wirklich ich bin, der in ihrer Küche sitzt.
»Guten Morgen, Liv«, grüße ich.
»Du hast hier geschlafen? Aber ich wurde gar nicht von einem lauten Knall geweckt«, kommentiert sie.
»Ich habe mich nicht im Flur gestoßen«, erwidere ich. Das fällt mir jetzt erst auf.
»Du hast dich früher immer gestoßen«, beharrt sie, als wäre das ein unfassbar wichtiges Thema.
Hanna und ihre Mitbewohner haben schon oft über diese Ecke im Flur geredet und darüber, dass sich manche Menschen ständig dort stoßen und manche nie. Aber ich habe nie verstanden, warum sie diesem Umstand so viel Bedeutung beimessen.
»Du und Hanna …«, setzt Ava an.
»Nein, er und Lorena«, erwidert Jakob. Wenn man so lange zusammenlebt wie sie alle, dann muss man wohl keine Verben mehr in seine Sätze packen, um sich zu verständigen.
»Uuuuh«, machen Liv und Ava gleichzeitig. Liv setzt einen neuen Kaffee auf und wirft Jakob einen vorwurfsvollen Blick zu. Anscheinend nimmt sie es ihm übel, dass er nicht auch an sie gedacht hat.
Wieder quietscht eine Tür. Diesmal kommt Hanna in die Küche. Unsere Blicke begegnen sich, und kurz sieht sie so aus, als würde sie sich fragen, ob sie letzte Nacht mit mir verbracht hat, es aber nur vergessen hat.
»Ich habe bei Lorena geschlafen«, erkläre ich.
»Ah«, macht Hanna.
Ich weiß nicht genau, auf welche Reaktion ich warte. Will ich, dass sie das verletzt? Will ich, dass es für sie einfach okay ist? Vermutlich liegt die Antwort irgendwo dazwischen. Ich kann ihr nicht an den Zügen ablesen, was sie denkt. Aber ich erkenne meine eigenen Gedanken.
Ich bin über sie hinweg. Ich weiß nicht, wann genau das passiert ist. Vermutlich habe ich über die letzten Monate immer wieder einen Teil meiner Verliebtheit verloren. Überall in München müssen die Schnipsel meiner Liebe zu dieser Frau herumliegen. Den letzten Rest habe ich vermutlich irgendwo in Lorenas Augen, zwischen ihren Mundwinkeln oder letzte Nacht in ihren nackten Armen verloren. Aber nun ist die Liebe und mit ihr der Schmerz fort. Und ich glaube, so gut konnte ich seit Jahren nicht mehr atmen.
Wieder quietscht eine Tür. Wir halten alle den Atem an, während wir auf Lorenas Auftauchen warten.
Dann betritt sie den Raum, und meine Lippen biegen sich nach oben. Sie trägt ihren Pyjama, ihre Haare sind zerzaust, und sie hat Augenringe, weil wir letzte Nacht so lange wach waren, aber sie sieht auch glücklich aus. Und auch ein bisschen überfordert, weil die Aufmerksamkeit so vieler Menschen auf ihr liegt.
Aber dass sie sich so unperfekt einem Teil der Welt präsentiert, zeigt schon, wie sehr sie sich seit unserem ersten Kuss an diesem einen schicksalhaften Silvesterabend verändert hat.
»Morgen«, murmelt sie in sich hinein. »Ich hoffe, ich muss nichts mehr erklären, weil Milo euch schon ins Bild gesetzt hat.«
»Er hat nicht viel ins Bild gesetzt. Es muss noch viel mehr ins Bild gesetzt werden«, meint Liv. Die Kaffeemaschine ist durchgelaufen, und sie schenkt Ava, Lorena, Hanna und sich ein. Dann ergibt sich schon wieder das Problem, dass in diesem Raum nur vier Klappstühle stehen. Ich verstehe nicht, warum das nicht schon vor Jahren gelöst wurde.
Liv setzt sich dann aber einfach wie selbstverständlich auf Jakobs Schoß, was Ava zum Lachen bringt. Hanna und Ava setzen sich auf die anderen beiden Stühle.
Und Lorena bleibt ein bisschen unschlüssig stehen und wirft einen unsicheren Blick zu Hanna hinüber.
Die verdreht nur die Augen. »Du kannst dich ruhig auf seinen Schoß setzen«, sagt sie ein bisschen genervt, aber mit diesem liebevollen Unterton, den sie nie ganz los wird, wenn sie mit Leuten redet, die sie gut leiden kann.
Lorena grinst. »Nicht, dass ich deine Erlaubnis bräuchte«, sagt sie herausfordernd, als hätte sie nie wegen Hanna gezögert, und lässt sich dann von mir an der Taille auf meinen Schoß ziehen.
Kurz sind wir alle still.
»Milo hat sich heute Nacht nicht im Flur gestoßen«, sagt Liv dann unvermittelt, als wäre es eine große Neuigkeit.
»Nein?«, fragt Hanna verblüfft.
»Und Lorena hat sich kein einziges Mal an der Kante gestoßen«, fügt Ava hinzu.
»Oh«, macht Hanna und wirft uns einen vielsagenden Blick zu, der uns aber gar nichts sagt.
»Kann mir endlich mal jemand erklären, was es mit diesem angeblichen Omen auf sich hat?«, fragt Lorena, die genauso irritiert klingt, wie ich mich fühle.
Jakob winkt nur ab. »Es ist nicht so wichtig.«
»Es ist sehr wichtig«, beharrt Liv. »Und das weißt du auch. Du glaubst auch daran.«
»Woran denn?«, fragt Lorena ungeduldig. Es gibt wohl kaum etwas, was sie mehr hasst, als ahnungslos zu sein.
»Das wirst du auch noch verstehen«, sagt Liv ominös.
Lorena scheint noch etwas sagen zu wollen, lässt es dann aber auf sich beruhen. Und während ich in dieser Runde sitze, geht mir langsam auf, was Liv gemeint haben könnte.
Nur jemand, der nicht an einen Ort gehört, wird immer wieder über die gleichen Hindernisse stolpern. Jemand, der wirklich am richtigen Ort angekommen ist, wird sie gar nicht mehr wahrnehmen.
***
April
Meine Geschwister sind schon nach oben in ihre Betten verschwunden, als ich meinen Vater bitte, sich noch mal mit mir an den Küchentisch zu setzen.
Er wollte sich gerade bettfertig machen, kommt aber meiner Bitte nach. Ich setze noch Tee für uns beide auf. Ich bleibe an der Küchenzeile stehen, während der Wasserkocher immer lauter wird, und betrachte ihn, als müsste man ihn bei seiner Arbeit überwachen. Vielleicht schinde ich Zeit. Aber vielleicht brauche ich sie auch, um für das bereit zu sein, was gleich passiert.
Ich gieße das Wasser so bewusst in die Tassen, wie ich es noch nie zuvor gemacht habe, und komme dann damit zum Tisch. Ich setze mich zögerlich neben meinen Vater und reiche ihm eine Tasse.
Meine umfasse ich mit beiden Händen und starre in den Dampf hinab, der aufsteigt und mir die Sicht nimmt.
»Wie geht es dir?«
Wenn er mir früher diese Frage gestellt hat, hat es mich ein bisschen wütend gemacht, weil ich sie für überflüssig gehalten habe. Ich dachte, dass es keine Option ist, dass es mir schlecht geht. Ich musste ihm helfen, also war es egal, wie es mir damit ging.
Endlich verstehe ich, dass das nicht stimmt.
Ich habe ein Recht darauf, laut auszusprechen, wie ich mich fühle, und Konsequenzen aus meinen Gefühlen zu ziehen.
Also räuspere ich mich, wie Lorena es immer tut. Ihr scheint das bei schwierigen Gesprächen zu helfen. Also warum nicht mir?
»In manchen Bereichen gut und in manchen nicht gut«, gebe ich also zu.
Mein Vater sieht mich fragend an, als würde es ihn ehrlich interessieren, mehr über mich zu erfahren. Und das hat wohl schon immer gestimmt. Er wollte immer meine ehrliche Antwort hören. Ich konnte das nur wegen der Wand aus all den Erwartungen, die ich an mich selbst gestellt habe, nicht sehen.
»Ich bin jetzt mit Lorena zusammen.«
Mein Vater grinst, wie nur Väter grinsen können. Auf eine glückliche, aber auch wissende Weise, als hätten sie genau das schon vor Jahren kommen sehen, als man noch nicht einmal ahnen konnte, dass so was jemals geschehen könnte.
»Das freut mich sehr. Bring sie doch demnächst mal wieder zum Essen mit.«
»Das mache ich«, verspreche ich. »Und ich habe die nächsten Wochen ein paar Bewerbungsgespräche.«
»Sehr schön«, sagt mein Vater mit Nachdruck.
»Aber diese Jobs sind alles nur Übergangslösungen, während ich mich auf eine Ausbildung zum Konditor bewerbe.«
Meine Stimme wird von allein ernster. Und der Gesichtsausdruck meines Vaters passt sich ganz von allein an meine Stimmlage an.
»Und damit kommen wir zum Punkt, warum es mir nicht so gut geht. Ich will nicht, dass sich alles so wiederholt, wie es schon hundertmal passiert ist. Wenn ich nichts ändere, wird es aber so sein.«
Ich atme tief durch. Diese Aussagen waren vage, weil es mir leichter gefallen ist, meine Gedanken nicht in konkrete Gefäße zu stecken. Aber das ist feige. Und ich will nicht mehr feige sein.
»Ich will die nächste Ausbildung wirklich zu Ende bringen. Also kann ich sie nicht einfach wieder hinschmeißen oder so unzuverlässig sein, dass ich sie wieder verliere. Ich kann nicht mehr jede Sekunde an jedem Tag auf Abruf stehen. Ich bin müde und erschöpft und frustriert, und das seit Jahren. Aber ich will das alles nicht mehr sein. Und dafür brauche ich Rücksicht von dir. Ich werde dir mit Emma, Emil und Daniel immer helfen. Doch es muss Grenzen geben, damit ich mir auch mein eigenes Leben aufbauen kann.«
Mein Herz rast. Vor einem Jahr hätte ich mir lieber die Zunge abgebissen, als diese Worte zu sagen. Noch vor einer Woche wäre es mir unmöglich gewesen. Ich habe viele Gespräche mit Lorena gebraucht, um für diesen Moment bereit zu sein. Ich habe ihr bestimmt hundertmal erzählt, was ich meinem Vater sagen will. Und obwohl meine auswendig gelernten Worte ein bisschen von diesen abweichen, weiß ich doch, dass ich die richtigen gefunden habe.
Mein Vater seufzt und greift nach meinen Händen, die bis eben noch die warme Tasse umklammert gehalten haben.
»Es tut mir so leid, Milo.«
»Was tut dir leid?«
»Dass du mir das sagen musstest und ich es nicht selbst gesehen habe.« Er drückt meine Hände sehr fest und scheint mich damit in eine Vergangenheit zurückzubringen, in der ich zwei Eltern hatte. Damals haben seine Hände mich so gehalten, um mich dann durch die Gegend zu wirbeln, während meine Mutter besorgt auf ihn einredete, dass ich mir doch wehtun könnte. Ich habe mir nie wehgetan, wenn mein Vater mich festgehalten hat. Ich habe an seine Fähigkeit, mich zu beschützen, so unumstößlich geglaubt wie an den Wechsel der Jahreszeiten. Und ich habe wohl nie aufgehört, daran zu glauben. Doch er hätte mich nicht nur davor beschützen müssen, mir beim Spielen im Wohnzimmer den Kopf zu stoßen, sondern auch vor der Verantwortung, die er mir vielleicht nicht selbst übertragen hat, aber auch nicht wieder abgenommen hat, als ich das selbst getan habe.
»Ich habe mich zu sehr auf dich verlassen«, fährt er fort. »Aber ich bin euer Vater und nicht du. Du brauchst ein eigenes Leben. Es tut mir leid, dass ich es mir selbst so leicht gemacht habe.«
Eigentlich kenne ich meinen Vater sehr gut. Er ist mir in meinem ganzen Leben noch nie mit etwas anderem als Verständnis begegnet. Ich hätte wissen müssen, dass er so reagieren würde. Aber vermutlich war gar nicht sein Verständnis das Problem, sondern mein eigenes.
»Ich werde dich nicht mit allem allein lassen«, beharre ich. Es ist mir wichtig, das klarzustellen. Ich würde meiner Familie niemals den Rücken kehren.
Mein Vater lächelt sanft, und ich bin froh, dass er mich noch nicht losgelassen hat und ich mich immer noch an ihm festhalten kann. Er hat sich lange auf mich gestützt, aber ich weiß auch, dass ich mich immer auf ihn stützen kann.
»Das ist mir bewusst«, sagt er beschwichtigend. »Aber ich werde nicht mehr so viel auf dich abladen.«
»Ich glaube, wir müssen einfach nur definieren, was Notfälle sind. Wenn einer von euch verletzt wird, will ich, dass ihr mich anruft, egal, was ich gerade mache.«
»Aber eben nicht mehr bei jeder oberflächlichen Schnittwunde«, meint mein Vater.
Ich habe den Impuls, ihm zu widersprechen, weil ich Emil vor mir sehe, wie sein Finger blutet und ich nicht bei ihm bin, um ihn zu trösten. Doch dann unterdrücke ich den Impuls. Selbst wenn er sich schneiden sollte, könnte ich ein paar Stunden später nach meiner Arbeit da sein, um ihn zu trösten und mit ihm Eis essen zu gehen. Trost verfällt nicht, wenn er nicht sofort geteilt wird. Das muss ich wohl auch noch lernen.
Ich spüre, dass es nicht leicht werden wird, meine alten Gewohnheiten abzulegen. Alles in mir sträubt sich dagegen. Und die Worte egoistisch und rücksichtslos geistern durch meinen Kopf und wollen sich dort an Stellen festsetzen, wo ich sie besonders gut sehen kann. Doch ich ignoriere sie. Nur weil ich mich nicht mehr für andere selbst aufgebe, bin ich nicht egoistisch. Das weiß ich. Und ich hoffe, dass ich irgendwann so weit bin, diese Tatsache auch tief in meinem Inneren zu fühlen.
»Richtig«, entgegne ich verzögert. »Wir können uns gemeinsam eine Liste überlegen.« Lorena wäre sehr stolz auf mich, wenn sie mich jetzt hören könnte.
»Das machen wir«, verspricht mein Vater. »Und wir können uns mit deinen Geschwistern hinsetzen und ihnen alles erklären.«
»Ich will nicht, dass sie sich fühlen, als würden sie mich belasten«, sage ich schnell, und mein Herz zieht sich bei der Vorstellung zusammen.
»Das werden sie nicht denken«, beschwichtigt mich mein Vater. »Aber wir erklären ihnen, dass dir die Ausbildung so wichtig ist wie Daniel sein Lego, Emil sein Schlaf und Emma recht zu haben. Dann werden sie verstehen, warum wir dich dabei nicht immer stören dürfen.«
Wenn er es so formuliert, klingt es gar nicht mehr so schwer oder Furcht einflößend oder unüberwindbar.
Ich lächle meinen Vater dankbar an. Ich habe so früh Verantwortung für meine Familie übernommen, dass ich aus den Augen verloren habe, dass er doch immer noch mein Vater ist und dass es sich gut anfühlt, meinen Kopf an seine Schulter zu legen, seine Hand zu halten und mir von ihm versichern zu lassen, dass wir alles schaffen können.
»Danke«, sage ich also einfach, weil eigentlich nichts mehr gesagt werden muss.
Mein Vater ist offenbar der gleichen Meinung, denn er erwidert das Lächeln einfach, drückt noch einmal meine Hände in seinen und sitzt noch eine Weile schweigend mit mir am Tisch, bis ich erkenne, dass die Veränderungen, die wir besprochen haben, gar nicht so groß sind, weswegen sie auch in unser Wohnzimmer passen und mit uns Tee trinken können.