LORENA
Silvester
Als ich ein kleines Mädchen war, habe ich den Namen Lorena Jordan umgeben von kleinen Herzchen in meine Schulbücher gemalt. Ich wollte wissen, wie mein Vorname zusammen mit seinem Nachnamen aussieht. Ich war schließlich unsterblich in ihn verliebt.
Das mache ich zwar schon lange nicht mehr, aber während ich auf diesem Dach stehe, mir den Arsch abfriere und einen direkten Blick auf Isaac Jordan habe, der Juli verliebt in die Augen sieht, fühle ich mich wieder wie das kleine Mädchen, das ich früher einmal war. Es hat mich wohl nie ganz verlassen und war ganz dicht unter der Oberfläche. Und gerade brechen all die Gefühle, die ich mir schon lange nicht mehr gestattet habe, für ihn zu fühlen, wieder aus mir heraus.
Die ersten Raketen explodieren am dunklen Nachthimmel, weil es einige Leute wohl nicht aushalten können, noch eine verdammte Minute zu warten. Es gibt Dinge, die mich irrational wütend machen. Dass das Feuerwerk jedes Jahr schon kurz vor Neujahr beginnt, gehört definitiv dazu.
Ich sollte sie nicht so anschauen, aber ich kann nicht anders. Isaacs aufrichtiges Lächeln sorgt dafür, dass meine Brust zu eng für mein Herz wird, das ihm auch zwei Jahre nach unserer Trennung immer noch gehört. Sein Gesichtsausdruck wäre wunderschön, wenn er ihn nicht gerade meiner Schwester schenken würde.
Wieso habe ich überhaupt zugesagt, Silvester in Julis WG zu verbringen? Um zwölf Uhr niemanden küssen zu können, ist eigentlich schon schlimm genug. Dann auch noch von glücklichen Pärchen umgeben zu sein, macht es auch nicht besser. Stella und Matthew sehen ekelhaft verliebt aus. Julis Mitbewohnerin Liv und ihre Freundin Ava haben den ganzen Abend nur Augen füreinander. Ihre andere Mitbewohnerin hat sich schon vor einer Weile mit ihrem Freund zurückgezogen, und ich brauche nicht besonders viel Fantasie, um mir vorzustellen, was die beiden wohl gerade machen. Jakob war der andere Single. Aber er hat die einzige richtige Entscheidung getroffen und hat sich schon vor einer Stunde verabschiedet, weil er zu einer anderen Party eingeladen war, wo bestimmt irgendjemand auf ihn wartet, mit dem er den Abend und vielleicht sogar die Nacht verbringen kann.
Ich hätte mich auch verziehen sollen. Nur meine Sturheit stand mir im Weg. Ich wollte mir beweisen, dass es mir nichts ausmacht, diesen Feiertag mit meinem Ex-Freund zu verbringen. Und wäre er nur mein Ex-Freund, könnte ich das Ganze vermutlich mit mehr Würde und weniger verletzten Gefühlen ertragen. Aber er ist eben nicht nur mein Ex-Freund. Er ist die Liebe meines Lebens. Auch wenn ich nicht seine bin.
Der Countdown beginnt. Und alle brüllen die Zahlen aus vollen Kehlen mit.
Zehn.
Neun.
Acht.
Alle strecken ihre Gläser in die Höhe.
Sieben.
Sechs.
Fünf.
Vier.
Es gibt so vieles, was ich mir gerade ansehen könnte. München bei Nacht. Das Feuerwerk. Meine anderen Freunde. Aber natürlich starre ich immer noch geradeaus.
Drei.
Zwei.
Eins.
Isaacs Lippen treffen auf Julis. Mir ist schon seit Stunden kalt, trotzdem fühlt es sich jetzt so an, als würde mir jemand auch noch einen Eimer eiskaltes Wasser über den Kopf kippen.
Ich bin hierhergekommen, um mir zu beweisen, dass ich über ihn hinweg bin. Letztendlich hat mir dieser Abend nur das Gegenteil gezeigt.
Da mich sowieso niemand beachtet, wende ich mich ab, schnappe mir eine Flasche Jägermeister von einem Tisch und klettere durch die Luke ins Treppenhaus. Ich sollte einfach gehen. Aber ich bin nicht bereit, mir eine Niederlage einzugestehen. Und noch viel weniger will ich, dass jemand erkennt, was mich in die Flucht geschlagen hat. Das könnte ich nicht ertragen.
Das Einzige, was schlimmer wäre, als Isaac Jordan immer noch zu lieben, ist die Vorstellung, er könnte es erfahren.
Die Tür zu Julis WG ist nur angelehnt, und ich schiebe mich hinein. Das hilft zwar nicht meinen angeschlagenen Nerven, aber wenigstens meinen tiefgefrorenen Gliedern. Silvester im Freien zu feiern, ist die beschissenste Idee, die jemals jemand hatte. Dass die Aussicht gut ist, kümmert mich nur wenig, wenn ich meine Zehen nicht mehr spüren kann. Aber seitdem Julis Freunde vor ein paar Monaten diese Luke entdeckt und herausgefunden haben, dass sie so aufs Dach gelangen können, feiern sie jeden erdenklichen Anlass dort oben.
Ich lasse mich aufs Sofa fallen und schnappe mir die Fernbedienung. Während ich den Jägermeister trinke, um betrunken genug zu werden, damit ich den restlichen Abend ertragen kann, werde ich meine Lieblingsserie Downton Abbey gucken und hoffen, dass ich mich dann ein bisschen besser fühle.
Gerade will ich den Fernseher einschalten, als ein wütender Ruf an meine Ohren dringt. Ich zucke zusammen und drehe mich hektisch um. Auf den ersten zornigen Schrei folgt ein zweiter. Sie dringen eindeutig aus dieser WG. Und bevor ich mir Gedanken darüber machen muss, ob hier jemand nur wenige Meter von mir entfernt ermordet wird – was mein Silvester sogar noch beschissener gemacht hätte –, höre ich auch schon, wie eine Tür aufgeht und schwere Schritte den Flur entlangkommen. Begleitet von lauten Stimmen. Doch inzwischen kann ich die gebrüllten Worte auch verstehen.
»Wieso machst du so eine große Sache daraus?«
Noch sehe ich die Schreihälse nicht, weil der Flur in dieser Wohnung mehrere Kilometer lang ist und einmal um die Ecke geht, aber ich erkenne die Stimme. Das ist Hanna, Julis andere Mitbewohnerin. Und anscheinend hat sie sich doch nicht mit ihrem Freund zurückgezogen, um zu vögeln, sondern um sich zu streiten. Sollte es mir ein Trost sein, dass ich nicht die einzige Person in diesem Haus bin, die einen schrecklichen Abend hat?
»Keine große Sache?«, gibt ihr Freund zurück. Die Schritte halten irgendwo im Flur inne. Ich kann die beiden immer noch nicht sehen. »Du hast seinen Namen gesagt. Während wir …«
Oh fuck. Also haben sie doch zuerst gevögelt und sich dann gestritten.
Ich habe den Namen von Hannas Freund vergessen, falls ich ihn jemals wusste, aber in Gedanken drücke ich ihm mein Beileid aus.
»Ich weiß nicht, was du meinst, gehört zu haben …«, setzt sie an, doch sie kommt nicht weit.
»Du hast Jakob gesagt«, ruft er.
Oh, das wird ja immer besser. Sie hat nicht nur den falschen Namen gesagt, sondern auch noch den von ihrem Mitbewohner. Ihrem sexy tätowierten Mitbewohner.
Ich hätte mich längst verziehen sollen. Doch das fällt mir erst auf, als die Schritte wieder einsetzen. Zwei Sekunden später kommen die beiden ins Wohnzimmer. Zum Glück sind sie so mit sich selbst beschäftigt, dass sie mich gar nicht entdecken. Es war eine gute Entscheidung, das Licht auszulassen. So kann ich mit den Schatten verschmelzen.
»Habe ich nicht. Und ich habe keine Lust, mich an Silvester zu streiten. Ich gehe wieder hoch zu meinen Freunden«, sagt Hanna und steuert auf den Ausgang zu.
»Das ist nicht dein Ernst«, stößt ihr Freund aus. Doch er folgt ihr nicht, als sie die WG verlässt. Er bleibt einfach mit dem Rücken zu mir im Wohnzimmer stehen.
Und auf einmal bin ich mit einem Fremden allein, dessen Namen ich kennen müsste, den ich mir aber nicht merken konnte, und habe definitiv mehr gehört, als ich sollte.
»Und ich dachte, ich hätte einen furchtbaren Abend«, sage ich, um auf mich aufmerksam zu machen.
Er fährt erschrocken zu mir herum. Nur aus dem Flur fällt Licht ins Wohnzimmer. Das reicht gerade so, um festzustellen, dass er groß und dunkelhaarig ist. Sein Gesichtsausdruck verschwindet im Schatten.
»Sorry, ich wollte dich nicht erschrecken«, füge ich hinzu. »Aber ich dachte, du solltest wissen, dass du nicht allein bist, falls du in Ruhe weinen wolltest.«
Ich hätte etwas Mitfühlenderes sagen sollen. Doch das war noch nie meine Stärke. Ich warte schon darauf, dass er mich einfach kommentarlos zurücklässt oder mit einem fiesen Spruch kontert. Zu meiner Überraschung entfährt ihm ein Lachen.
»Das ist natürlich sehr umsichtig von dir«, meint er und seufzt schwer. Er fährt sich mit beiden Händen durch die Haare. Ich glaube, er sieht mich an, aber ich bin mir nicht ganz sicher. »Du bist Julis Halbschwester, oder?«
»Schwester«, erwidere ich automatisch. Früher haben wir darauf bestanden, dass wir keine richtigen Schwestern sind. Heute sind wir über solchen Kinderkram hinaus. Ich kann Schmerz empfinden, wenn ich sie mit Isaac sehe. Gleichzeitig kann ich aber auch dankbar sein, dass wir verwandt sind. Das schließt sich nicht aus. Und ich bin froh, dass ich das irgendwann erkannt habe.
»Schwester«, wiederholt der Kerl. »Lorena«, stellt er dann fest. Es ist keine Frage.
»Richtig«, sage ich. »Und du bist nicht Jakob.«
Wieder ein äußert unsensibler Kommentar. Aber auch dieser bringt ihn zum Lachen.
»Richtig«, erwidert er. »Die meisten Leute nennen mich Milo.«
»Freut mich, dich nach zwölf während der beschissensten Silvesterparty meines Lebens kennenzulernen, Milo.« Ich halte ihm die Flasche entgegen. »Du siehst aus, als könntest du ein paar Schlucke vertragen.«
Er zögert einen Moment, dann löst er sich von der Stelle und kommt auf mich zu. Kraftlos lässt er sich neben mir aufs Sofa fallen und nimmt den Jägermeister entgegen. Er trinkt mehrere tiefe Züge und gibt ihn mir dann zurück.
»Willst du darüber reden?«, frage ich, weil das in diesem Moment wohl von mir erwartet wird.
»Eigentlich nicht«, setzt er an. Sein Blick geht in die Ferne, dann wandert er kurz zu mir herüber. »Vielleicht schon.« Er zögert wieder. »Keine Ahnung.«
Ich lächle. Eigentlich hat er mit diesen wenigen Worten gar nichts ausgesagt. Aber auf eine seltsame Weise ergeben sie für mich doch Sinn. So funktioniert auch mein Kopf, wenn es um Isaac geht. Liebe ich ihn noch? Eigentlich nicht. Vielleicht schon. Keine Ahnung.
Diese Antwort klingt verwirrend. Letztendlich versteckt sie in den meisten Fällen aber eine sehr klare Wahrheit, die man sich nur noch nicht eingestehen will.
Liebe ich ihn noch? Ja. Aber bitte verrat es niemandem.
»Du und Hanna seid schon lange zusammen«, beginne ich, falls seine verwirrten Worte auch einfach ein Ja sind, das er sich nur nicht eingestehen will.
»Wir sind nicht mehr zusammen. Nicht so richtig.«
Ich sehe ihn fragend an. Wir haben immer noch nicht das Licht eingeschaltet. Da wir schon so lange in der Dunkelheit verweilt haben, gehe ich davon aus, dass wir das auch nicht mehr nachholen werden.
»Nicht so richtig?«
»Wir sind quasi Freunde, die …«
»Sex haben.«
Er nickt, und diesmal muss ich ihm die Jägermeisterflasche gar nicht anbieten, damit er sie sich nimmt. Wenn ich mich nicht ranhalte, trinkt er sie ganz ohne mich.
Mir ist bewusst, dass es nie eine gute Idee ist, seine Sorgen in Alkohol zu ertränken. Der Gedanke an August schleicht sich immer ein, wenn ich ein Glas aus den falschen Gründen in die Hand nehme. Aber heute ist eine Ausnahme. Milo scheint das genauso zu sehen. Sobald ich ihm die Flasche zurückgebe, trinkt er beherzt weiter.
»Richtig«, sagt er verzögert.
»Ist das nicht schmerzhaft?«
»Der Sex?«, fragt er irritiert.
Mir entfährt ein Lachen. »So war die Frage nicht gemeint. Mir ist egal, welche Art von Sex ihr habt.«
Er lacht ebenfalls. Es klingt gelöst, tief und ehrlich. Es ist ein schöner Klang. Doch er verschwindet viel zu schnell wieder. »Wie war die Frage dann gemeint?«
Vermutlich gehe ich einen Schritt zu weit, und vermutlich verbessere ich seine Laune nicht, sondern tue genau das Gegenteil. Ich kann meinen Mund allerdings auch nicht halten. Die Antwort interessiert mich viel zu sehr.
»Ist es nicht schmerzhaft, nach einer Trennung mit jemandem zu schlafen, den man noch liebt?«
Ich habe keine Ahnung, ob ich Isaac wegschubsen würde, sollte er versuchen, mich zu küssen. Vielleicht würde ich es wegen Juli tun. Aber ich kann es nicht mit Sicherheit sagen. Und das jagt mir eine Riesenangst ein.
»Wer sagt, dass ich sie noch liebe?« Er haucht die Worte nur.
»Deine Augen und deine Stimme«, gebe ich zurück und erkenne, dass ich schon wieder Dinge sage, die mir nicht zustehen. Aber es ist nach zwölf an Silvester. Ein neues Jahr hat begonnen, in dem ich immer noch unglücklich in meinen Ex-Freund verliebt bin. Ich fühle mich furchtbar. Und vielleicht macht mich das zu einem schlechten Menschen, doch neben jemandem zu sitzen, der etwas Ähnliches fühlt, ist irgendwie tröstlich. Auch wenn ich mir eigentlich wünschen sollte, dass es ihm besser ginge als mir. Für so viel Selbstlosigkeit fehlt mir heute die Energie.
Milo schluckt schwer und umklammert die Flasche, ohne noch einmal daraus zu trinken.
»Du warst mal mit Isaac zusammen, oder?«
»Woher weißt du das?«
Er grinst mich an, und obwohl es so dunkel ist, meine ich, zu erkennen, dass eine Iris blau und eine braun ist. Irgendwie sieht die blaue trauriger aus. »Deine Augen und deine Stimme«, entgegnet er.
Ich lache leise auf. »Touché.« Ich nehme mir noch einmal die Flasche und hebe sie feierlich in die Luft. »Darauf, dass wir auch im nächsten Jahr unglücklich verliebt sein werden.«
Milo lacht, während ich trinke. Den Rest kippt er in einem Zug runter. »Gott, ich hoffe nicht.«
»Wirst du weiterhin mit ihr schlafen?«
Dass er nicht sofort antwortet, ist Antwort genug.
»Warum sollte das neue Jahr dann anders werden als das davor?«
»Hat es dir geholfen, nicht mit ihm zu schlafen?«
»Touché.« Etwas Geistreicheres fällt mir nicht ein. »Vielleicht habe ich einfach nicht mit genug anderen Männern geschlafen. Das könnte doch die Lösung sein.«
»Du meinst, man kann so viel Sex mit anderen haben, bis man sich nicht mehr daran erinnert, wie es war, Sex mit ihr zu haben?«, fragt er.
Obwohl wir eine vollkommen unsinnige Unterhaltung führen, sind unsere Stimmen sehr ernst, als würden wir über den Sinn des Lebens philosophieren. Und komischerweise fühlt es sich in diesem Moment, in dieser dunklen Wohnung, während draußen die Stadt feiert und das Feuerwerk den Himmel erstrahlen lässt, auch ein bisschen so an.
»Vielleicht«, meine ich. »Es lohnt sich auf jeden Fall, es herauszufinden.«
Das war nicht als Anmachspruch gemeint, aber ich habe mich im gleichen Atemzug zu ihm umgedreht. Und wenn man jemandem in einem dunklen Zimmer tief in die Augen sieht, während sich die Schultern berühren, klingt eigentlich alles wie ein Anmachspruch.
Milo erwidert meinen intensiven Blick. Seine Augen sind vom Alkohol glasig. Meine sehen vermutlich genauso aus. Wir rühren uns beide nicht. Wir rücken weder voneinander ab noch aufeinander zu. Trotzdem beginnt mein Herz zu rasen.
Meine Theorie war nicht als Vorschlag gemeint, dass wir sie gleich testen sollten. Doch nun betrachte ich seine kantigen Züge, die von der Seite leicht angestrahlt werden und deswegen noch schärfere Schatten werfen. Und seine verschiedenfarbigen Augen. Und seine vollen Lippen. Und auf einmal weiß ich nicht, wie ich den Satz ursprünglich gemeint hatte. Die Vorstellung, mich jetzt in seinen Armen zu verlieren, ist verlockend. Ist es nicht besser, das neue Jahr mit Sex mit einem Fremden einzuläuten anstatt mit Gedanken an den Ex-Freund?
Fuck it.
Diese zwei Wörter scheinen einmal in riesigen Buchstaben, die an Leuchtreklame erinnern, durch meinen Kopf zu laufen.
Fuck it.
Was spricht dagegen?
Vieles. Aber deswegen gebe ich mir auch keine Zeit, die ganze Liste aufzuzählen.
Ich beuge mich ihm entgegen und lege meine Lippen auf seine. Der würzige Geschmack von Jägermeister wird intensiver, obwohl er auch auf meiner eigenen Zunge liegt.
In der ersten Sekunde reagiert er nicht, und ich will schon zurückweichen und mich irgendwo verkriechen, wo man mich erst in drei Jahren wiederfinden wird.
Doch dann löst er sich von mir, stellt die Jägermeisterflasche auf dem Couchtisch ab, und bevor ich mich dafür entschuldigen kann, dass ich ihn einfach geküsst habe, zieht er mich wieder an sich.
Seine Lippen treffen verzweifelt auf meine. Ich komme ihm entgegen und genieße, dass wir alles andere als sanft sind. Er vergräbt die Hände in meinen Haaren, ich beiße ihm leicht in die Unterlippe. Es gibt kein Herantasten. Wir stürzen uns einfach ineinander. Aber das ist in Ordnung.
Der Kuss fühlt sich gut an. Er übt Druck aus, trotzdem sind seine Lippen weich. Er setzt genug Zunge ein, aber auch nicht zu viel. Ich könnte mich einfach fallen lassen und für eine Weile alles andere vergessen.
So funktioniert das allerdings nicht.
Ich kann spüren, dass er sich wünscht, jemand anderen zu küssen, während ich selbst an Isaac denke. Und sofort verlässt meine Erregung meinen Körper.
Mir ist eben nicht egal, wessen Lippen ich auf meinen spüre. Und ihm vermutlich auch nicht.
Also rutsche ich von ihm weg und lege eine Hand auf seine Brust, als er mir folgen will.
Wir unterbrechen den Kuss, und ich bin ein bisschen traurig, wenn ich daran denke, dass wir ihn nicht wieder aufnehmen werden. Ich wünschte, ich könnte meinen Kopf ausschalten und vergessen. Doch obwohl mein Körper seine Zunge, seine Lippen und seine Hände gespürt hat, spürt er doch noch viel deutlicher den Liebeskummer, der sich vor über zwei Jahren in meiner Brust eingenistet hat und seitdem nicht vertrieben werden kann.
Milo sieht mich immer noch an, und ich muss mich zwingen, seinem Blick nicht auszuweichen.
Mehrmals räuspere ich mich, bevor ich wieder sprechen kann. »Wir sollten das nicht machen.«
Sein Blick ist noch ein bisschen verhangen. Und fuck, dieser attraktive Ausdruck in seinem Gesicht reicht fast aus, um mich all die Gründe vergessen zu lassen, warum das hier eine schlechte Idee ist. Aber nur fast.
»Hanna und ich sind wirklich nicht zusammen, wenn du deswegen Bedenken hast.«
»Habe ich nicht«, antworte ich. »Also nicht nur«, setze ich dann hinzu. »Und dass du vor ungefähr einer halben Stunde noch Sex mit einer anderen Frau hattest, ist auch nicht der ausschlaggebende Grund.«
Er lacht leise auf. Unsere Berührungen waren vielleicht für andere Menschen bestimmt. Doch das Lachen, das wir einander heute Nacht entlockt haben, ist aufrichtig. Und dieses erinnert mich an die Feuerwerkskörper, die es für einen kurzen Moment schaffen, die Dunkelheit des Nachthimmels zu durchbrechen.
»Was ist dann der Grund?«, fragt er.
»Ich will niemanden küssen, der sich wünscht, er könnte jemand anderen küssen.«
Auf einmal wird er ganz ernst. Seine Züge geben keinen Hinweis darauf, dass er gerade noch gelacht hat. Er will etwas sagen, aber ich unterbreche ihn, bevor er überhaupt ein Wort ausgesprochen hat.
»Du musst das jetzt nicht abstreiten oder mir erklären, dass du mich attraktiv findest oder so. Ich weiß, dass du mich attraktiv findest. Also keine Sorge. Mein Ego ist stabil genug, um die Tatsache, dass du lieber jemand anderen küssen würdest, zu überleben.«
Er grinst. »Okay, gut. Dann muss ich mir ja keine Sorgen machen.«
»Musst du nicht«, sage ich mit Nachdruck. »Und wir müssen uns hier echt nicht belügen. Wenn man zu einem Fremden betrunken in einem unbeleuchteten Zimmer nicht ehrlich sein kann, zu wem dann?«
»Zu wem dann?«, fragt er, als würde er über diese Frage tatsächlich ernsthaft nachdenken. »Und was willst du mir Ehrliches sagen?«
»Dass ich auch lieber jemand anderen küssen würde als dich.«
Wieder grinst er. »Das ist fair.«
Und obwohl wir uns verschwörerisch angrinsen, liegt auch viel Trauer in diesem Ausdruck. Wir können so viel darüber scherzen, wie wir wollen. Das ändert auch nichts an der Tatsache, dass wir zwei Menschen sind, die unglücklich verliebt sind. Und das wird nicht weniger schmerzhaft, egal, wie gut sich ein Kuss zwischen uns auch anfühlt und wie ehrlich die Worte sind, die wir uns angetrunken trauen, miteinander zu teilen.
»Aber was spricht dann dagegen? Wenn wir beide jemand anderen küssen wollen, gleicht sich das ja quasi wieder aus.«
»Ich glaube nicht, dass das so funktioniert.«
Er nickt langsam. »Vermutlich hast du recht.«
»Ich will nicht mehr die zweite Wahl sein«, sage ich, obwohl ich diese Worte gar nicht entkommen lassen wollte. »Ich fühle mich in der Rolle schon viel zu lange viel zu wohl.«
Milo reagiert nicht sofort. Er bleibt lange still. Schließlich räuspert er sich umständlich und setzt sich noch ein bisschen gerader hin. »Ich weiß, was du meinst.«
»Dann habe ich einen guten Neujahrsvorsatz für uns.«
»Okay, schieß los«, fordert er mich auf. Das O zieht er ein bisschen in die Länge.
»Wir nehmen uns vor, dass wir uns mit der zweiten Wahl nicht länger zufriedengeben.«
Wieder zögert Milo. »Ich werde den Vorsatz vermutlich brechen.«
»Warum?«
»Weil ich noch nicht bereit bin, die nötigen Konsequenzen zu ziehen.«
»Du meinst, Hanna loszulassen.«
»Mh«, macht er nur. Es ist ein Eingeständnis, aber er ist nicht in der Lage, es mit einem richtigen Wort auszudrücken. Aber ich gebe mich auch mit gemurmelten Buchstaben zufrieden.
»Das ist auch in Ordnung. Wer hält sich schon an seine Neujahrsvorsätze?«
Sein Lächeln ist so traurig, dass ich es kaum ertragen kann, ihn länger anzusehen.
Ich will noch etwas trinken, aber die Flasche ist leer. Noch einmal seufze ich, dann stehe ich auf.
»Was hast du vor?«, fragt er.
»Ich werde gehen. Was ich schon vor Stunden hätte tun sollen.« Ich werfe ihm einen letzten Blick zu, und das Lächeln, das sich dabei auf meine Lippen legt, ist sogar aufrichtig. »Es hat mich ehrlich gefreut, dich kennenzulernen, Milo. Auch wenn ich deinen Namen morgen vermutlich wieder vergessen haben werde.«
»Es hat mich auch ehrlich gefreut.«
Ich will mich abwenden, aber noch schaffe ich es nicht. Ich verharre einen Moment und sehe ihn einfach an. »Du wirst wieder zu ihr hochgehen und so tun, als wäre nie etwas gewesen, oder?«, frage ich, obwohl ich nicht einmal weiß, warum ich die Antwort wissen will.
Ich denke schon, dass er gar nicht mehr reagieren wird, als er schließlich geschlagen nickt. »Vermutlich.«
»Mit neuen Vorsätzen startet man sowieso erst ab dem zweiten Januar. Das weiß doch jeder.«
»Das weiß doch jeder«, wiederholt er und prostet mir mit der leeren Flasche zu. »Es war mir eine Freude, Lorena Kronenberger.«
Ich erwidere nichts mehr, drehe mich um und gehe. Komischerweise muss ich weniger darüber nachdenken, was es in mir auslöst, niemals Lorena Jordan zu werden, wenn jemand meinen richtigen Nachnamen ausspricht.