René Kurowsky kam auch am nächsten Tag wieder. Trotz allem hatte Clara einen neuen Kessel angesetzt. Gerade hatte sie das Malz in Wasser erhitzt und den Deckel daraufgelegt, als sie Schüsse vor der Tür hörte. Sie rannte, um zu öffnen. Er machte einen Satz herein und lehnte sich keuchend gegen die Wand.

«Sie sind ja verrückt!», schrie Clara ihn an und schlug die Tür hinter ihm zu. Er lachte nur, kaum war er wieder bei Atem.

«Die da draußen?», erwiderte er, sie absichtlich missverstehend. Er ging noch einmal zur Tür und öffnete sie einen Spalt, um sich zu vergewissern, dass niemand draußen mit dem Gewehr lauerte. Dann drehte er sich um und zwinkerte ihr zu.

Clara war nicht das Mädchen, das wegen eines Augenzwinkerns in die Knie ging. Hatte sie jedenfalls gedacht, und deshalb ärgerte sie sich, dass ihr Herz trotzdem einen Sprung machte. «Glauben Sie bloß nicht, mit Ihrem Charme könnten Sie diesen Unsinn ungeschehen machen. Im Moment wird auf den Hinterhöfen noch nicht geschossen. Aber was tun Sie eigentlich, wenn ich nicht da bin, um Ihnen die Tür aufzumachen?», fragte sie, während sie zurück in die Gaststube ging.

«Keine Ahnung», erwiderte er, zog im Gehen die Jacke aus und legte sie über den Arm. Sein Mundwinkel zuckte. «Verhandeln?»

«Mit einem Haufen wildgewordener Söldner, die auf alles schießen, was sich bewegt?», entgegnete Clara. Charmante

«Ging nicht. Es gab kein Bier mehr.» Er schien das alles als Spiel zu betrachten. Nur seine Augen sprachen eine andere Sprache – sie lachten nicht mit. Wieder fragte sich Clara, ob er einfach kalt war. Oder was trieb ihn, aus seinem Leben jeden Tag ein Vabanquespiel zu machen? Wovor lief er weg? Laut sagte sie: «Womit einmal mehr bewiesen wäre, dass Alkohol lebensgefährlich ist. Aber was ist mit dem Scotch?»

René fuhr sich durch das widerspenstige Haar, das nie richtig glatt saß. «Machen Sie keine Religion daraus. Es ist nicht so, dass ich ihm ewige Treue geschworen hätte.»

«Freut mich zu hören.» Die Gaststube war wegen der Straßenkämpfe leer. Nur im Nebenraum stand der Kessel mit Claras nächstem Experiment und verbreitete penetranten Malzgeruch. «Und warum ausgerechnet hier?»

Sie schloss die Tür und winkte Angelika. Die Kellnerin zapfte ein Bier, wobei sie den Besucher misstrauisch beäugte.

«Vielleicht wollte ich die Frau wiedersehen, die sich nichts aus Perlen macht.» Er betrachtete sie, und Clara war froh, dass sie der Versuchung widerstanden hatte, sich aufzuputzen. Sie trug ein schlichtes hellblaues Kleid ohne Verzierungen. Allerdings hatte sie sich heimlich an den Toilettentisch ihrer Mutter geschlichen und ihre Augen leicht geschminkt. Ganz vorsichtig, sodass man es kaum sah. Nicht dass er sich noch etwas einbildete.

«Also, für eine Abfuhr riskieren Sie Ihr Leben?», fragte sie.

René zuckte die Schultern. «Das ist doch mal etwas anderes.» Aber ihr fiel auf, dass er sie mit gerunzelter Stirn beobachtete, wenn er dachte, dass sie nicht hinsah.

Angelika brachte das Bier, etwas Gselchtes mit Brot – und das Weihwasserschälchen. René blickte sie fragend an, und sie hielt es ihm mit entschlossener Miene unter die Nase.

Angelika bekreuzigte sich. «A Kommunist?»

Er hob schmerzhaft eine Braue. «Es ist kompliziert.»

Jemand hämmerte an die Tür, sie flog auf. Clara fuhr herum und stieß schmerzhaft gegen die Theke. Drei Uniformierte mit weißen Armbinden drängten sich herein. Der vorderste war ziemlich dick und trug einen Schnauzbart, hinter ihm zwei jüngere. Der hinterste lief in den Dicken und brachte ihn aus dem Gleichgewicht. Die Gewehre im Anschlag, sahen sie sich um.

«Hände hoch, alle zusammenstellen!», schrie der Dicke.

Angelika bekreuzigte sich und gehorchte. René stand langsam mit erhobenen Händen auf und stellte sich so zu Clara, dass sein Körper sie verdeckte. Normalerweise wäre sie wie gelähmt vor Schreck gewesen. Doch aus irgendeinem Grund war es heute anders. Wusste der Teufel, warum, aber sie fühlte sich auf einmal ruhig und besonnen.

«Spielen Sie nicht den Helden!», flüsterte sie. Sie schob ihn zur Seite und stellte sich vor: «Clara Bruckner. Das ist meine Gaststätte.» Vorsichtshalber ließ sie die Hände oben. Wenn es stimmte, was Hans gesagt hatte, schossen diese Männer auch auf Frauen.

«Sie haben geöffnet? Hier wird gekämpft!», fuhr der Dicke sie an. Über der Uniform trug er einen weiten Mantel, was ihn noch massiger erscheinen ließ, und auf dem Kopf einen Helm.

Sie spürte, wie René in ihrem Rücken eine Bewegung machte, aber sie schüttelte den Kopf. Das Letzte, was sie jetzt brauchen konnte, war, dass er sich mit einem Trupp schießwütiger Soldaten anlegte. «Ich arbeite an einem neuen Rezept. Und von einer Ausgangssperre habe ich nichts gehört.»

Der Soldat runzelte die Stirn. Natürlich gab es keine

René hob ironisch eine Braue. «Kriegsberichterstatter.»

Der Dicke musterte Renés Hemd, die weite Hose, deren Träger ohne die Jacke sichtbar waren, das Haar, das ihm schon wieder in die Stirn fiel. Fragte er sich, wie ein Journalist aussah? «Für welche Zeitung?», schnarrte er schließlich. «Ich sag Ihnen gleich, ein paar werden verboten. Schluss mit der linken Hetze. Sonst wird das nichts mit einem demokratischen Bayern.»

Renés lebhafte Augen blitzten spöttisch. «Ja, und die Kommunisten haben mit demselben Argument die bürgerlichen Zeitungen verboten. Sagen Sie mir nur eins: Wenn jeder den Leuten vorschreibt, was sie zu denken haben, wo genau ist da die Demokratie?»

«Sie sind ein Roter! Verhaftet ihn!» Die beiden Soldaten hinter ihm hoben die Gewehre. Clara hielt den Atem an. Sie warf einen hilfesuchenden Blick zu Angelika, aber die bekreuzigte sich nur, um sofort wieder brav die Hände nach oben zu nehmen.

«Oh, das scheint Ihnen nur so», René lachte ungerührt. «Für die Roten bin ich ein Weißer. Die Wahrheit ist, Armbinden stehen mir nicht, ob rot oder weiß oder meinetwegen …», er blickte demonstrativ auf die rot und weiß karierten Tischtücher: «… kleinkariert.»

Der mit dem Schnauzbart kam dicht heran und hielt ihm den Lauf des Gewehrs unters Kinn. «Machen Sie sich über mich lustig?»

«Niemand macht sich lustig!», mischte sich Clara schnell ein, ehe René gelangweilt über die Einfallslosigkeit der Drohung die Augen verdrehen konnte. Instinktiv versuchte sie es mit demselben Trick, der bei den Rotgardisten funktioniert hatte. «Der

Angelika ließ ihr keine Zeit zum Grübeln. Sie bekreuzigte sich noch einmal, dann hastete sie hinter die Theke und brachte den Schnaps.

Der Schnauzbärtige zögerte. Dann griff er zu.

Als die Soldaten endlich das Gasthaus verließen, sackte Clara auf den nächsten Stuhl. Ihre Knie waren weich. «Sie verdammter Narr!», sagte sie zu René, als sie endlich wieder atmen konnte. «Wissen Sie, was die gerade mit Ihnen hätten machen können?»

***

Nach zwei Tagen hatten sich die Weißen fast überall in der Stadt durchgesetzt. Doch in Giesing, wo viele Arbeiter lebten, dauerten die Kämpfe noch an. Rinnsale von Blut zogen sich über die Straßen, bisweilen lagen Leichen am Straßenrand, um die sich niemand kümmerte. Gerade ausgewechselte Fensterscheiben waren erneut zerschossen, Glassplitter, abgebröckelter Putz und leere Patronenhülsen bedeckten den Boden.

«Sie haben sogar einen Gymnasialprofessor erschossen, weil sie ihn für einen Roten hielten», flüsterte Antonia, als sie am Abend des dritten Mai die Zeitung las. «Von hinten. Sie schießen immer von hinten, und dann behaupten sie, es wäre ein Fluchtversuch gewesen.»

René hatte versprochen, ein Telegramm zu schicken, und Clara wartete nervös. Sie wünschte, er würde einfach zu Hause in Schwabing bleiben, wo schon wieder alles ruhig war. Leider schien er sich am wohlsten zu fühlen, wenn ihm die

Es kam keine Nachricht. Vielleicht hatte er sie ins Gasthaus geschickt? Der wenige hundert Meter lange Uferpfad zwischen Brucknerschlössl und Sudhaus wurde nicht beschossen. Und der Hof, der Sudhaus und Gaststätte verband, war zur Straße hin geschützt von einer Mauer. Trotzdem sagte Clara ihren Eltern lieber nicht, dass sie ausging. Nieselregen hatte eingesetzt und hing in der Luft wie ein feiner zartgrauer Schleier. Die Gräser schossen fett und grün aus dem Boden, aber sie hatte keine Augen dafür.

«Ist ein Telegramm für mich gekommen?», fragte sie hastig, als sie in das Hinterzimmer mit dem Versuchskessel kam. Unwillkürlich verzog sie das Gesicht, das Gebräu roch auch im zweiten Versuch alles andere als verlockend.

«Telegramm? Naa.» Angelika machte ihre Hoffnung jäh zunichte.

Clara schloss langsam die Tür und ging in die leere Gaststube. Sie ließ sich auf einen der Stühle am Durchgang zur Küche sinken.

Es musste etwas passiert sein. Irgendetwas war ihm zugestoßen, sonst hätte er sich gemeldet. Vielleicht war er verhaftet worden oder in eine Schießerei geraten. Ein Querschläger konnte jemanden töten, es musste noch nicht einmal Absicht sein. Das Schicksal war blind. Die einen trampelte es nieder, andere blieben übrig. Es war der brutale, sinnlose Zufall, der entschied, wer lebte und wer starb. Wie damals bei der Spanischen Grippe. Claras Lippen begannen zu zittern.

Die Eingangstür öffnete sich. Sie merkte es nur an dem kühlen Windstoß, der hereinwehte, und an dem plötzlich lauter werdenden Geräusch der Schüsse draußen auf der Straße. Als sie aufsah, stockte ihr der Atem.

«Sie …» Claras Stimme versagte. Sie kam von ihrem Stuhl hoch. «Sie verfluchter Narr! Wissen Sie, was ich mir schon ausgemalt hatte?»

René verzog schmerzlich die Brauen. «Es tut mir leid. Ich war schon auf dem Weg zum Amt, aber dann bekam ich Lust, Sie persönlich zu sehen. Ich wäre schon früher da gewesen, doch leider hockt dieser schießwütige Soldatenrat nicht weit von hier im Dreck unter einem Torbogen. Hitler heißt er, glaube ich. Ich dachte, er arbeitet für die Räterepublik, hat sich offenbar auf die Seite der Sieger geschlagen. Die Soldatenräte und die Rechtssozialisten sollten Rosa tragen, wenn sie zwar mitkämpfen, aber sich nicht zwischen Rot und Weiß entscheiden wollen.»

Am liebsten hätte Clara ihm eine saftige Ohrfeige verpasst. «Tun Sie das nie wieder», sagte sie stockend.

«He!» René schien erst jetzt zu merken, wie sehr sie die Sache mitgenommen hatte. Er nahm ihre Hand. «Es ist alles gut, wirklich.»

Die Berührung war zu viel. Es war unerträglich, ihn jetzt so warm und lebendig zu spüren, wo sie ihn noch vor wenigen Minuten kalt und tot an einem Straßenrand liegend gewähnt hatte. Clara war sich immer noch nicht sicher, ob sie wütend oder erleichtert sein sollte.

René runzelte die dunklen Brauen. «Ist es wegen meiner Religion?», fragte er verunsichert.

Seine dunklen Augen waren geweitet, und auf seiner Wange zuckte ein Muskel. War es die Überraschung wegen des Ausbruchs, den er ihr nicht zugetraut hatte? Oder hatte sie etwas gesehen, das er zu verbergen versuchte?

Er tut es nicht meinetwegen, dachte Clara überrascht. Er tut es nicht trotz der Gefahr – sondern deswegen!

Sie presste die Lippen aufeinander. «Tun Sie so etwas nie wieder», wiederholte sie leise. «Oder gehen Sie und kommen Sie nicht mehr her!»