Die Kämpfe in Giesing dauerten eine Woche, dann war es vorbei. Die Räterepublik war gestürzt. Die Freikorps bekamen das blutige Handwerk anvertraut, die Stadt zu «reinigen». Mitleidlos machten Glücksritter und Rechtsradikale nun im Auftrag der SPD-Regierung Jagd auf die letzten Roten.
Hatte Magdalena, wie so viele Bürger, die «Weißen» anfangs noch mit Blumen empfangen, verflog die Freude schneller als deren Frische. Während die Blüten von tausend Stiefeln zertreten in schmierigen Pfützen faulten, fegte eine Welle des Terrors durch die Straßen. Geduckt und verängstigt hasteten die Menschen ihrer Wege, wer konnte, blieb zu Hause. Das Regiment der Roten war vielen brutal und verängstigend erschienen, aber nun wurde es noch übertroffen. Immer wieder hörte man Schüsse, lagen Tote am Weg. Schreie, wenn Menschen scheinbar urplötzlich aus ihren Häusern auf die Straßen gezerrt wurden. Oben am Ostfriedhof waren unüberschaubare Mengen verstümmelter Leichen aufgebahrt, die niemand mehr identifizieren konnte. Mütter suchten ihre Söhne, Männer ihre Frauen, Kinder ihre Eltern. Ein Gestank von Verwesung hing in der Luft wie über einem Schlachtfeld. Es war, als wäre der Krieg mitten in die Stadt zurückgekehrt.
Die Malzfabrik Moser lag etwas stadtauswärts in Obergiesing, in einem Backsteinbau mit endlosen Reihen quadratischer Fenster. Das Wohnhaus befand sich gegenüber, und das Kontor blickte auf das Labyrinth der roten Mauern. Als die Fabrik entstanden war, in den reichen Gründerjahren, war sie schnell gewachsen und zweimal erweitert worden. Aber als der Krieg ausbrach, wurde Gerste plötzlich knapp. So waren heute ganze Flügel der Anlage ungenutzt. Man erkannte sie an den dunklen Fensterlöchern mit den gesprungenen Scheiben.
Mit gerunzelter Stirn saß Magdalena in dem kleinen, spärlich möblierten Kontor über den Rechnungen. Anders als in dem eindrucksvollen Arbeitszimmer von Claras Mutter war hier alles schlicht gehalten: Ein einfacher Schreibtisch, Schränke für die Unterlagen, das war alles. Nur ein Alpenveilchen fristete ein kümmerliches Dasein auf der Fensterbank. Trotzdem fühlte es sich sicher an. Clara hatte schon mehrmals angerufen, weil heute eine Vorlesung über Enzyme angesetzt war. Doch Magdalena wollte nicht mit. Das bloße Geräusch von Männerstiefeln machte ihr Angst, und womöglich begegnete sie dort ehemaligen Roten. Seit Tagen nahm sie Baldrian, aber noch immer schreckte sie bei jedem plötzlichen Geräusch zusammen.
«Und? Wie sieht es aus?», fragte Magdalenas Mutter. Sie war eine große, breit gebaute Frau mit einem schlichten Gesicht und allmählich schütter werdendem hellem Haar, das sie zu einem dünnen Knoten gewunden hatte. Noch immer trug sie lange schwarze Trauerkleider, die sie noch blasser wirken ließen, als sie ohnehin war. Die neuen Freiheiten der Frauen verängstigten sie nur.
«Nicht gut.» Magdalena hätte ihr gern etwas Beruhigendes gesagt, aber es hatte keinen Sinn, sie anzulügen. «Vor dem Krieg haben wir unsere Gerste aus Russland bekommen, von dem Großhändler, Herrn …» sie suchte den Namen in den Unterlagen: «Borodin. Aber seit die Kommunisten dort die Macht an sich gerissen haben, ist alles anders. Borodins letzte Nachricht ist anderthalb Jahre her. Wir müssen uns an den Gedanken gewöhnen, dass er nicht mehr als Lieferant in Frage kommt. Vermutlich wurde er enteignet, vielleicht sogar getötet.» Ihre Stimme versagte. «Die wenigen bayerischen Bauern konnten den Ausfall nicht auffangen. Wir sind nicht die einzige Malzfabrik, die ihre Gerste aus Russland bezogen hat und jetzt neue Lieferanten sucht. Und in Amerika kennen wir niemanden.»
«Amerika ist ein Feind», bemerkte die Mutter. «Wenn wir von denen kaufen, bekommen wir noch mehr Probleme.»
Magdalena fuhr sich übers Gesicht. «Die Teuerung hat auch den Bauern zugesetzt. Nach dem Krieg hat sich das Reich verpflichten lassen, Entschädigungen zu zahlen. Sie sind wohl sehr hoch.»
«Wenn du deine Zeit nicht mit diesem entsetzlichen Turnverein verschwenden würdest, hätten wir vielleicht schon eine Lösung», bemerkte die Mutter spitz.
Magdalena antwortete nicht, es hätte keinen Sinn gehabt. Aufgewachsen in einer Welt, in der Frauen in verdunkelten Zimmern ihre Migräne pflegten, waren ihrer Mutter gebräunte Haut und Sport ein Gräuel. Die Sonne ruinierte einem den Teint, pflegte sie zu sagen, und Bewegung sei ordinär. Eine Dame hatte kränklich zu sein, nur das ermuntere den Mann, sich um sie zu kümmern. Magdalenas Hände begannen zu zittern. Sie schob die Papiere zusammen, damit die Mutter es nicht bemerkte. «Ist ja gut. Ich gehe hinüber in die Fabrik.»
Die Mutter ließ sich dort nicht blicken, sie hatte Angst vor den Arbeitern. Magdalena auch, aber irgendjemand musste es ja tun. Sie warf einen Blick zu den Silos, die wie Bergfriede im Hof einer Burg standen. Hier, im Innern der gewaltigen Steinzylinder lagerte das Malz und reifte nach. Schon von frühester Kindheit an hatte Magdalena gelernt, niemals zu nahe an der Öffnung zu stehen. Wenn man hineinstürzte, kam man aus eigener Kraft nicht mehr heraus, und im Inneren erzeugte das Malz giftige Gase, die einen in kurzer Zeit erstickten. Wie schweigende Wächter schienen sie alles zu sehen, alles zu ahnen. Noch immer waren sie ihr unheimlich.
In der Luft surrte Motorengeräusch wie ein Schwarm Hornissen. Magdalena legte den Kopf in den Nacken und sah Flugzeuge, die Blätter abwarfen. Eines war im Dreck auf dem Hof gelandet – ein Steckbrief. Offenbar suchten sie die letzten Roten. Sie konnte nicht alles erkennen, das Bild und der Name waren von Pferdehufen und Arbeiterstiefeln zertreten, aber sie konnte erkennen, dass zehntausend Mark ausgesetzt waren. Magdalena seufzte. So viel Geld hätte sie gut brauchen können.
Auf dem Hof waren Arbeiter mit dem Beladen eines Pferdefuhrwerks beschäftigt. Schwitzend und einander Scherze zurufend, wuchteten sie die Ladung auf die Fläche. Magdalena rief den Vorarbeiter heran. Es war ihr noch immer fremd, den Männern Befehle zu erteilen. Ihr Vater hatte das nie gern gesehen, aber jetzt war er tot.
«Wie geht es voran?»
«Machen Sie sich keine Sorgen», versicherte der Knecht. «Die Männer arbeiten wieder. Die Weißen haben uns den Monat gerettet. Noch eine Woche Streik, und wir hätten Schwierigkeiten beim Ausliefern bekommen.»
«Das hätten wir uns nicht leisten können», sagte sie ernst. «Gott sei Dank ist der Albtraum vorbei.» Sie dachte an die schlaflosen Nächte, in denen sie gebetet hatte, dass die Stadt endlich fallen würde. Noch eine Woche, und sie hätte die Fabrik vielleicht verkaufen müssen. Jetzt konnte sie daran denken, sie zu retten. Die letzten Tage hatte sie Angst vor jedem Mann in Uniform gehabt. Angst, dass man ihre bürgerliche Stellung auf der Straße erkennen konnte. Es war gut, keine Angst mehr haben zu müssen. Zu wissen, dass die Revolutionäre bestraft wurden.
Der Vorarbeiter führte sie in die Fabrikhalle. Inzwischen kannte sie sich aus: In den helleren Räumen wurde die Gerste gelagert und gereinigt, dann in Phasen von abwechselnder Befeuchtung und Trocknung zum Keimen gebracht und schließlich auf der Darre zu Malz verarbeitet. Die großen rechteckigen Bottiche, in denen das Getreide eingeweicht wurde, waren gefüllt, ein atembetäubender Geruch beschwerte die Luft. Die Produktion lief, und der Anblick erleichterte sie.
«Wir hatten Besuch von Rotgardisten im Haus», sagte sie zu dem Vorarbeiter. Sie kannte nicht einmal seinen Namen, aber es war ihr peinlich, ihn danach zu fragen. «Sie suchten nach versteckten Waffen. Du weißt nicht zufällig, ob einer von den Arbeitern uns denunziert hat?»
Der Mann schob die Mütze aus dem dreckverschmierten Gesicht. «Also, Fräulein Moser, ich würd so was nie machen!»
Magdalena blickte sich um. Die Arbeiter standen mit hochgekrempelten Hemden neben den Bottichen und verteilten mit riesigen Holzspateln das Getreide im Wasser, wobei sie dickflüssige Wellen erzeugten. Schwitzend bewegten sie Spatel und die großen grobzinkigen Holzrechen. Ihre Arme in den Hemden waren bloß und schweißbedeckt, und überall in Gesichtern, auf Händen und Brust waren Schmutzspuren – entweder vom Feuer, das die Bottiche erwärmte, oder vom Inhalt.
«Ich habe ja nicht gesagt, dass du es warst. Kannst du dir vorstellen, wer so etwas tun würde?» Hier drin in der feuchten Luft war ihr warm, und sie schob sich die Haare in den locker gewundenen Knoten zurück.
Der Mann zögerte. «Ich weiß nicht. Vielleicht der Franz, der hat’s mit den Roten gehabt. Aber ob der Sie gleich denunziert, weiß nicht.»
Magdalena blickte nachdenklich die Arbeiter an. «Der Franz», wiederholte sie leise. Bitterkeit lag in ihrer Stimme. «Nun gut.» Sie wandte sich zum Ausgang. «Ich habe noch zu tun. Sorg dafür, dass hier alles wieder rund läuft. Wir haben schon genug verloren.»
Er begleitete sie hinaus und über den Hof. Als sie schon das schwere Eisentor erreicht hatten, fragte er plötzlich: «Ist das wahr, mit der Bruckner Clara?»
Magdalena blieb stehen. «Was?»
«Dass sie das Brucknerbräu trockenlegen will», schnaubte der Mann empört. «Die ist doch nimmer ganz sauber! Ich hab’s vom Knecht vom Pschorr gehört, und der hat’s auch im Wirtshaus rumerzählt. Alle Brauknechte haben Angst, dass sie entlassen werden, wenn die übernimmt. Wenn man Weiber einen Betrieb führen lässt!»
Natürlich fühlte sich selbst der erbärmlichste Arbeiter der Fabrikbesitzerin überlegen, nur weil sie eine Frau war. Es machte Magdalena wütend. «Tratsch nicht!», wies sie ihn zurecht.
«Nix für ungut, gnädig’s Fräulein. Es ist bloß, weil … mei, die Leute reden halt. Der Huber Rudi hat den Schreiberling bei ihr gesehen. Den, der geschrieben hat, München wäre pro… pro… profinziell. Die haben ein Gspusi, sagt er.»
Magdalena, die schon beinahe draußen war, drehte sich noch einmal um. Clara hatte gar nicht erzählt, dass sie mit einem Journalisten bekannt war. «Sie hat kein Gspusi», erwiderte sie. «Vielleicht hätte er das gern, aber sie lässt sich nicht darauf ein. Ich will hier keinen weiteren Klatsch mehr hören, verstanden?»
Sie trat hinaus und hörte den Knecht hinter sich in seinen dicken schwarzen Schnurrbart brummen. Als sie zurückblickte, zog er die Schiebermütze tiefer ins Gesicht, ehe er zurück an die Arbeit ging.
Magdalena fühlte einen Stich. Ein wenig enttäuscht war sie schon, dass sie es von ihrem Knecht erfuhr, wenn ihre beste Freundin einen Geliebten hatte.
«Und? Was sagst du?», fragte Peter. Er hatte die Knechte schon aus dem Sudhaus in die Mittagspause auf den Hof geschickt, um mit seiner Schülerin noch eine Jodprobe durchzuführen.
Clara betrachtete den weißen Teller, auf dem sie soeben etwas von der Maische mit Jodlösung vermischt hatte. Vorsichtig hielt sie den Teller näher an eines der großen Fenster. «Ich sehe eine leichte dunkelblaue Verfärbung», sagte sie. «Es ist noch nicht so weit.»
Peter ließ sich den Teller herüberreichen. «Richtig», lobte er. «Und weißt du auch, was die blaue Färbung genau bedeutet?»
Clara hatte inzwischen genug in Thomas’ Büchern gelesen, um die Frage beantworten zu können. «Jod ist ein Stärkeindikator, das heißt, es verfärbt sich beim Kontakt mit Stärke. Wenn wir Malz mit Wasser erhitzen, soll die Stärke in Malzzucker und Dextrine aufgespalten werden. Da sich die Probe verfärbt hat, wissen wir, dass dieser Prozess noch nicht beendet ist.»
Peter nickte zufrieden.
Tasso, der Wachhund, begann auf einmal hektisch zu bellen. Clara blickte aus dem Fenster. Die Sonne war herausgekommen und ließ die letzten Regentropfen auf Blättern und Blüten im Garten der Gaststube glitzern. Doch die friedliche Stille wurde durch laute Stimmen gestört. Peter runzelte die Stirn und ging zur Tür, um nachzusehen. Sie trat hinter ihm in den Hof und blieb im selben Moment erschrocken stehen.
Uniformierte mit weißen Armbinden trieben die Brauknechte zusammen, brüllten herum und schlugen ihnen die Gewehre in den Rücken. Manche trugen wadenlange Mäntel, andere hatten sich einfach nur die weiße Binde um den Ärmel ihrer Alltagskleidung gewunden. Tasso bellte mit überschnappender Stimme und zerrte wie wild an seiner Kette. Mareis neunjähriger Sohn Hias hatte sich ans Stalltor gedrückt, wo die Braurösser Donisl und Wally unruhig stampften. Vom Uferpfad her näherte sich Claras Vater, hinter ihm ein Brauknecht, der ihn offenbar gerufen hatte. Hans.
Erschrocken blickte Clara zu ihm. Wenn die Weißen herausfanden, dass er bei der Roten Armee gewesen war, würden sie ihn erschießen. Hans schien dasselbe durch den Kopf zu gehen, denn er wurde langsamer, als er hinter Melchior die Stufen zum Hof heraufkam.
«Was ist hier los?», sprach Melchior den Anführer an. Er bemerkte Clara und winkte sie zu sich. «Melchior Bruckner. Das ist meine Tochter.»
«Freikorps Epp», stellte sich der Kommandant vor. Verstohlen wedelte er sich vor der Nase herum, man roch, dass gebraut wurde. «Wir haben den Hinweis erhalten, dass sich hier Spartakisten aufhalten.»
Melchior rückte die Melone auf dem Kopf zurecht, und hob die Brauen. Langsam und demonstrativ ließ er den Blick an seinem eleganten dunklen Anzug und seinem Gehstock mit dem Elfenbeinknauf herabwandern. Dann klemmte er sich das goldgefasste Monokel ins Auge, das an einer Kette aus dem Knopfloch am Revers hing. «Und Sie denken, ich sehe wie ein Spartakist aus?»
Einer oder zwei der Uniformierten kicherten verstohlen. Die bloße Vorstellung, wie der blasierte Melchior mit Cut und Monokel für die Diktatur des Proletariats auf die Barrikaden ging, reizte zum Lachen. Obwohl Clara noch immer wütend auf ihn war, musste sie doch zugeben, dass ihr Vater bei so etwas unschlagbar war.
«Hm», meinte der Kommandant, der sich ebenfalls ein Schmunzeln nicht verkneifen konnte. «Nein, nicht Sie. Aber einer Ihrer Brauknechte soll bei den Roten gewesen sein. Der Pfarrer hat uns auf seine Spur gebracht.» Er bemerkte Hans, der Anstalten machte, wieder die Treppe hinabzuverschwinden. Er brüllte einen Befehl, und einer der Söldner lief ihm nach. Er holte ihn ein, stieß ihm das Gewehr in den Rücken und brachte ihn hinauf in den Hof.
Hans presste die Lippen zusammen, sein Gesicht war schweißnass. Wie ein verängstigtes Kind, dachte Clara. Unendlich jung und verletzlich.
«Abführen!», befahl der Kommandant. «Und die andern da auch gleich mit! Wer flieht, wird erschossen. Los, da rüber! Wird’s bald, verdammtes Arbeiterpack? Totschlagen sollte man euch, auf der Stelle!»
Das Gebrüll erschreckte die Braurösser im Stall noch mehr, und Wally wieherte. Die Knechte standen zusammengedrängt in der Mitte des Hofes, ein Häuflein verängstigter Männer, von den Gewehren zusammengehalten. «Ich bin unschuldig!», rief Xaver panisch aus ihrer Mitte. «Er da, der Hans, der war bei den Roten! Und der Anton!»
Irgendjemand schubste auch Anton aus der Mitte der Knechte nach vorn, und sofort zerrte ihn einer der Söldner zum Kommandanten. Er schleuderte ihn vor ihm zu Boden. Zitternd kam der Junge auf die Knie und hob das staubbedeckte Gesicht.
«Halt den Mund!», fuhr Clara Xaver an. «Du machst es nicht besser, wenn du andere falsch beschuldigst!» Sie warf ihm einen wütenden Blick zu, und der Altknecht, der schon zu einer Erwiderung angesetzt hatte, verstummte. An den Kommandanten gewandt, sagte sie: «Hören Sie, unsere Brauknechte haben gut gearbeitet, auch während des Streiks. Das muss ein Irrtum sein.»
Hans blickte sie dankbar an.
«Ich bin kein Roter!», rief Anton. «Ich hab’ Xavers Tochter mal Blumen gebracht. Er will sich bloß rächen!»
Auch Melchior mischte sich jetzt ein: «Ich benötige meine Männer. Und was meine Tochter sagt, ist richtig: Sie haben alle gut gearbeitet.»
«Der Pfarrer sagt was anderes!», fauchte ihn der Kommandant an. «Sollen wir Sie auch nach Stadelheim bringen? Ab mit den roten Schweinen, und heute noch zu den Würmern!»
Sie stießen Hans und Anton die Gewehre in den Rücken. Clara packte den Arm ihres Vaters. «Wir müssen doch etwas tun!», zischte sie.
«Du hältst dich heraus!», fuhr er sie an. «Kein Wort, verstanden?» Er war leichenblass, und auf seiner Stirn perlte Schweiß. So hatte sie ihn überhaupt noch nie gesehen. Er setzte an, etwas zu sagen, unterbrach sich dann aber und blickte sich um.
Knatternd fuhr ein Automobil in den Hof – am Steuer saß ein blonder Mann in einem eleganten hellen Anzug. Er drückte sich einen der neumodischen Strohhüte auf das glänzende Haar, schwang sich federnd aus dem Wagen und hielt dem Kommandanten eine Karte vor die Nase. «Ferdinand Schwabinger, habe die Ehre. Nanu, was geht denn hier vor sich?»
«Verhaftung von Roten!», schnarrte der Kommandant.
«Aber, aber, mein Lieber. Das muss ein Irrtum sein.» Schwabinger blickte sich um, sodass auch jeder ihn sehen und erkennen konnte. Vertraulich nahm er den Kommandanten beiseite. «Diese Brauerei macht ein ganz vorzügliches Bier. Wenn Sie die Arbeiter verhaften, gibt es keins mehr, und das fände ich ausgesprochen bedauerlich. Schauen Sie, die Sache ist die …» Schwabinger flüsterte ihm etwas zu.
Melchior und Clara sahen sich an. «Was geht hier vor?», flüsterte Clara.
«Ich habe keine Ahnung», erwiderte ihr Vater. «Aber was immer es ist, du sagst kein Wort!»
Der Kommandant nickte, und Schwabinger kam zu ihnen herüber. «Ich bin gekommen, um Sie auf meine Abendgesellschaft am elften Mai einzuladen. Ob Sie es einrichten könnten, Fräulein Clara? Das ist der nächste Sonntag – neunzehn Uhr, wenn es Ihnen beliebt. Selbstverständlich mit dem Herrn Vater und der Frau Mutter.» Er nickte Melchior zu und reichte Clara eine Karte. «Ich hätte sie Ihnen geschickt, aber ich war gerade in der Gegend. Nun, ich will Sie nicht aufhalten. Sie haben zu tun, wie ich sehe.» Er lächelte charmant und küsste ihr die Hand. Dann sprang er schwungvoll in seinen Wagen und fuhr winkend davon.
Der Kommandant hatte höflich abgewartet, bis Schwabinger das schwere Eisentor passiert hatte. Dann wandte er sich an seine Leute.
«Loslassen! Die Männer bleiben frei.» Er schlug die Hacken zusammen und schulterte sein Gewehr. «Abrücken!»
Die Weißgardisten taten es ihm nach und folgten ihm. Einer nach dem anderen verschwanden sie. Nur der Geruch von Schwabingers Automobil hing noch in der Luft.
«Was hat er ihm gesagt?», flüsterte Clara und starrte ihnen nach.
Auch Melchiors helle Augen folgten den Soldaten. Er schüttelte den Kopf. «Ich weiß es nicht. Er kam im richtigen Moment.» Er machte eine Pause und sagte dann zögernd: «Ich frage mich, was er dafür will.»