«Neueste Münchner Nachrichten! Stadtanzeiger!», rief der Zeitungsjunge seine Blätter und Schlagzeilen aus. «Geiselmord im Luitpoldgymnasium noch immer ungerächt! Hochverräter Ernst Toller weiter flüchtig! Immer mehr brutale Schandtaten der Roten Garde kommen ans Licht: Morde! Sittlichkeitsverbrechen!»
Magdalena zog die Schultern hoch, als sie vorbeiging. Gestern Abend beim Tanztee hatte sie sich so gut gefühlt. Aber mit jedem Wort schien der Junge die Erinnerung weiter zu vertreiben.
«Plünderungen der Roten Armee in Bürgerhäusern noch immer nicht bestraft!», gellte es ihr nach, in dem schrillen Knabensopran. «Opfer der Räterepublik sprechen über ihre Zeit im Gefängnis!»
Sie raffte das Schultertuch fester und presste die Hände auf die Ohren.
Als sie nach Hause kam und ins Esszimmer ging, stand auf der Kommode ein Strauß Rosen und Lilien. Magdalena schlug die Hände vor den Mund.
An dem Strauß hing ein Briefchen mit einer Widmung.
Für Fräulein Moser. Ich hoffe, Sie bald wiederzusehen. Alfred Bauer.
«Das ist vorhin gekommen», sagte ihre Mutter, die mit Ludwig schon am Tisch saß. «Er ist ein guter Kerl, dieser Alfred.»
Magdalena strich ihrem kleinen Bruder über den Lockenkopf und lächelte. Sie setzte sich und ließ sich einen Semmelknödel auflegen. Ohne die saure Lunge, nur mit etwas Sauce, obwohl das Fleisch verführerisch roch. Früher hatte sie das Gericht gern gegessen, aber nun ernährte sie sich vegetarisch. Und Prinzipien waren nichts wert, wenn man sie nur manchmal befolgte. Außerdem sparte es Geld.
«Es wäre gut, wenn du heiratest», meinte die Mutter. «Ein Mann im Haus könnte unsere finanziellen Probleme lösen.»
Magdalena begann zu essen. «Bitte, Mutter, müssen wir jetzt schon darüber sprechen? Ich habe Alfred doch gerade erst kennengelernt. Er gefällt mir, und ja, es kann schon sein, dass ich ihn eines Tages heiraten möchte. Aber jetzt ist es zu früh.»
«Zu früh!» Die Mutter schob den Teller zurück. Die Köchin brachte für sie schon den Nachtisch: duftende Hollerkücherl, Holunderblüten in Teig getaucht, in Fett gebacken und mit Zucker bestreut. Aber Frau Moser schien auf einmal keinen Hunger mehr zu haben. «Zu früh, um dein Elternhaus zu retten? Zu früh, um deine Mutter und deinen Bruder vor dem Armenhaus zu bewahren?» Sie stieß einen verächtlichen Laut aus.
«Ich will nicht ins Armenhaus!», krähte Ludwig. «Was ist ein Armenhaus? Gibt’s da Hollerkücherl?»
«Du weißt, dass die anderen nur darauf warten, uns aus dem Geschäft zu drängen», sagte die Mutter, ohne ihn zu beachten. Sie erhob sich. «Hochmut kommt vor dem Fall. Wenn du erst auf der Straße stehst und dich für ein Stück Brot verkaufen musst, wirst du dir denken, wäre ich nur nicht so hochmütig gewesen.»
«Mutter, bitte!»
Aber die Mutter war schon aus dem Esszimmer hinausgerauscht. Magdalena sah ihr nach. Ihr Magen erinnerte sie daran, dass sie Hunger hatte, aber der Appetit war ihr vergangen. Lustlos begann sie zu löffeln.
«Und seit zwei Wochen braust du diesen Hexentrank hier? Gegen meinen Willen?» Mit eisigem Blick stand Melchior Bruckner im Hinterzimmer des Gasthauses vor Claras Versuchskessel. Zwischen seinen Brauen bildete sich eine steile Falte. Das missglückte Experiment erfüllte erneut den ganzen Raum mit seinem dumpfen Gestank, dieses Mal nach fauligem Kohl.
Ausgerechnet jetzt muss Vater sich überzeugen wollen, welche Fortschritte ich im Sudhaus mache!, dachte Clara. Und Peter schickt ihn schnurstracks hierher, sodass er meine neue Freiheit mit seinem eisigen Lächeln einfrieren kann! Am liebsten wäre sie im Boden versunken, aber das ließ sie sich nicht anmerken. «Seit fast drei Wochen», berichtigte sie.
Melchior musterte sie forschend. «Bemerkenswert.»
Clara hatte mit einer Standpauke gerechnet. Überrascht sah sie ihn an.
Er räusperte sich, wedelte sich noch einmal den Geruch zu und rümpfte die Nase. «Und was wird das, Kräuterhexlein? Eine der sieben Plagen?»
Er spöttelte, aber das befürchtete Donnerwetter blieb aus. Clara wusste nicht, was ihn so überraschend milde stimmte. Die Erfahrung hatte sie gelehrt, bei ihrem Vater misstrauisch zu sein.
«Du weißt, dass es Malzbier werden soll», sagte sie. «Ohne Hefe keine Gärung und ohne Gärung kein Alkohol, das ist doch richtig? Ich habe es mit der Würze für dunkles und mit der für helles Bier versucht, aber es will nicht funktionieren. Also, wenn du es so viel besser weißt, sag mir, was ich falsch gemacht habe.»
Seufzend betrachtete er den stinkenden Inhalt des Kessels, an dessen Oberfläche schmutzig gelber Schaum trudelte wie auf einem verseuchten Fluss. Doch ihr fiel auf, dass sein undurchsichtiger Blick heimlich zur Tür schweifte. Hatte er noch etwas vor?
«Sulfide», meinte er in einem Ton, als wollte er einem dummen Kind eine Selbstverständlichkeit erklären. «Du hast die Würze zu lange gekocht. Außerdem fürchte ich, dass nicht alles steril war. Hygiene ist von existenzieller Bedeutung, sonst bekommst du Essigwasser oder eine faulige Schwefelbrühe wie die hier.» Er wedelte sich mit einem bestickten Taschentuch vor der Nase herum, um den Gestank zu vertreiben. «Wenn du willst, dass es mehr nach Bier schmeckt, kannst du übrigens durchaus Hefe zugeben. Du musst nur die Gärung rechtzeitig unterbrechen.»
Clara stützte die Hände auf ihren Kessel. Warum kam sie auf solche Ideen nicht von selbst? Und er schüttelte einfach aus dem Ärmel, was sie in langen Versuchen nicht hinbekommen hatte.
Ihr Vater nahm seinen Hut und griff nach dem Jackett seines Cutaway, das er an den Haken an der Tür gehängt hatte. «Bier für Kinder», scherzte er, während er es über Weste und Hemd zog. «So gewöhnt man die Kundschaft von morgen an das Produkt. Etwas skrupellos, aber gut, du bist eben meine Tochter.»
«Siehst du, hättest du beizeiten welches gemacht, hättest du vielleicht keine Abstinenzlerin zur Tochter.» Clara schnitt ihm eine Grimasse.
«Zweifellos ein Versäumnis. Ach, und sei so mitfühlend und zieh mit dem Experiment ins Sudhaus um. Lass dir dort den Nebenraum herrichten.»
Ins Sudhaus? Ganz offiziell, so wie die richtigen Versuchsrezepte?
Melchior bemerkte ihre Überraschung. Er klemmte das Monokel ins Auge und blickte sich mit erhobenen Brauen und gekräuselten Lippen um. «Nun, hier kannst du nicht bleiben. Dein Höllengebräu verscheucht ja die Gäste. Und besser, Peter hat ein Auge auf dich, ehe du noch eine lebensreformspartakistische Konspiration hinter meinem Rücken anzettelst.» Aber einer seiner Mundwinkel zuckte verstohlen, ehe er wieder die Brauen zusammenzog und sagte: «Damit wir uns verstehen: Das ist eine Freizeitbeschäftigung!»
«Schon gut.» Clara war so erleichtert, dass sie jede Bedingung akzeptiert hätte. Sie wies auf seine elegante Kleidung. «Du gehst noch aus? Mutter wollte, dass wir alle zusammen um sieben essen.»
Sein Gesicht blieb undurchschaubar. «Das werde ich wohl nicht schaffen. Entschuldige mich bei ihr.» Er setzte sich den Hut auf den Kopf und beugte sich unter dem niedrigen Türsturz, als er hinausging.
Überrascht sah Clara ihm nach. Von einer Gesellschaft hatte er nichts gesagt, und Herrenclubs besuchte er nicht. Sie dachte wieder an die Szene kürzlich beim Frühstück und das Geld ohne Verwendungszweck. Das Misstrauen bohrte wie ein Stachel in ihr. Hat er eine Geliebte?, dachte Clara. Bisher war ihr nie in den Sinn gekommen, dass er ihre Mutter je betrügen könnte. Obwohl viele Männer in seinem Alter ein oder auch mehrere Liebchen unterhielten. Sie schüttelte den Kopf. Unsinn.
Seufzend ließ sie sich neben dem Kessel auf dem Boden nieder und zog Thomas’ römische Münze aus der Tasche. Sie hatte gehofft, irgendwie eine Verbindung zu ihrem Bruder zu haben, wenn sie sie bei sich trug. Aber jetzt schien er weiter weg denn je. Es war höchste Zeit, dass das Semester begann und sie endlich regulär die Technische Hochschule besuchte. Am besten sah sie gleich nach, ob Xaver ihr den Kessel in den Versuchsraum schaffen konnte. Der grimmige alte Brauknecht, Herr über Stammwürze und Hefe, jagte ihr zwar noch immer ein wenig Angst ein, aber damit musste jetzt Schluss sein.
Xaver war nicht im großen Hauptraum des Sudhauses, also ging Clara durch die Tür am Ende in den hinteren Lagerraum, wo die Fässer und Bügelflaschen aufbewahrt wurden. Melchior und Antonia hatten die Flaschenabfüllung eingeführt, um das Bier leichter transportieren zu können. Der fensterlose Lagerraum war lang und schmal und nahm die gesamte Rückseite des Gebäudes ein. Kisten mit Flaschen und Fässer in unterschiedlichen Größen waren hier gestapelt. Clara drehte den Schalter für das elektrische Licht.
Irgendwo klirrte Glas. Und dann tauchte ein feistes Gesicht mit grau meliertem Haar auf.
«Kaspar?», rief Clara überrascht. Sie kannte noch immer nicht alle Brauknechte, aber er hatte ihr damals den Kessel ins Gasthaus getragen.
Mit einem Blick erfasste sie, was vorging: Kaspar hatte offenbar einige Kisten mit den neuen Bügelflaschen auf einen Handwagen geladen, den er soeben in Richtung des Hinterausgangs hatte schieben wollen. Hastig stellte er sich vor das Wägelchen.
Clara schnappte nach Luft. Ganz offensichtlich versuchte der Bursche gerade Bier abzuzweigen. Vermutlich, um es unter der Hand weiterzuverkaufen – billiger als ein Wirtshaus, aber teurer als die Brauerei.
«Xaver! Peter!», rief sie. «Diebe! Sofort hierher!»
Das Wort «Diebe» war offensichtlich leichter zu verstehen als «alkoholfreies Bier». Skandale machten den Männern Ohren wie Luchse. Die Gerufenen kamen umgehend hereingestürzt, gefolgt von der halben Belegschaft. Bemerkenswert.
Peter packte den Schuldigen am Kragen. «Was machen wir mit dem?»
Lebensmittel waren teuer geworden. Clara wusste, dass viele Arbeiter arm waren, und Kaspar war sicher nicht der einzige Brauknecht, der hin und wieder etwas abzweigte. Aber sie wusste auch, dass das, was er verdiente, durchaus zum Leben reichte.
«Fräulein?»
Clara überlegte fieberhaft. Sie wollte nicht hart sein. Aber sie wusste auch, dass niemand sie ernst nehmen würde, wenn sie das durchgehen ließ. Wenn sich herumsprach, dass man im Brucknerbräu ungestraft Bier stehlen konnte, würde der nächste Langfinger nicht auf sich warten lassen.
Kaspar grinste verstohlen. Das gab den Ausschlag.
«Wirf ihn hinaus!», sagte sie zu Peter.
Sie fühlte die Blicke der Männer in ihrem Rücken, als sie den Lagerraum verließ. Blicke voller Scheu und noch immer ein wenig Befremden. Aber zum ersten Mal auch Anerkennung.