Der elfte Mai weckte René mit Sonnenstrahlen, die in sein verwinkeltes Schwabinger Zimmer fielen. Sie kitzelten seine Haut, und blinzelnd spürte er die Wärme. Zeit aufzustehen, wenn er das Würmbad noch eine halbe Stunde fast für sich allein haben wollte. Danach wollte er noch einmal versuchen, Clara zu erreichen. Seit dem Tag, als er beinahe erschossen worden wäre, hatte er sie nicht gesehen. Es gab Frauen, bei denen er den Grund in seiner jüdischen Herkunft vermutet hätte, aber nicht bei ihr. Und irgendetwas war in diesen undurchschaubaren Augen, das ihn faszinierte.
Er schob das Moskitonetz beiseite und streifte das Hemd ab. Es war warm, zwischen den staubigen Bücherregalen fiel das Sonnenlicht in einem gleißenden Streifen aufs Bett. Das Netz hatte er von einer Reise nach Afrika mitgebracht. Er benutzte es, weil es ihm das Gefühl von Freiheit und Weite gab. Sonst gab es nur noch einen geschnitzten indischen Schrank, den Schreibtisch aus schwerer Eiche, auf dem ein Füllhalter, ein paar Blätter und ein angebissener Apfel von gestern (oder vorgestern, ganz sicher war er sich da nicht) lagen, und einen Korbsessel. Die Einrichtung war genauso zusammengewürfelt wie sein Inneres. Vielleicht war es an der Zeit, Ordnung ins Chaos zu bringen.
René fuhr sich durch das dunkle Haar und holte sich vom Schreibtisch den Kaffee von gestern. Um ihn aufzuwärmen, hätte er erst das Feuer anheizen müssen, und dazu hatte er keine Lust. Also goss er ihn kalt und schwarz in die Tasse und trat ans Fenster.
Die Eisheiligen ließen bislang auf sich warten. Strahlender Sonnenschein erhellte die Occamstraße. Stühle standen oder lagen auf dem Gehsteig, eine Flasche blitzte im Licht. Ein paar Seitenstraßen weiter hörte er das Läuten der Linie drei. Offenbar fuhr sie wieder, er musste also nicht das Fahrrad nehmen. Während des Kriegs hatten die Straßenbahnen nur unregelmäßig verkehrt, weil Schaffner eingezogen worden waren und Personal fehlte. Danach während der Räterepublik hatten Kämpfe die Oberleitungen beschädigt, sodass der Verkehr oft tagelang ganz zum Erliegen kam.
Noch war es ruhig. Hier in Schwabing wohnten vor allem Künstler und Studenten, und man stand spät auf. Unten gab es Gasthäuser, und oben hausten die Bewohner, die bis spät an ihren Staffeleien standen oder über ihren Büchern brüteten, und immer wieder herunterkamen, um ihrer Inspiration auf die Beine zu helfen. Aber nachher würde er unten ein Frühstück bekommen. René trank seinen Kaffee aus, kleidete sich an und stopfte die Badehose in eine Tasche. Dann griff er nach seinem Hut, nahm den Schlüssel von dem Holzbrett an der Wand und öffnete die Tür zu dem mit Zementfliesen gekachelten Treppenhaus.
Urplötzlich packte ihn jemand bei der Brust.
René befreite sich und verpasste dem Angreifer instinktiv einen Faustschlag in die Magengrube.
«Oh, verflucht, René!», röchelte der und taumelte nach hinten auf die schweren dunklen Holzstufen zu.
René stutzte und sah genauer hin. Im Halbdunkel konnte er nicht viel erkennen, aber der Angreifer war sicher nicht größer als einen Meter siebzig. Auffallend dichtes graues Haar. Seltsame Farbe, dachte René. Ist das Mehl? Theaterschminke? Er beugte sich etwas hinab und sah ihm ins Gesicht: große dunkle Augen. Ein Schnurrbart, der neu war. Aber dasselbe blasse, schmale Gesicht.
Scharf sog er den Atem ein. Dann schubste er den Mann ins Zimmer und schlug die Tür hinter ihnen zu. «Toller?!», zischte er. «Ernst Toller?»
Der Angesprochene japste nach Luft. «Ich bin auf der Flucht», stieß er hervor. «Sie werden dich erschießen, wenn sie mich bei dir finden.»
René hob die Brauen. Er lächelte breit, dann holte er dem Besucher einen Stuhl. «Ausgezeichnet. Erzähl mir mehr.»
Mit einer fahrigen Bewegung staubte sich Toller den Puder aus den dunklen Haaren. Er wirkt erschöpft, dachte René mit einem plötzlichen Anflug von Mitgefühl. Mehr als das. Völlig verzweifelt. «Der Kaffee ist kalt. Willst du trotzdem einen?», fragte er. Er ging zum Schreibtisch und schüttelte die Kanne. «Es ist ein bisschen früh, aber du kannst auch ein Bier haben, wenn dir das jetzt guttut.»
Für einen Moment flackerte der alte Humor seines Studienkameraden wieder auf. «Bist du krank, oder seit wann hast du Bier im Haus?»
«Für einen Roten auf der Flucht bist du ziemlich wählerisch», bemerkte René trocken. «Willst du nun eins oder nicht?»
«Du hast eine Freundin!», erwiderte Toller ebenso trocken.
René verschluckte sich an der Erwiderung. Neben der Kaffeekanne stand auch noch eine Karaffe mit Wasser. Er füllte ein Glas und reichte es seinem Besucher.
«Wasser?»
«Für einen Roten auf der Flucht bist du ziemlich wählerisch.»
Toller warf ihm unter seinen buschigen Brauen einen Blick zu, der jeden anderen auf der Stelle getötet hätte, dann leerte er das Wasser in einem Zug. René grinste und reichte ihm die Tasse Kaffee, die er in der anderen Hand hielt.
«Dann erzähl mal. Wenn ich bedenke, dass jeder Polizist und jeder Soldat der Stadt hinter dir her ist, kannst du eine Mahlzeit und ein Bett gebrauchen.» Er warf einen Blick aus dem Fenster hinunter auf die Occamstraße. Ein altes Mütterchen schlurfte in Richtung der Kirche, der Junge vom Bäckerladen trug einen Korb, den er mit einem karierten Tuch abgedeckt hatte, im Türsturz gegenüber hockte der beinlose Veteran wie jeden Tag um diese Zeit. Es war alles ruhig. René lehnte sich rücklings gegen das Fenster. «Wo hast du gesteckt?»
Toller schloss erschöpft die Augen. «Bei einem Adligen. Sein Vater ist vor uns geflohen. Wäre ich damals, als die Weißen die Stadt einnahmen, in meiner Wohnung geblieben, wäre ich schon tot. Sie lasten mir die Morde im Luitpoldgymnasium an und noch einiges mehr.» Er sah René in die Augen. «Ich schwöre, ich habe erst davon erfahren, als es zu spät war. Die noch lebten, habe ich freigelassen. Ich wollte mir eine Kugel in den Kopf schießen …»
René kannte ihn lange genug, um ihm das zu glauben. Zögernd ging er zu ihm hinüber und legte ihm die Hand auf die Schulter. «Das musst du mir nicht sagen. Lieber Himmel, du siehst furchtbar aus.»
Toller fragte leise: «Wer alles?»
René schüttelte den Kopf. «Tu dir das nicht an.»
«Ich muss es wissen, und ich hatte seit Tagen keine Zeitung in der Hand. Wer?» Er sah ihn so verzweifelt an, dass René ihn am liebsten in ein Krankenhaus gebracht hätte. Aber in diesen Zeiten wäre das sein sicheres Todesurteil gewesen.
«Dass Erich Mühsam schon von den Kommunisten gefangen genommen wurde, weißt du», erwiderte René zögernd. Toller sah nicht so aus, als könne er die Details ertragen, also beschränkte er sich auf das Nötigste. «Max Levien konnte fliehen. Landauer und Egelhofer sind tot, Leviné in Haft.»
«Also so gut wie tot.» Tollers Lippen zitterten. Sein Atem ging flach und schnell. «Die Zeitungen sind parteiisch, was immer geschieht, sie geben uns die Schuld. Was im Luitpoldgymnasium passiert ist, ist doch nur ein Vorwand, es ist nichts gegen das, was die Weißen tun, die erschießen ihre Gegner wegen bloßer Vermutungen! Die Richter verurteilen für dasselbe Verbrechen die einen zum Tod, die andern lassen sie laufen, und dann wundern sie sich … Das Volk verliert Vertrauen … in Justiz … Revolution, du weißt … ich wollte … friedlich …» Seine Stimme versagte, er rang nach Luft und begann am ganzen Körper zu beben.
«He, he, ganz ruhig! Atme!» René schlug ihm ins Gesicht und packte ihn an beiden Schultern. «Sieh mich an!» Er hatte das mehr als einmal erlebt, damals im Krieg. Hatte Männer gesehen, die die Hölle überlebt und sich dann ganz ohne Grund selbst getötet hatten. Toller war in Panik, aber nicht wegen der Polizei, die hinter ihm her war. Wieder sinnlos Tote, wieder das Gefühl, hilflos mit ansehen zu müssen, wie der Glaube, auf der richtigen Seite zu stehen, zu grenzenlosem Hass und Brutalität verleitete. Und wieder die bohrenden Zweifel, ob er das Richtige getan hatte – Zweifel, die der mitreißende Redner Toller vor keinem atmenden Wesen ausgesprochen hätte.
«Es war klug, zu mir zu kommen», sagte René. Irgendwie musste er ihn aus dem schwarzen Tunnel holen, in dem seine Gedanken steckten. «Ich habe dich so oft einen Idioten genannt, dass sie dich bei mir nicht suchen werden.»
Tollers bleiche Lippen zitterten noch immer, aber er versuchte ein Lächeln. «Bilde dir bloß nichts darauf ein. Ich hatte Rilke gefragt, aber er wird beobachtet. Du bist der Einzige, der verrückt genug ist, sich zu freuen, dass ich ihn in Lebensgefahr bringe.»
René atmete auf. Er grinste und schlug ihm im Aufstehen auf die Schulter. «Als ich dich das letzte Mal fliegen sollte, wärst du fast draufgegangen. Es ist nur gerecht, dass du dich revanchierst. – Wie lange hast du nicht geschlafen, zwei Nächte? Mit den Augen kannst du auf dem Jahrmarkt als Geist auftreten.» Er packte ihn unter den Achseln und richtete ihn auf. Toller war so erschöpft, dass René ihn beinahe zum Bett tragen musste.
«Ich weiß, was passiert ist», flüsterte Toller müde, als René ihn mitsamt den Schuhen aufs Bett legte. «Damals, in Verdun. Du musst das nicht tun …»
«Hör auf!», sagte René scharf. Er kämpfte gegen die Erinnerungen an, die ihm wieder den Hals zuschnürten. Ein paarmal atmen, atmen, tief in den Bauch. Etwas in der Gegenwart suchen, woran man sich festhalten kann. Er fixierte seine Arbeit auf dem Schreibtisch. Drei-, viermal holte er Luft, dann ließ es nach. «Ich weiß, was ich mir zumuten kann und was nicht», sagte er leise.
Toller sah ihn aus müden Augen an, die riesengroß und verloren wirkten. «Kein abfälliger Kommentar über den Idioten, der die Kontrolle verloren hat? Oder noch schlimmer, der zu spät gemerkt hat, dass er sie nie hatte?»
René zögerte. Dann zuckte er die Achseln. «Ein andermal. Wenn das hier vorbei ist.»
Ernst sah ihm mit einem Ausdruck in die Augen, der ihn irgendwie berührte. «Auf dem Tisch stehen Brot und etwas Obst», sagte er schnell, ehe man es sehen konnte. «Das Wasser in dem Krug bei der Waschschüssel ist frisch. Meine Hauswirtin kommt morgens und kümmert sich um den Haushalt, aber dieses Wochenende ist sie bei ihrer Tochter. Ansonsten hat niemand einen Schlüssel, du kannst also in Ruhe ein paar Stunden schlafen. Bleib nur vom Fenster weg. Man weiß, dass ich allein lebe.» Er stand auf. «Wasch dich, iss etwas und schlaf. Wenn ich zurückkomme, reden wir.»
«René?»
Er blieb in der Tür stehen, die Jacke über den Arm gelegt, und sah seinen Besucher fragend an.
«Danke», sagte Ernst.
Als Clara zur selben Zeit mit Marei und Angelika aus der Tram stieg, war ihr nicht ganz wohl. Sie war im Begriff, ihr erstes eigenes Geschäft abzuschließen, und sie wollte sich nicht ausmalen, was ihre Eltern sagen würden, wenn sie davon wüssten. Hinter ihnen erhob sich wie eine gotische Burg das neue Rathaus am Marienplatz. Als Kind war Clara bei der Einweihung gewesen, und früher hatte sie Antonia oft angebettelt, mit ihr herzufahren, um das Glockenspiel anzuhören. Jetzt, kurz nach elf Uhr, endete gerade das Turnier der Blechritter, und unterhalb begannen sich die Figuren der Schäffler zu drehen. Die Geschichte der Fassmacher, die sich nach der Pest im 16. Jahrhundert als Erste wieder auf die Straßen gewagt und die anderen Bürger mit Tänzen ermutigt hatten, hatte sie schon damals beeindruckt.
«Jetzt komm, Clara. Der Hufnagl wird nicht warten.» Marei wippte ungeduldig mit dem Fuß, hatte es aber nicht so eilig, dass sie nicht einem jungen Zimmerer einen koketten Hüftschwung hätte schenken können. Anders als Clara, der die modischen Kleider mit kurzen Säumen gefielen, trugen Angelika und sie Tracht. Angelika aus Gewohnheit, Marei indes sichtlich, um ihren voluminösen Vorbau zur Geltung zu bringen.
«Des is ein so heiligmäßiges Unternehmen», hauchte Angelika andächtig. «I hab so viel bet’, des muss!»
Die Idee, Saft mit Wasser gemischt auszuschenken, war Clara ganz plötzlich gekommen. Angelika wusste von einem Obstbauern aus ihrem Heimatdorf Prien am Chiemsee. Clara hatte ihm ohne Wissen ihrer Eltern telegraphiert und ihn auf den Viktualienmarkt bestellt. So konnte sie sagen, sie begleite Marei bei ihren Einkäufen. Und es war weit genug weg von Giesing, wo sie jeder kannte.
Wie nach der großen Pest wagten sich auch jetzt erst allmählich wieder die Menschen zwischen die hellen Schirme und Stände. Ursprünglich war der Viktualienmarkt aus einem Obst- und Gemüsemarkt entstanden. Doch längst hatten sich auch Metzger, Geflügel-, Wild- und Käsehändler, Bäcker und Blumenfrauen angesiedelt. Es gab den einen oder anderen Pavillon, wo feste Stände installiert waren. Aber noch immer sah man viele Händler, die einfach ein paar Obstkisten unter einem Schirm aufgestellt hatten. Ein Junge trieb mit eintönigen Rufen eine Gänseherde zum Ganserlmarkt. Pferdefuhrwerke warteten, Bürgersfrauen und elegante Herren flanierten mit Körben oder einfach nur, um eine Kleinigkeit zu essen. Es war ein sonniger Tag, und es roch nach Gebratenem und Blumen. Endlich war das Leben zurück.
«Ich kann zum Bäcker gehen, während du diesen Hufnagl triffst», meinte Marei. «Pass auf dich auf. Ist zwar besser als zu meiner Zeit, aber Wirtschaften sind nach wie vor nicht unbedingt was für junge Mädchen. Und lass dich nicht über den Tisch ziehen, hörst du?»
«Dann komm doch mit», schlug Clara vor. «Ich könnte jemanden gebrauchen, der verhandeln kann, und dafür helfe ich dir dann mit den Einkäufen.»
Hufnagl war schnell zu finden – an dem Bierausschank, der dem Obstmarkt zugewandt war, saßen nicht viele Männer allein an einem Tisch. Er war ein würdiger Herr um die vierzig, mit Trachtenjanker und Gamsbarthut, den er sich vermutlich eigens für die Fahrten in die Stadt gekauft hatte. Clara wusste von ihrer Mutter, dass man so etwas auf dem Land nicht trug. Er hockte an einem der mit blau karierten Tüchern gedeckten Biertische vor einer Brotzeit. Über ihm spannte sich ein hölzernes Regendach.
«Sie san C. Bruckner?», fragte er überrascht, als Clara sich vorstellte. Er sah sich um, als würde er noch jemanden erwarten. Dann lupfte er zögernd seinen Hut. «Habe die Ehre. I hab denkt … C steht vielleicht für Christian oder so.»
Clara wechselte einen Blick mit Marei, und die zog eine Grimasse. Hufnagl schien zu überlegen. Dann blitzten seine kleinen Augen auf, und er machte eine einladende Geste. «Auch a Brotzeit?»
Die Weißwürste auf seinem Teller sahen gut aus, der süße Senf war frisch, und die Breze duftete verführerisch. Aber sie waren nicht zum Essen hier. Clara verneinte, noch ehe Marei ja sagen konnte. Angelika nahm stumm mit gefalteten Händen Platz und blickte fromm drein.
«Also, die Sach is die», begann Hufnagl und trank bedächtig von seinem Bier. Er trank langsam und in der sichtlichen Erwartung, dabei vom Weibervolk ehrfürchtig beäugt zu werden. «Der Sommer war regnerisch. Mei, und Krieg war ja auch noch. Ich kann scho liefern, aber ihr wisst ja: Was rar ist, ist auch teurer.»
«Der Sommer war optimal», mischte sich Marei ein. «Mein Bruder zieht auch Obst. Ich weiß, wovon ich spreche.» Clara hatte keine Ahnung, ob das stimmte. In jedem Fall klang sie überzeugend, und darauf kam es an. Was für ein gerissenes altes Luder.
«Aber keine großen Felder wahrscheinlich.» Hufnagl bemühte sich, überlegen zu wirken, aber es gelang ihm nicht recht.
«O mei o mei, schaut’s euch den an!», schimpfte Angelika. «Sie Pharisäer! B’scheißn wolln S’ uns! An Haufen Weiberleut kann man leicht b’scheißn, des haben S’ Eana denkt!»
Hufnagl schaute irritiert die erboste Kellnerin an, deren sanftmütig verklärte Heiligkeit sich unversehens in das heißblütige Temperament eines Gockels auf dem Misthaufen verwandelt hatte. «Wer ist denn die Krampfhenna?»
Clara wollte einwenden, dass es sich um eine ehrbare Kellnerin und keine hysterische Krampfhenne handle, aber Angelika war schneller: «Was sagst, du damischer Moststampfer? Sie Kruzifixhammel, Sie g’scherter! Ein Halsabschneider san S’! Ein derart heiligmäßiges Vorhaben wollen S’ zunichtemachen! Des kann bloß oana tun, der an Pakt mit dem Deifi hat! Sie Satansjünger, Sie schwarzer!» Clara drückte sie wieder auf ihren Platz. Wenn Angelika sich einmal in ihren heiligen Zorn hineinsteigerte, war der rächende Erzengel Michael dagegen ein laues Lüftchen.
«Also, wollen S’ jetzt Äpfel oder net?», fragte Hufnagl, dem angesichts des schrillen Wortschwalls die Argumente ausgingen.
«Apfe verkaufen, des mag er!», erboste sich Angelika. «Was wolln S’ nacha für Eanane depperten Apfe, ha? Dreißig Silberlinge? Sie Antichrist, Sie g’scherter, Sie Holofernes, Sie Judas! Schwingen S’ Eana wieder auf Eana apokalyptische Rösser und reiten S’ zum Deifi!»
«Jetzt langt’s aber!» Ergrimmt sprang Hufnagl auf. Die heilige Johanna der Brauereien indes, nicht faul, hatte schon eine ihrer Pantoletten ausgezogen und hielt sie kampfeslustig in der Hand.
«Schon gut», versuchte Clara sie zu beruhigen. Aber stumm dachte sie: Verdammtes frömmelndes Miststück! Den hätten wir doch noch runterhandeln können!
«Feuer und Schwefel soll auf eam regnen!», zeterte die Kellnerin, während Clara und Marei sie festhielten und davon abhielten, sich wie ein bissiger kleiner Dackel auf den würdigen bierbäuchigen Bauern zu stürzen. «Heischrecken und Pestbollen!»
Hufnagl verdrückte sich schleunigst in Richtung Ausgang. «A sauberne Hex habt’s da!», schnaubte er entrüstet, sobald er in sicherer Entfernung war. «A so a Zwiderwurzn, so a böse! Schluss is, mit so was mach i koa G’schäft!»
Als sie mit gesenkten Köpfen über den Obstmarkt zurückliefen, schlug Angelika mehrere Kreuzzeichen, die vermutlich als Ausgleich für die Schimpfwörter dienen sollten, die ihr entwischt waren, und brummte noch ein paar weitere in ihren Ausschnitt.
«Warum schimpfst du denn in dein Dekolleté?», fragte Clara.
«Weil die Flüch zwischen meine Busen gut versteckt sind», raunzte die Kellnerin.
«Da schaut nicht mal der Herrgott nach?», fragte Clara. Sie war noch immer wütend auf die Kellnerin, die ihr das Geschäft verdorben hatte. Aber sie wusste auch, dass es keinen Sinn hatte, ihr Vorhaltungen zu machen. Wer mit dem Flammenschwert der Begeisterung und unter dem Banner der heiligen Jungfrau in die Schlacht zog, verhandelte nicht. Es war meine Schuld, dachte Clara. Ich hätte sie nicht mitnehmen dürfen.
«Ja freilich net! Ist der Herrgott vielleicht a so a perverser Saukerl? Der Herrgott hat an Anstand.»
Ein Brotwagen ratterte an ihnen vorbei, ein kastenartiges, von einem Pferd gezogenes Gefährt. Der Ladebereich war mit einer Plane bedeckt, auf welcher der Schriftzug «Bäckerei Seligmacher» zu lesen war. Ganz vorn, auf dem überdachten Sitz, hockte der Kutscher.
«O mei, der Bäcker!», rief Marei. «Kommt ihr mit?»
Die Bäckerei Seligmacher lag gleich am Rande des Viktualienmarkts. Doch so weit kamen sie nicht.
Dort, wo die Stände etwas weiter auseinander lagen, um Platz für Fuhrwerke zu lassen, war der Brotwagen zum Stehen gekommen. Das Pferd scheute aufgeregt, und der Kutscher hielt unter wüsten Beschimpfungen seinen Hut fest. Hektisch versuchten die Marktfrauen, ihre Ware in Sicherheit zu bringen.
Claras erster Impuls war wegzulaufen. Ihr Körper erinnerte sich an die Schießereien in Giesing, ehe sie begriff, was geschah. Mehrere schlecht gekleidete Männer mit Schiebermützen und einige Frauen in eingerissenen Kitteln hatten den Wagen angehalten. Kohleverschmierte Kinder kletterten hinauf, rissen die Plane ab und warfen den anderen die Brote zu. Sie johlten und kreischten so laut, dass der Kutscher nicht mehr zu hören war. Erleichtert atmete Clara durch. Das einzige, was diese Menschen interessierte, war Brot. Die hungernden Kleinbürger plünderten den Wagen regelrecht. Das Johlen und Schreien lockte immer mehr an, und in kürzester Zeit hatte sich eine Traube von Menschen gebildet. Hundert schmutzverschmierte Hände versuchten, noch etwas von der Beute zu ergattern.
«Sollen wir zur Wache laufen?», fragte Marei.
Clara schüttelte den Kopf. Sie konnte die Menschen verstehen. Es war nicht recht, was sie taten, aber die Kinder hungerten, vielleicht waren manche krank. Nein, sie würde sie nicht verraten.
Das war auch nicht mehr nötig. Wild klingelnd kam ein Schutzmann auf seinem Fahrrad angefahren. Mit Pickelhaube und Pistole bot er trotz seines Gefährts einen Anblick, der die Menschen innehalten ließ. Jeder griff sich, was er ergattern konnte, und dann stoben die Leute, so schnell sie konnten, in alle Richtungen davon.
«Herr Schutzmann!», ächzte der Kutscher und kam, die Hand auf den Hut gepresst, herunter. «Ein Überfall auf offener Straße! Ich bin bestohlen worden. Die Damen da haben alles gesehen.»
Der Schutzmann blickte zu ihnen.
Marei reckte ihren fülligen Vorbau.
Er zwirbelte seinen Schnurrbart.
Würdigen Schrittes kam er herüber und räusperte sich. «Gendarm Alfons Gerngruber, habe die Ehre. Was haben Sie denn gesehen?»
Clara war entschlossen, niemanden zu verraten. Sie zuckte die Achseln. «Nicht viel, ehrlich gesagt. Es ging alles viel zu schnell, und die Leute liefen alle durcheinander. Ich kenne hier auch niemanden.»
«Also, ich könnte Ihnen vielleicht ein paar Sachen sagen», gurrte Marei. Sie wackelte mit dem Hinterteil auf eine Art, die ihrem Alter in den Augen der meisten nicht angemessen war. «Aber vielleicht nicht hier auf der Straße.»
Der Gendarm rückte seine Uniform zurecht. «Und wenn Sie aufs Revier mitkommen?»
«Hm.» Marei spielte mit einer losen Strähne ihrer bereits grau melierten Zopffrisur und schenkte ihm einen Augenaufschlag. «Das lässt sich schon einrichten. Angelika kann ja die Einkäufe übernehmen.»
Die Kellnerin schnaufte entsetzt, und Clara schüttelte halb amüsiert, halb verzweifelt den Kopf. Die alte Schachtel hatte es faustdick hinter den Ohren. Das Einkaufen hatte sie flugs an Angelika delegiert, und Clara musste selbst sehen, wo sie nun einen anderen Obstbauern auftrieb. Vielleicht war sie wirklich nicht die Richtige für die Brauerei. So viel Aufwand, nur um ihrem Vater zu beweisen, dass er sich irrte. Und womöglich umsonst.