Als es Abend wurde, überlegte Clara noch immer, ob sie Schwabingers Einladung annehmen sollte oder nicht. Er war ebenso glamourös wie dubios, und ihr Vater hatte recht: So ein Mann hatte ihren Brauknecht sicher nicht umsonst vor dem sicheren Tod bewahrt. Melchior wollte sich in nichts hineinziehen lassen, wenn, musste sie allein fahren.

Sie entschied sich zu gehen, einfach deshalb, weil die letzte Abendgesellschaft viel zu lange her war. Sie konnte nicht immer nur arbeiten. Obwohl ihre Mutter ihr zu einem Abendkleid geraten hatte, hatte sich Clara für ein champagnerfarbenes Teekleid entschieden, das oberhalb der Knöchel endete und den Blick auf ihre Schuhe freigab. Die Haare hatte sie zu einem locker gewundenen neugriechischen Knoten hochgesteckt. Zwar hatte sie sich mit Hilfe von Papilotten Locken gedreht, aber auf Haarteile oder einen Friseurbesuch verzichtet. Darüber kam ein mit Seidenbändern verzierter Hut, den sie im Haus abnehmen konnte, und um die Schultern ein Cape, falls es abends kalt wurde. Die Amethystohrringe und die passende Kette, die sie zur Firmung bekommen hatte, mussten reichen. Ihre Mutter neigte aufgrund ihrer einfachen Herkunft dazu, sich zu sehr aufzuputzen. Doch jetzt nach dem Krieg war Schlichtheit in Mode.

«Willst du wirklich nicht mitkommen?», fragte Clara, als sie durch das schwere Eisentor das Anwesen verließen und ihre Mutter den großen Horch auf die Straße nach Bogenhausen steuerte. Sobald es irgend ging, hatte sie ihre Fahrerlaubnis

«Ich bin bei Pringsheims zum Diner», erwiderte Antonia. Sie warf ihrer Tochter einen Blick zu. «Es hat vermutlich keinen Zweck, dir zu sagen, dass alle anderen Damen funkeln werden wie die Weihnachtsbäume. Schwabingers Gesellschaften sind berühmt.»

Sie fuhr deutlich schneller als die erlaubten fünfzehn Stundenkilometer. Doch keiner der Gendarmen merkte es – oder sie wollten es nicht merken. Wenn sie ihnen nachsahen, dann nur, um die elegante dunkelhaarige Dame in dem chromblitzenden schwarzen Wagen zu bewundern. Antonia trug ein kariertes Kostüm mit Taillengürtel und langem, schmalem Rock, dazu ein passendes Barett mit Federn und einem dicken Samtband. Wie so oft hatte Clara das Gefühl, neben ihrer bildschönen Mutter zu verblassen.

«Ich möchte, dass du die Gesellschaft spätestens um zwölf verlässt», sagte Antonia, als sie in der Prinzregentenstraße vor einem eleganten Anwesen mit Säulen und einer Freitreppe hielten. «Nimm dir nicht allein eine Mietkraftdroschke, sondern suche dir einen Kavalier, der dich begleitet. Und sag dem Fahrer, er möchte die Karbidlampen anmachen, wenn es dunkel ist.»

Clara atmete tief durch, als das Automobil anfuhr. Das war ihr erster gesellschaftlicher Termin allein.

 

Schwabingers Anwesen war eine der neueren Art-déco-Villen in Bogenhausen. Das vor wenigen Jahrzehnten eingemeindete Dorf bot Platz für großzügige Häuser und elegante Gärten. Clara wusste, dass nicht weit von hier auch der Malerfürst Franz von Stuck seine Villa hatte. Man sah den oberen Teil des nahen Friedensdenkmals an der Isar: eine Säule, gekrönt von einem

Sie stieg die hell erleuchtete Freitreppe empor. Seitlich brannten Feuerschalen bis unter den Säulengang, wo sich das Tor befand. Sie reichte einem der beiden livrierten Diener ihre Karte, und die schwere, kunstvoll beschlagene Haupttür öffnete sich.

Im selben Moment, als sie eintrat, dachte Clara, dass sie besser auf ihre Mutter gehört hätte.

Sie befand sich in einer Halle aus weißem Marmor. Schwere blaue Samtvorhänge rahmten die Fenster. Rechts und links führten weiße Marmortreppen nach oben. Geradeaus durch eine mit Gold verzierte Flügeltür öffnete sich ein langgestreckter Ballsaal, der von einem riesigen Kristallkronleuchter dominiert wurde. Am hinteren Ende spielte ein Salonorchester. Die Decken waren bemalt mit Motiven aus der Geschichte Münchens: Clara fiel auf, dass Ludwig II. oft zu sehen war, und stets im Königsornat mit dem blauen Mantel mit weißem Hermelinbesatz. Ludwig vor Neuschwanstein. Ludwig vor Herrenchiemsee. Ludwig zu Pferde auf der Jagd in den Bergen. Und am Ende der Würmsee mit dem Kreuz, das die Stelle markierte, wo man seine Leiche gefunden hatte; im Hintergrund die untergehende Sonne. Halleluja!, dachte sie und lachte verstohlen.

Clara wollte die tanzenden und parlierenden Gäste betrachten, und ihr wurde schwindlig. Sämtlich trug man Abendgarderobe. Blitzend weiße Seidenschärpen, filigrane Spitze an Flügelärmeln und langen Säumen, die mehr offenbarte als verbarg, Federn und Schmuck in voluminös aufgesteckten Frisuren, schimmernde lange Ketten. Blau, Rot, Grün – Seide in allen Farben, Säume, achtlos über den Parkettboden schleifend. Handschuhe bis zu den Oberarmen, schlanke und dicke, feste und schlaffe. Glitzernde Ringe an aufgequollenen, mit Seide

«Er gibt den Demokraten, aber insgeheim will er den König zurück. Es heißt, er sei in den Mord an Eisner verstrickt!», zischelte jemand in ihrem Rücken. Aber als Clara sich umdrehte, war der Sprecher schon verschwunden, und sie sah nur noch die Rückseite eines Anzugs.

«Ist das nicht die Gräfin Arco auf Valley?», tuschelte eine junge Frau. «Als wäre ihr Sohn kein Attentäter. Und da, der Prinz!»

Die Wortfetzen flogen mit den Rocksäumen durch den Saal, verwirrend, nicht fassbar, so schnell wie die Lichtblitze, die von dem Kristallleuchter reflektiert wurden. Kaskaden von geschliffenem Glas fingen jeden Funken ein und warfen ihn durch den Raum. Es war betäubend und erregend zugleich.

«Fräulein Bruckner! Charmant.»

Schwabinger. Clara atmete auf. Er begrüßte sie mit Handkuss. Sein Blick blieb an ihrer einfachen Kleidung hängen, aber er sagte nichts. «Wie schön, dass Sie es einrichten konnten. Ich bin entzückt.»

Er war wirklich ein gutaussehender Mann, dachte Clara unwillkürlich. Das blonde Haar elegant zur Seite gescheitelt, und im Abendanzug machte er eine besonders gute Figur. Die Brauen, etwas dunkler als das Haar, betonten seine strahlend blauen Augen und die weißen Zähne.

Vergoldete Säulen trugen ein Gewölbe von unendlicher Leichtigkeit, und durch große Glasfenster öffnete sich der Blick in einen verschwiegeneren Teil des Gartens. Hier brannten nur einzelne bunte Lampions entlang der Wege, die überall hinter Bäumen und Hecken verschwanden. Der Erker hatte etwas von einer Orangerie, er war mit Blumen vollgestellt und duftete betörend.

«Lilien», meinte Schwabinger. «Ich lasse sie von der Riviera bringen. Das dort sind Englische Rosen. Lange gezüchtete Schönheiten, die sich dezent geben und doch einmalig sind. Oh, und hier: meine Radiumuhr. Wir sprachen davon.»

Sie stand in einer Nische auf einem Sims. Zeiger und Ziffern waren mit Radiumfarbe bemalt und leuchteten aus dem Halbdunkel. Es war wirklich faszinierend.

«Wenn Sie möchten, lasse ich Ihnen eine schicken.»

«Das ist sehr freundlich, aber …» Clara war so viel Freundlichkeit ein wenig unangenehm. «… solange man noch nicht weiß, welche Wirkung Radium sonst noch hat, warte ich lieber damit.»

Die Antwort schien ihn zu amüsieren. «Sie machen gar keinen furchtsamen Eindruck.»

Er führt etwas im Schilde, dachte Clara. Laut sagte sie: «Ich bin vorsichtig. Bevor man sich ein Element ins Haus holt, muss man ausschließen, dass es gefährlich ist.» Das konnte er ruhig auf sich beziehen. Sie lächelte harmlos und wechselte das Thema, ehe er nachfragen konnte, wie die Bemerkung gemeint war. «Sie haben wirklich ein Faible für Ludwig II

«Oh ja. Ich besitze sogar ein Bootshaus ganz in der Nähe des Ortes, wo er ermordet wurde. Manchmal fahre ich nachts von dort hinüber zur Roseninsel. Bisweilen nehme ich ein Medium

«Entweder Sie sind ein hoffnungsloser Romantiker oder ein noch größerer Sonderling als Ludwig selbst», lachte Clara.

Er nahm ihre Hände und führte sie an die Lippen. «Eines Tages müssen Sie mir das Vergnügen gewähren, Sie in die Oper ausführen zu dürfen, oder ins Ballett, zur ‹Giselle›. Es sind nicht nur fabelhafte Geschichten von mysteriösen Frauen, sondern es ist auch der einzige Ort außer diesem hier, wo das schöne Geschlecht noch Prinzessin sein darf.»

«Hm», rettete sich Clara in ein Räuspern. Sie war alles andere als eine Prinzessin. Prinzessinnen waren Frauen wie Antonia Bruckner, denen sich die Köpfe auf der Straße hinterherdrehten. «Herr Schwabinger …»

«Ferdinand, bitte.»

«Ferdinand, ich muss gestehen, Sie verwirren mich. Sie sind zu charmant, mich einzuladen, aber ehrlich gesagt, weiß ich gar nicht, warum Sie sich diese Mühe machen. Ich bin eigentlich gekommen, um mich bei Ihnen zu bedanken. Sie haben unsere Brauknechte gerettet.»

«Eine Nichtigkeit.» Ferdinand winkte einen Diener mit Champagner herbei, doch Clara lehnte den Kristallkelch ab und bat stattdessen um ein Glas Wasser.

«Sagen Sie mir, was Sie von mir wollen?»

«Nun, ich wollte Ihnen sagen, dass immerhin ein kleines Herbstfest stattfinden wird. Ich werde eine nicht unbeträchtliche Summe beisteuern. Morgen werde ich die Neuigkeit dem Verein mitteilen und dann auch veröffentlichen.»

Clara starrte ihn an. Das Oktoberfest würde stattfinden, und

Warum war sie so misstrauisch? Womöglich interessierte er sich einfach für sie. Ein reicher Ehemann, der sie auf Händen trug, war das, wovon jedes Mädchen träumte. Warum in aller Welt stellte sie sich so dumm an? «Und was erwarten Sie dafür? Sie werden das wohl kaum umsonst machen.»

«Ich erwarte gar nichts.» Ferdinand setzte sich auf das weiße Kanapee und zog sie an seine Seite. Er rückte etwas näher, legte die Stirn in unwiderstehliche Falten und lächelte charmant. «Aber wenn Sie so direkt fragen, vielleicht können Sie ja doch etwas für mich tun. Ich bin ein Philanthrop, müssen Sie wissen, und widme mich auch der Wohltätigkeit. Hin und wieder lasse ich Gefangene besuchen. Keine Schwerverbrecher, versteht sich. Ich frage mich, ob Sie vielleicht einem Gefangenen in Stadelheim etwas übergeben könnten.»

«In Stadelheim?» Dem berüchtigten Gefängnis vor den Toren der Stadt, wo viele politische Gefangene einsaßen? Jetzt war es an Clara, die Stirn in Falten zu legen. «Wem?»

«Unbedeutend», winkte er ab.

«Wem?», wiederholte Clara scharf.

Ferdinand seufzte. «Einem Mann wie mir sitzt der Klatsch natürlich jederzeit im Nacken, wenn Sie verstehen … Sie würden mir eine große Last von der Seele nehmen, Liebes.»

Clara stand auf. «Tut mir leid. Wenn ich nicht weiß, um wen oder was es sich handelt, kann ich das nicht übernehmen.»

Schwabinger erhob sich geschmeidig, nahm ihren Arm und sah ihr in die Augen. «Eine harmlose Kleinigkeit, Sie haben mein

«Das wird nicht genügen.» Sie wollte gehen, doch er hielt sie zurück.

«Nun bleiben Sie doch. Also gut. Es handelt sich um den Grafen Arco.»

Clara starrte ihn an. «Den Mörder von Präsident Eisner?»

«Attentäter», korrigierte Schwabinger. «Was wäre Wohltätigkeit, wenn sie Grenzen setzte?»

Clara befreite sich. «Auf gar keinen Fall. Heutzutage kann man schneller in irgendwelche politischen Intrigen hineingezogen werden, als man bis drei zählt. Und jemandem, der einen anderen wegen seiner Überzeugungen erschießt, möchte ich nicht helfen, und dabei ist mir völlig egal, was für Überzeugungen das sind.»

«Wollen Sie so grausam sein? Der Graf ist ein halbes Kind, getrieben von Überschwang und der Überzeugung, das Richtige zu tun, und er büßt doch bereits seine Tat.» Er legte die Stirn wieder in die charmanten Falten und sagte: «Sie gehören doch nicht etwa zu den Kommunisten, wie die Soldaten es zuletzt von Ihrem Knecht dachten?»

Clara presste die Lippen zusammen. Allein dieser Verdacht war zurzeit ein fast sicheres Todesurteil. Schwabingers Worte konnte man als klare Drohung verstehen.

Leise, aber bestimmt sagte sie: «Es gibt nicht nur Kommunisten und Völkische. Ich bin noch lange keine Kommunistin, nur weil ich diese Gefälligkeit nicht übernehmen will.»

Er lächelte. «Überlegen Sie es sich in Ruhe.»

Clara raffte ihr Cape und legte es sich um die Schultern. «Ich möchte nach Hause. Kann ich meinen Vater anrufen?»

Er rief einen Diener, der sich die Nummer auf ein Kärtchen schreiben ließ, und überließ sie ihren Gedanken. Clara atmete

Deprimiert beobachtete sie die Tanzenden. Unter all den eleganten Schwänen war sie ein einsamer aufgewühlter Spatz. War es doch falsch gewesen herzukommen?

«Fräulein Bruckner? Sie sehen aus, als bräuchten Sie dringend etwas Hochprozentiges.»

Dieser unmögliche Satz konnte nur von einem stammen. Clara drehte sich um. «Herr Kurowsky!» Endlich ein bekanntes Gesicht zu sehen, tat so gut, dass sie ihr schlechtes Gewissen vergaß, weil sie auf sein Telegramm nicht reagiert hatte. «Haben Sie sich hier eingeschlichen, um neuen Klatsch unter die Leute …?» Überrascht unterbrach sie sich. René trug ebenfalls Abendgarderobe und hatte das leicht lockige dunkle Haar gebändigt. In dem eng anliegenden schwarzen Anzug, der seine sportliche Figur betonte, sah er umwerfend aus.

«Ich habe die Einladung meines Professors, Max Weber, weitergereicht bekommen. Ein Soziologe, der eine Gesellschaft meidet. Ist irgendwie widersprüchlich», meinte er stirnrunzelnd. «Aber Sie – haben Sie sich ein paar illegale Waffen oder eine Flasche Gin ins Strumpfband gezurrt? Oder warum sonst mischen Sie sich hier unter all diese dunklen Gestalten?»

Er schaffte es tatsächlich, dass sie sich etwas leichter fühlte. «Ich muss Sie enttäuschen. Keine Waffen, kein Schnaps.»

Jemand kam hinter ihnen durch eine Seitentür und wäre um ein Haar in sie hineingelaufen. René verscheuchte den Diener, der Clara zum dritten Mal Champagner anbieten wollte, und reichte ihr den Arm. «Das hätte immerhin erklärt, warum Sie für die Prohibition sind. Wenn Sie Ihr eigenes Bier zu Wucherpreisen schmuggeln könnten, brächte Ihnen das natürlich viel mehr ein. Raffiniert.»

Er stellte sein leeres Glas einfach neben die nächste Blumenvase, obwohl ein Diener mit Tablett in Reichweite war. «Seien Sie nicht kleinlich. Das ist heutzutage ein Kavaliersdelikt.»

«Für die Sorte Kavalier, zu der Sie gehören.»

«Genau die scheint Ihnen zu gefallen, sonst wären Sie schon weg.»

«Ich bin nur höflich. Warten Sie lieber nicht, bis ich unhöflich werde.»

René lachte. «Sie wissen, dass ich so etwas als Herausforderung betrachte. Und da Sie das wissen, scheint es Ihnen zu gefallen. Darf ich Sie also um den nächsten Tanz bitten?»

Ehe Clara eine Antwort geben konnte, streifte René ihr das Cape von den Schultern und warf es einem Diener zu. Dann nahm er ihre Hand und zog sie auf die Tanzfläche.

Die Kapelle spielte einen Tango. Die ersten Schritte kämpfte Clara noch mit ihrer Überraschung und versuchte, sich nicht zu eng an ihn zu schmiegen. Aber René führte sie mit einer Selbstverständlichkeit, dass ihre Bedenken verflogen. Das Gefühl in seinen Armen war schön, viel schöner, als sie erwartet hatte. Ganz anders als zuletzt beim Tee. Der Tango war erst vor wenigen Jahren in München in Mode gekommen, so hatten sie das Parkett fast für sich. Schwungvoll ließ sie sich von ihm in die Wendungen drehen, neigte den Oberkörper zurück und lachte sogar, als er sich über sie beugte.

«Nicht jede Frau kann Tango tanzen», bemerkte René über ihr. «Wo haben Sie ihn gelernt?»

«In der Tanzschule von Emil und Wilhelm Richter.»

«Eine gute Adresse.» Er richtete sie auf und zog sie an sich.

«Warum nur überrascht mich das nicht?»

Er führte sie einige raumgreifende, schnelle Schritte und drehte sie wieder zu sich herum, sodass sein Gesicht dicht vor ihrem war. «Sie kennen mich vielleicht schon besser, als mir lieb ist.»

Sie erwiderte den Blick. «Und? Macht Ihnen das Angst?»

«Das will ich doch hoffen. Es gibt nur wenig, was so lustvoll ist wie das leichte Gefühl von Angst.» Seine Hand rutschte ein kaum spürbares Stück ihren Rücken hinab. Clara überlief ein Schauer.

«Wenn das so ist, sind Angsthasen die glücklichsten Menschen.»

Er beugte sich noch ein wenig näher zu ihr. «Das sind sie. Ein Jammer, dass sie es nie merken.»

Er machte sich über sie lustig. Wir werden sehen, dachte Clara, ob Sie noch so ein flottes Mundwerk haben, wenn man es Ihnen mit gleicher Münze heimzahlt. Sie drehte sich mit ein paar schnellen Schritten aus der Tanzhaltung und wieder in seine Arme, sodass sie sich rücklings an ihn lehnte. René fing sie auf, doch jetzt schien er derjenige zu sein, der überrascht war. Seine Hände fühlten sich angenehm an, sie spürte das leichte Heben und Senken seiner Brust in ihrem Rücken, seinen Atem an ihrem Ohr. Er hielt sie einen Moment länger als nötig, unsicher. Verwundbar. Na, sieh mal einer an, dachte Clara. René Kurowsky hat Gefühle! Sie blickte über die Schulter. «Erschreckt es Sie, wenn man Ihnen zu nahekommt?», zog sie ihn auf.

Er räusperte sich. «Finden wir es heraus!»

Mit einer eleganten Drehung lenkte er sie in eine Position, in der sie ihm gegenüberstand. Und auf einmal zog er sie dicht an sich, so dicht, dass Clara der Atem stockte.

«So tanzt man Tango in Südamerika. Lassen Sie den Oberkörper aufrecht und sehen Sie mich an. Alles andere mache ich.» Renés Gesicht war dicht vor ihrem, und er flüsterte: «Vertrauen Sie mir.»

Vertrauen ist das Letzte, was mir zu Ihnen einfällt, dachte Clara. Aber sie verließ die Tanzfläche auch nicht. Vielleicht aus Neugierde.

Er machte ein paar Schritte, und sie ließ sich rückwärts drängen. Clara kannte die Schritte nicht, doch er leitete sie mit seinem Körper, mit fast unsichtbaren Bewegungen. Sie konnte förmlich spüren, was er als Nächstes tun würde, und er schien zu ahnen, was sie brauchte, um die richtigen Schritte zu machen. Ein ungewohntes Selbstvertrauen durchlief sie, verlieh ihren Bewegungen eine Geschmeidigkeit, die sie so noch nie erlebt hatte. Clara vergaß, dass sie viel zu bescheiden gekleidet war. Sie glitten über die Tanzfläche, Renés Gesicht dicht vor ihrem, als wollte er sie jeden Moment küssen und nur den Augenblick direkt davor ins Unendliche ausdehnen. Ein Spiel von Leidenschaft und Zurückweisung bis ins Unerträgliche. Ich lebe wieder!, dachte Clara. Aus irgendeinem Grund war sie sich sicher, dass derselbe Gedanke in diesem Augenblick auch ihm durch den Kopf ging. Sie legte ihren Arm noch etwas fester um seinen Nacken, und er lächelte kaum sichtbar.

Die anderen Tänzer hatten aufgehört und standen am Rand, um sie zu beobachten. Ihre Körper bewegten sich, als gehörten sie ein- und demselben Wesen. Wenn sie jetzt die Augen schließen würde, könnte sie den nächsten Schritt blind spüren. Sie drehte sich hinaus und wieder heran, und ihre Hand landete auf seiner Brust.

René zuckte zusammen. «Ausgezeichnet», bemerkte er dann

«Fangen Sie schon wieder damit an?» Sie versuchte, kühl zu klingen. «Ich bin keine von den Frauen, für die Männer Dummheiten machen.»

Er ließ nicht erkennen, ob er ihr die unbeteiligte Haltung abnahm oder nicht. Die Musik steigerte sich zum zweiten Mal in die sehnsüchtige, leidenschaftliche Melodie des Refrains und verlangsamte sich. Mit dem letzten Akkord zog René sie so dicht zu sich, dass sie das Gleichgewicht verlor. Unwillkürlich lehnte sie sich an ihn und klammerte sich mit einem Bein fest. Er hielt sie um die Taille und beugte sich leicht zu ihr. «Immerhin habe ich meinen Kopf riskiert, um Sie zu sehen, oder nicht?»

Die Musik endete.

Clara starrte ihn an, und vermutlich war es das, was alle andern im Saal ebenfalls taten. Das ist kompromittierend!, dachte sie. René stand reglos über sie gebeugt da. Seine Lippen waren so dicht bei ihren, dass sie seinen Atem spürte, dass er sie hätte küssen können. Und vielleicht war es genau das, woran er dachte. Zögernd öffnete er die Lippen.

Clara richtete sich auf und ließ ihre Hand durch sein Haar gleiten. «Nein», sagte sie scherzhaft. Ihr Herz schlug wie wild, aber sie wäre lieber auf der Stelle tot umgefallen, als ihm das zu zeigen. «Nicht um mich zu sehen. Sie haben Ihren Kopf riskiert, weil Ihnen das Spaß macht.»

Damit zwinkerte sie ihm zu und ließ ihn auf der Tanzfläche stehen.